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Islamische Impressionen

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Der Großteil unserer Vorstellungen von der Türkei wurde durch Karl May und ,.Die Entführung aus dem Serail” geprägt, um nur zwei der repräsentativsten Vertreter jenes Genres zu nennen, welche das damalige Reich des Großherrn dem mitteleuropäischen Publikum in irgendeiner Form zu schildern wußten. Zugleich mit einem eindrucksvollen Bild übernahm man auch überaus farbenprächtige Impressionen der dort herrschenden Religion, die im allgemeinen mit einer seltsamen Mischung von interessierter Ehrfurcht und wohligem Gruseln betrachtet wird.

Daß die Realität weitaus nüchterner ist, bemerkt der Fremde zunächst mit ungläubigem Staunen, wenn er feststellt, daß Spirituosen aller Art Monopol des türkischen Staates sind und bei einer diesbezüglichen Frage auf absolutes Unverständnis stößt:

„Ja, wissen Sie denn nicht, daß der Koran alles verbietet, ,was trunken macht’?”

Man weiß es nicht und bekommt nach längerem Fragen die etwas verlegen klingende Antwort: „Ich kenne den Koran nicht.”

Ein Einzelfall. Ungezählte Bewohner dieses Landes, das in seiner Religionsstatistik kaum ein halbes Promille Glaubenslose kennt, hat der Verfasser hinsichtlich ihrer Korankenntnisse befragt. Einige wenige, denen eine türkisch kommentierte Ausgabe des Koran mit arabischem Kontext zugänglich war, hatten einzelne Teile gelesen. Von der breiten Masse des Volkes aber niemand. Ein einziger Forstbeamter aus Westanatolien hatte stolz erklärt, ihn gelesen zu haben. Befragt, ob er denn Arabisch verstehe, antwortete er etwas kleinlauter, daß er lesen gelernt habe und auch imstande sei, die — vom modernen Arabisch abweichende — Sprache des Koran zu lesen. Den Inhalt aber verstehe er nicht.

Keiner von den Tausenden, die an den großen Festen — dem Scheker bayram, der das Ende der mohammedanischen Fastenzeit bildet, und dem Kurban bayram, der nach dem Vorbild Abrahams alle Gläubigen verpflichtet, ein Schaf zu opfern — die Moscheen bevölkern, weiß den Inhalt der Gebete, die er beim Namaz (dem rituellen Gebet) rezitiert, wörtlich. Es trat sogar der groteske Fall ein, daß ein Muezzin (Gebetsrufer) an einer der großen Moscheen Istanbuls händeringend bat, man möge ihm doch eine deutsche Koranübersetzung besorgen, da er diese Sprache beherrsche und doch zu gern einmal wissen wolle, was der Koran alles beinhalte.

Weshalb aber gibt es keine Koranübersetzung, die in die breite Masse eingedrungen ist, weshalb werden alle religiösen Formeln noch immer arabisch rezitiert, obgleich die Reformbestrebungen seit Atatürk kaum aufgehört haben?

Der tiefere Grund liegt weit zurück. Als Mohammed seinen Landsleuten die einzelnen Suren „offenbarte”, hatte er von der Tragweite und dem künftigen Aktionsradius seiner Bewegung noch keinerlei Vorstellungen. Deshalb läßt er Gott zu wiederholten Malen im Koran den Satz sprechen: Diesen Koran haben wir dir in arabischer, in allgemeinverständlicher Sprache ge- offenbart. Und so blieb es hier auch. Während nun beispielsweise die Ahmadiyya-Bewegung (Pakistan) innerhalb des Islam diese Sprachgrenze soweit durchbrochen hat. daß sie 1954 sogar eine deutsche Uebersetzung des Koran herausgab. ist ein ähnliches Unterfangen innerhalb der türkischen Landesgrenzen auf kleinste akademische Kreise beschränkt. Dies besagt aber zu gleicher Zeit, daß sich gerade innerhalb dieser Schicht ein Vakuum gebildet hat, In welches allerlei strömt, nur um es zu erfüllen.

Der gebildete Türke weiß einfach mit vielen Dingen, von welchen der Koran spricht, nichts mehr anzufangen, wobei — und das ist das Entscheidende — die Schuld nicht bei ihm liegt.

Zwar wäre ihm das sinnenfrohe und sinnliche Paradies, wie es Mohammed wohl in Anlehnung an die ihm bekannten griechischen Kneipen seiner Zeit (vgl. Frants Buhl, Das Leben Muhammeds) seinen Gläubigen schildert, nicht gerade unangenehm; er verstünde auch die reichlich freizügigen Offenbarungen etwa der 66. Sure, wo sich der Erzengel Gabriel im Namen des Allmächtigen persönlich bemühen muß, um einen Streit zwischen den Frauen des Propheten zu schlichten, weil eine von ihnen in der ihr zustehenden Nacht nicht an die Reihe gekommen war — er verstünde auch das persönlich zu würdigen. Aber er ist gleichzeitig aufgeklärt genug, um darüber zu lächeln und den Glauben in gewisser Weise zu verlieren. In gewisser Weise allerdings nur, denn zwei entscheidende Faktoren halten ihn bei der überlieferten Religion: sein Vaterland, in dem die Begriffe „Türke” und „Mohammedaner” für so ident gelten, daß der Beamte bei der Volkszählung gar nicht mehr nach der Religion zu fragen braucht, wenn er aus dem Vornamen die türkische Abstammung erkannt hat. Ein Ahmet oder Orhan kann ebenso wie ein Yusuf (Josef), Eyüb (Hiob), Süleyman (Soliman, Salomon) oder Iliyas (Elias) nur Mohammedaner sein, sonst hieße er nicht sol

Anderseits hält ihn seinp Familie, die türkische Großfamilie, bei seinem alten Glauben. Schon an der Hausform ist diese Familienorganisation zu erkennen. Man unterscheidet das moderne „Apartiman” grundsätzlich vom „Ev”, einem schmalfrontigen Haus von mehreren Stockwerken, deren jedes von einer Generation oder von einem verheirateten Familienmitglied bewohnt wird. Man lebt gemeinsam und ohne Wohnungstüren, da ja kein Fremder im Haus lebt, vor dem man se’ne Wohnung versperren müßte.

Aus diesem Verband würde ieder unerbittlich ausgestoßen, der den Islam nicht gegebenenfalls bekennt. Er braucht nicht in die Moschee zu gehen und auch das rituelle Gebet nicht unbedingt zu halten, aber zur Fastenzeit gibt es einfach den ganzen Tag kein Essen, bis sich nach Sonnenuntergang alle Familienmitglieder beim gemeinsamen Mahl (iftar sofrasi) einfinden. Und dazu muß er sich einfinden. Solange der glühende Nationalismus der Türken mit dem religiösen Bekenntnis identisch ist, ein Nichtmohammedaner nicht als voller Staatsbürger gewertet wird und die alte Familienordnung weiterbesteht, wird der türkische Islam wohl seine Prägung beibehalten: den Charakter einer erblichen Religion, in die man hineingeboren wird, ohne ihren Inhalt jemals mehr als undeutlich zu erfassen, die man aber leidenschaftlich bekennt, weil man Gott und seine Heimat liebt.

So kommt es, daß jeder, wirklich jeder Türke gleichsam in potentia Mohammedaner ist’ und nun der „chronische” Islam wieder akute Formen anzunehmen beginnt.

Diese Entwicklung wird durch die Regierungspartei der Demokraten, die nach der Volkspartei Ismet Inönüs im Jahre 1950 an die Macht kamen, bewußt gefördert. War vor einigen Jahren der islamische Religionsunterricht nur an den Volksschulen wiedereingeführt worden, so folgten im heurigen Schuljahr die Untermittelschulen, und vorsichtige Ueberschriften in der türkischen Presse spielen mit dem Gedanken, ihn auch an der Oberstufe wiedereinzuführen.

Nach wie vor aber ist in diesem Lande, das theoretisch auf dem Standpunkt der Religionsfreiheit steht, jede christliche Mission strengstens untersagt. Und obgleich der Islam nicht mehr Staatsreligion ist, erklärte der türkische Ministerpräsident am 6. Dezember 19”52 in Adana die Türkei nach wie vor als mohammeda nisches Land. Noch am 11. November 1956 aber lud der ehemalige türkische Außenminister Fatin Rüschtü Zorlu alle mohammedanischen Staaten zur Teilnahme am Bagdad-Pakt ein.

Es kommt noch immer vor, daß Soldaten bei der Vereidigung auf den Koran schwören müssen, obgleich die Gesetze anders lauten und zudem ein Teil der Mannschaften aus Christen besteht. Weshalb dies? Es sind ja auch Türken…

So leben heute unter und an der Oberfläche die alten Strömungen weiter, ja sie treten täglich deutlicher zutage. Nicht nur an jenem 6. September 1955, wo sich der Haß und die Zerstörungswut des Volkes gegen alle Nichtmohammedaner richtete und Kirchen, Kreuze und Gräber schändete. Der Freispruch aller Angeklagten, die wegen Plünderung, Brandstiftung und Diebstahls vor Gericht standen wurJe am 25. Jänner 1957 veröffentlicht und verkündet über alle politischen Gründe hinaus deutlich, daß auch die Türkei 1957 noch erbarmungslos ihren alten Standpunkt beizubehalten gesinnt ist. Trotz aller Beteuerungen von religiöser Freiheit und Laizismus. Die Vergangenheit ist stärker, der Islam mehr denn je Staatsreligion.

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