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Ein neues Kalifat

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Der Islam ist heute politisch, finanziell und missionarisch nahezu wieder jene Großmacht, die er vor rund einem Jahrtausend gewesen ist. Spätestens mit dem Aufstieg der meisten Muslimländer von Algerien bis Malaysia zu führenden Erdölproduzenten und der Verwendung eines Großteils ihrer Einnahmen für die Glaubensverkündigung in Afrika und Südamerika, Europa und Australien kann niemand mehr um diese Tatsache herumkommen. Ob sich der Islam aber auch zu einer bestimmenden geistigen Größe der Welt von Morgen entwickeln kann, hängt weitgehend von der Auseinandersetzung zwischen puritanischen Traditionalisten und zeitoffenen Reformern ab. Diese immer heftigere Kontroverse findet außerhalb des islamischen Bereiches kaum Beachtung. Dennoch ist sie auch politisch hochbrisant geworden, seit die wichtigsten ölstaaten mit Saudiarabien an der Spitze auf den Konservatismus festgelegt sind, während Ägypten, Iran oder Pakistan den Kurs von Reformen und Neuentwicklungen verfechten. Einen dritten und nach seiner Ansicht einzig richtigen Weg versucht Libyen mit Herauskehrung der sozialen Werte des Islam und der seltsamen Synthese von Linksdrall und strengster Gesetzesfrömmigkeit zu beschreiten und seinen ägyptischen und tunesischen Nachbarn aufzuzwingen.

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Der Islam ist heute politisch, finanziell und missionarisch nahezu wieder jene Großmacht, die er vor rund einem Jahrtausend gewesen ist. Spätestens mit dem Aufstieg der meisten Muslimländer von Algerien bis Malaysia zu führenden Erdölproduzenten und der Verwendung eines Großteils ihrer Einnahmen für die Glaubensverkündigung in Afrika und Südamerika, Europa und Australien kann niemand mehr um diese Tatsache herumkommen. Ob sich der Islam aber auch zu einer bestimmenden geistigen Größe der Welt von Morgen entwickeln kann, hängt weitgehend von der Auseinandersetzung zwischen puritanischen Traditionalisten und zeitoffenen Reformern ab. Diese immer heftigere Kontroverse findet außerhalb des islamischen Bereiches kaum Beachtung. Dennoch ist sie auch politisch hochbrisant geworden, seit die wichtigsten ölstaaten mit Saudiarabien an der Spitze auf den Konservatismus festgelegt sind, während Ägypten, Iran oder Pakistan den Kurs von Reformen und Neuentwicklungen verfechten. Einen dritten und nach seiner Ansicht einzig richtigen Weg versucht Libyen mit Herauskehrung der sozialen Werte des Islam und der seltsamen Synthese von Linksdrall und strengster Gesetzesfrömmigkeit zu beschreiten und seinen ägyptischen und tunesischen Nachbarn aufzuzwingen.

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Das Problem lebendiger Erneuerung, dem sich die christlichen Kirchen von der Cluniacensischen Reformbewegung über die Reformation bis zum „Aggiornamento“ des II. Vaticanums immer wieder gegenübersahen, hat auch die islamische Ökumene seit ihren Anfängen viel und lebhaft beschäftigt. Dabei stehen einander Sünna, das heißt Uberlieferung, und Bid'a, das heißt Neuerung, gegenüber. Im frühen Islam wurde von der hanbalitischen Inter-pretiationsschule die Tradition prinzipiell über alles gestellt, was sich in der Praxis so wenig bewährte, daß diese Anhänger Ibn Hanbals zum Ende des ersten islamischen Jahrtausends in unserem 17. Jahrhundert so gut wie ausgestorben waren. Bald darauf erlebten sie jedoch im wüsten Herzen der Arabischen Halbinsel eine Neuerweckung durch die puritanischen Wahhabiten, die keine größere als lokale Bedeutung erlangen konnten. Erst unter ihrem hochbegabten Führer Abdel Asis Ibn Saud brachten sie mit den heiligen Städten Mekka und Medina eine gesamtislamische Spitzenposition an sich, die in den letzten Jahrzehnten durch den sich einstellenden Erdölsegen weiter untermauert wurde. Heute sind die Wahabiten zur mächtigsten islamischen Konfession angewachsen, ihr rigoristisches Gedankengut wird durch Islam-Attaches an allen saudi-arabischen Botschaften und die zentrale Institution der Missionshochschule von Medina in alle Welt verbreitet. „Laxere“ islamische Länder, die in den Genuß saudischer Finanzhilfe kommen, müssen sich zu einem schrittweisen Alkoholverbot und zur Wiedereinführung des strengen konanischen Strafrechts mit Verstümmelungen, Steinigungen und so gut wie fehlenden Gefängnissen verpflichten. Heute sieht sich selbst Ägypten, aus dem die genau entgegengesetzte Theologenschule hervorgegangen ist, zur Annahme dieser strengen Praktiken gezwungen. Hingegen hatte hier schon in unserem 8. und 9. Jahrhundert der große Imam Schafei, dessen Grabmoschee noch heute zu Füßen des Kairoer Hausberges Mukkatam neben den Schwefelbädern von Ain Sira steht, den ständigen Wechsel der Umwelt, von Lebensbedingungen und Anschauungen erkannt, und daher gute wie vor allem notwendige Neuerungen gerechtfertigt.

Entspricht diese Ansicht ziemlich dem auch innerhalb der katholischen Kirche heute vertretenen Mittelweg, so ist in der schiitischen Konfession des Islam eine viel radikalere Reformtheologie entwickelt worden. Obwohl es sich bei der Schia ursprünglich nur um ein Schisma in der geistlich-weltlichen Führerschaft des Kalifates gehandelt hat, haben sich die Schiiten später sehr weit von den „orthodoxen“ Sunniten fortentwickelt. Sie haben zwar ursprünglich an der islamischen Wiedergeburt der letzten Jahrzehnte kaum einen Anteil genomen, sind aber jetzt — ebenfalls dank dem Erdöl in ihrem Hauptland Iran — zu zweitgrößter Bedeutung nach den Wahhabiten gelangt.

Die schiitische Bada'-Theologie geht sogar soweit, die Notwendigkeit religiöser Neuerungen im praktischen wie dogmatischen Bereich durch einen innergöttlichen Entwicklungsprozeß vom Nichtwissen zum Wissen zu untermauern. In der modernen Religionsphilosophie der Schii-Scheichi-Gruppe ist sogar von den Erfahrungen Gottes und seiner Abänderung von Glaubenssätzen und moralischen Normen die Rede. Die heutige Soziallehre in Iran, auf der die meisten Reformen des Schah-in-schah Muhammad Reza Pahlewi mit seiner „Weißen Revolution“ beruhen, ist eine direkte Tochter der Bada'-Theologie.

Vor dem Hintergrund dieser Bada'-Theologie ist es kein Wunder, daß der größte moderne Reformtheologe des Islam aus dem weiteren Bereich der Schia, und zwar aus Afghanistan, hervorgegangen ist. Waren die Erneuerungsdiskussionen der Gottesgelehrten durch Jahrhunderte ohne größere Auswirkungen auf den religiösen-Alltag der gläubigen Massen geblieben, so ist es das Verdienst von Dschemal al-Din al-Afghani, aus den allgemeinen Reformprinzipien die praktischen Konsequenzen für Frauenbefreiung und die Bejahung der parlamentarischen Demokratie, für Sparkassenwesen und Streikrecht gezogen zu haben. Die islamische Welt gedenkt in ihrer Gesamtheit in diesem Jahr 1976 des achtzigsten Todestages des großen Denkers, Dichters, Theologen und Publizisten.

Die modernen islamischen Staatenbildungen im Nahen und Mittleren Osten, in Nordafrika und Hinterindien sind aber überhaupt erst auf der Grundlage von Afghanis „Aufklärung“ denkbar geworden. Das betrifft vor allem die weitgehende Ersetzung des islamischen Schariats-rechtes durch moderne europäische Praktiken, besonders was das Zivil-und Strafrecht betrifft.

Das Verhältnis von zivilem und sakralem Recht, und die neuerliche Zurückdirängunig des ersteren durch die religiösen Satzungen stand im Mittelpunkt des im Mai 1976 in Tunis versammelten islamischen Juristenkongresses, bei dem überwiegend die Ansicht vertreten wurde, daß die islamische Jurisprudenz (arabisch: Fiqh) seit ihren früh anzusetzenden Anfängen sehr akademische Rechtsbücher mit nur ideeller Gültigkeit verfaßt habe und daß dieses als „Scharia“ bekannte kanonische Recht zwar von der islamischen Geistlichkeit immer hochgelobt, in der Praxis jedoch nie streng angewandt wurde. Lange vor Einführung des westlichen Zivilrechts in den meisten islamischen Ländern sei das Schariatsrecht durch Jahrhunderte in der tagtäglichen Rechtsprechung bewußt vernachlässigt worden. Für das Leben der islamischen Völker habe das Gewohnheits- oder sogenannte Adat-Recht schon immer eine viel größere Bedeutung gehabt.

Hinter allen dogmatisch-moralischen Postulaten der Wahhabiten-Bewegung verbirgt sich jedoch hintergründig, aber ganz zentral das Bestreben nach Wiederaufrichtung der panislamischen Theokratie mit einem saudi-arabischen Kalifen als oberstem weltlichen und geistlichen Gebieter. In diesem Punkt sind die Reformer nun erst recht zu keinen Zugeständnissen bereit. Selbst das sonst recht willfährig gewordene Ägypten vertritt hier hart das Prinzip einer mehr kollegialen Führerschaft. Derselbe Präsident Anwar es Sadat, von dem das Schariatsrecht zur Grundlage der Verfassung erklärt, der Alkohol nur noch an ausländische Touristen ausgeschenkt und die Wiedereinführung des islamischen Strafrechts — mit unter anderem vierzig Peitschenhieben für Zigarettengenuß — befürwortet wird, hat seinen Stellvertreter Hussein al-Schafei über Nacht aus dem Amt gejagt, weil dieser öffentlich für die Verleihung des Kalifats an den damaligen Saudi-König Fei-sal eingetreten war.

Das arabische Wort „Chalifa“ hat einen Doppelsinn von Nachfolger wie Stellvertreter. Es wird in Muhammads Koran häufig verwendet, war unter den ersten Nachfolgern des Propheten eines der vielen schmük-kenden Beiworte ihrer Titulatur, bis es sich unter dem Kalifen Osman und vor allem in der Dynastie der Abbasiden zum eigentlichen Herrschertitel des arabisch-islamischen Reiches entwickelte. In seinem ursprünglichen Sinne wurde „Chalifa“ bis auf den heutigen Tag in den Derwischbruderschaften als Anrede für den Nachfolger des Ordensgründers, das heißt den jeweiligen Generaloberen, bewahrt. Wenn sich also in der sudanesischen Theokratie der Mahdisten vor der Jahrhundertwende der Nachfolger des Mahdi als „Chalifa“ titulieren ließ, so hatte das nur mit der Herkunft dieser politischen Weltverbesserungsbewegung aus einer Bruderschaft, und nichts mit dem universalen Anspruch des Kalifats zu tun.

Sehr wohl haben diesen jedoch die Saudi-Araber von heutzutage vor Augen, die nicht nur mit der Macht, sondern vor allem dem Reichtum der ersten islamischen Kalifen sehr wohl wetteifern können. Die nach den religiös eher gleichgültigen Omajaden-Kalifen von Damaskus im abba-sidischen Bagdad entwickelte Pro-tefetorrolle über die Muslime in aller Welt wird von Saudi-Arabien heute bereits faktisch ausgeübt. Die damalige Verschmelzung des frühislamischen Ideals von Gottesstaat mit altem persischen Hofzeremoniell scheint den Herrschern von Rijad besonders ins Auge gestochen zu haben, wenn ihnen darin Iran mit seinem Schah-in-schah vorläufig auch noch Konkurrenz macht.

Seit der Jahrtausendwende entglitt den Kalifen Stück um Stück alle weltliche Gewalt, worauf sie sich verstärkt dem religiösen Aspekt ihres Amtes als Primats-Imam aller Muslime zuwandten. Gegen die Erneuerung eines so religiös getönten Kalifats, dem auch die modernen islamischen Deomokratien ohne Selbstaufgabe b^fttetrterT kömeft, hätten -auch d*nft^ormeJ1nichts'“e+rrtuwlWf-den. Sein Name würde jeden Freitag in allen Moscheen der Welt komme-moriert werden wie der des Papstes in jeder katholischen Meßfeier.

Die saudiarabische Vorstellung von dem „neuen Kalifat“ will aber nichts mit diesen „dunklen Jahrhunderten islamischer Dekadenz“ zu tun haben und orientiert sich, wenn schon, denn schon, wieder an den türkischen Sultanen.

Die neueste Beanspruchung des Kalifenamtes durch die saudischen Monarchen gründet sich neben ihrer Macht- und Finanzfülle vor allem auf die weitgehende Erfüllung aller von der islamischen Uberlieferung, dem „Hadith“, geforderten Voraussetzungen für die Erlangung dieser Würde. Zwar geht die Dynastie von Rijad ursprünglich nicht auf den mekkanischen Stamm der Quraisch zurück, sondern kommt aus dem Nadschd im Inneren der arabischen Halbinsel, doch ist die in der sunnitischen Tradition als „conditio sine qua non“ geltend gemachte qurai-schiitische Abkunft jedes Kalifen inzwischen durch Ehen der Saudis mit Frauen aus Mekka sichergestellt. Zweite Bedingung ist allislamische Anerkennung seiner Führerrolle, wovon Saudi-Arabien ebenfalls gar nicht mehr weit entfernt ist. Weitere Bedingungen, wie die Herrschaft über die „heiligen Städte“ Mekka und Medina, sind überhaupt völlig auf die Saudiis zugeschnitten. Die meisten Anzeichen sprechen also dafür, daß sich innerhalb des wieder so mächtig gewordenen Islapi die strenge Richtung der Wahabiten, und nicht jene der Modernisten, durchsetzen und sogar mit dem Kalifat gekrönt werden wird.

Die Saudi-Araber nennen sich selbst nicht nach ihrem religiösen Systemgründer, dem von 1703 bis 1787 lebenden Muhammad Ben Abdel Wahhab, sondern bezeichnen sich als „Muwahhidun“, das heißt „Unitarier“. Ihre Ursprünge liegen in Abdel Wahhabs Kampf gegen heidnische Überreste in Innerarabien, wie die Verehrung von Bäumen und animi-stischer Totenkult, die über ein Jahrtausend aus vorislamischer Zeit lebendig geblieben waren. In einer weiteren Eritwicklungsphase begann der puritanische Rechtsgelehrte aus der strengen Schule Ibn Hanbals auch im Islam alles abzulehnen, was nicht im Koran, den vier Hauptkonfessionen und den sechs Überlieferungswerken der ersten drei islamischen Jahrhunderte enthalten war. Besonderen Eifer legte er für die monotheistische Reinheit der Gottesverehrung an den Tag. Seine Verbote des Besuchs von Heiligengräbern, der Erwähnung des Namens von' Propheten, Heiligen oder Engeln im Gebet oder der Anrufung himmlischer Fürsprecher führten dann zu der stolzen Selbstbezeichnung seiner Anhänger als „Unitarier“. Unter den verschiedenen Absurditäten der Wahhabiten ist noch erwähnenswert, daß sie die islamischen Rosenkränze als Teufelswerk verurteilen und deren Zahl an den Fingerknöcheln beim Gebet der 99 Namen Allahs abzählen müssen. Besten Geschäftssinn für das finanzielle Wohl seiner Moscheekasse bewies Abdel Wahab mit der Ausdehnung der islamischen Wohlfahrtsabgabe, des Zakat, auf alle Einkünfte und Handelserlose, während sie sonst immer nur von festem Vermögen an Land, Vieh oder Baulichkeiten entrichtet werden mußte.

Seine praktische Ader stellte der Sektengründer dann nach seiner Allianz mit dem saudischen Dynastiegründer Muhammad Ben Saud erneut unter Beweis, als er in dessen Zentrum Daria nicht nur den Wah-habismus, sondern auch die Feuerwaffen einführte. Seit damals hat dieses Bündnis von religiösem Rigorismus und praktisch-geschäftstüchtigem Sinn, wie er etwa auch die britischen Puritaner auszeichnete, die Bani Saud durch alle Schwierigkeiten und Rückschläge von einem kleinen Oasenstamm mit nur 70 Zelten zu einer der Großmächte unserer Zeit gemacht. Für den Islam wie für die mit diesem heute im Gespräch stehenden anderen Religionen bleibt nur zu hoffen, daß sich die Saudis in ihrer neuen Rolle doch früher oder später der aufgeschlosseneren Richtung eines Afghani öffnen werden, über die sie im Augenblick, rein religionspolitisch gesehen, einen Sieg nach dem anderen davontragen.

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