Leben im "islamfreundlichen Staat"

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Die Scharia, das islamische Rechtssystem, erweist sich als flexibler, als sich viele Muslime eingestehen wollen.

Wie auch in anderen Religionen wird der Mensch im Islam von einer geoffenbarten göttlichen Ordnung in allen Bereichen seines Lebens angesprochen. Sie legt einen entsprechenden Rahmen für den Einzelnen, die Familie und die Gesellschaft fest. Angesichts der Komplexität moderner Gesellschaft lassen sich aber viele Rechtsnormen nicht aus koranischen Bestimmungen ableiten, die aus einem ganz anderen gesellschaftlichen Umfeld stammen. Es bedarf daher der Anpassung. Dies geschah und geschieht immer wieder, wobei sich der Islam als flexibler erweist, als sich viele Muslime eingestehen wollen. Bedeutende islamische Denker der Gegenwart begründen dies damit, dass sie "ewige göttliche Gesetze" als Grundprinzipien der Ethik verstehen. Um ihnen gerecht zu werden, müssen sie im Kontext der jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen gesehen werden.

Das traditionelle islamische Recht kennt etwa keine Modelle für die Probleme der modernen Arbeitswelt. Es geht vom traditionellen paternalistischen Bild des Verhältnisses Arbeitgeber-Arbeitnehmer aus und enthält daher die für kleine Einheiten charakteristischen persönlichen Obsorgepflichten. Daraus wurde von islamischen Juristen eine staatliche Verantwortung für Vollbeschäftigung abgeleitet. Ähnliches gilt für das Sozialrecht, wo von der Versorgung durch die Familie ausgegangen wird und dem politischen Gemeinwesen traditionell höchstens eine subsidiäre Verpflichtung zukommt. Demgegenüber bauen islamische Staaten ihr Sozialsystem zunehmend nach den Notwendigkeiten der Industriegesellschaft aus. Auch das europäische System sozialer Sicherheit ist für die hier lebenden Muslime selbstverständlich geworden.

Das Vorhandensein dieser islamischen Minderheit zeigt im Übrigen eine beachtliche Anpassungsleistung. Denn es besteht grundsätzlich ein strenges Verbot für Muslime, sich freiwillig in nichtmuslimische Herrschaft zu begeben. Das Problem wurde durch die Schaffung der Kategorie des "islamfreundlichen Staates" gelöst, in dem zwar keine islamische Herrschaft besteht, die Muslime aber ihre Religion frei ausüben können.

Daraus ergibt sich jedoch eine paradoxe Situation, denn ein islamfreundlicher Staat setzt voraus, was dem Islam grundsätzlich fremd war: die institutionelle Trennung von Staat und Kirche, von Politik und Religion. Vielen Muslimen ist klar, dass ohne positive Bewertung dieser Errungenschaften der Weg ins 21. Jahrhundert versperrt bleibt, sie bemühen sich daher vor allem durch eine entsprechende Aufbereitung des Begriffs Schura (Beratung) eine eigenständige Legitimation für den Ausbau des demokratischen Rechts- und Sozialstaates zu gewinnen.

Mit der internationalen Wirtschaftsverflechtung und der Migration islamischer Gruppen werden auch wirtschaftsrechtliche Fragen wichtiger. Das islamische Recht kennt eine große Zahl von Verträgen, deren Inhalt gemäß den islamischen Prinzipien normiert ist. Daraus ergeben sich entsprechende Einschränkungen hinsichtlich der Freiheit in der Vertragsgestaltung. Formen von neuen Wertpapieren und Börsengeschäften werden unter dem Aspekt des Verbotes von Zinsen und Spekulationen geprüft. So wurde etwa die Benutzung von Kreditkarten trotz der implizierten Zinsen für erlaubt erklärt. Es kam auch zum weltweiten Aufbau eines spezifisch islamischen Bank- und Versicherungswesens, und westliche Banken bieten zunehmend die Beteiligungen an Fonds an, die keine unislamischen Aktivitäten finanzieren.

In der vielumstrittenen Frage des religiösen Schächtens erweisen sich viele Muslime ebenfalls als flexibel und akzeptieren inzwischen die Elektrokurzzeitbetäubung.

Die Probleme für den demokratischen konfessionell-neutralen Rechtsstaat im Umgang mit der Berufung auf zwingendes islamisches Recht liegen vor allem im Familien- und Erbrecht. Hier handelt es sich um stark religiös geprägte Rechtsbereiche, die besonders im Bewusstsein der Muslime verankert sind, wobei häufig nicht islamisch begründete kulturelle Traditionen als zwingende islamische Normen reklamiert werden. Dies gilt für das Eherecht, die Rechtswirkungen der Ehe für die Frau, vor allem aber für das Scheidungsrecht, das unterschiedliche Erbrecht der Frau, das Kindschaftsrecht. Hier sind durch das Gleichbehandlungsgebot und der Ausrichtung auf das Kindeswohl bei Obsorgefragen der Anerkennung des islamischen Rechts Grenzen gesetzt (siehe auch Kasten unten, Anm.).

Demokratischer Islam?

Strafrecht ist neben dem Familienrecht jene Materie, in der die Unterschiede zwischen dem klassischen islamischen Recht und dem gegenwärtigen "westlichen" Recht augenfällig sind. Für besonders schwere Delikte (Glaubensabfall, Mord, Ehebruch, Diebstahl) sieht der Koran ausdrücklich bestimmte Strafen (Tod, Verstümmelung) vor, die als menschenrechtswidrig anzusehen sind. In Europa hat dies im Regelfall keine praktische Bedeutung; allerdings berufen sich einige Staaten, die notorisch Menschenrechte verletzen, gern auf das islamische Recht.

Auch muslimische Kleidungsvorschriften schaffen manchmal rechtliche Schwierigkeiten. Im westlichen Recht haben derartige Normen ihre Bedeutung verloren. Im islamischen Bereich wird von der Mehrheit der Muslime das Kopftuchtragen noch immer als rechtliche Verpflichtung gesehen, obwohl auch hier die Meinungen weit auseinander gehen. In Europa wird das Kopftuch sowohl von manchen Befürwortern, vor allem aber von Gegnern, als politisches Symbol (miss)verstanden, was dazu führte, dass in Deutschland Lehrerinnen islamischen Bekenntnisses das Kopftuchtragen verboten wurde, womit plötzlich Kleidungsvorschriften wieder relevant werden. Hier wäre mehr Augenmaß vonnöten.

In Fällen, denen Nachbarschaftskonflikte zu Grunde liegen, wird man auch an den vermehrten Einsatz von Mediation zu denken haben. Deren Einsatz ist aus dem islamischen Recht gut begründbar. Mediation bei Konflikten mit interkulturellen Komponenten wird insgesamt zunehmende Bedeutung erlangen.

Auch der Bau einer Moschee ist kein Menetekel für den Untergang des Abendlandes, sondern ist, was es ist, sagen die Menschenrechte: eine Selbstverständlichkeit in einem Staat, in dem Religionsfreiheit einen konstitutionellen Grundstatus darstellt. Wenn wir das vergessen, dann wäre das Abendland wirklich in Gefahr.

Von den wenigen Problemen, wo die Grundwerte der europäischen Gesellschaft betroffen sind und klare Grenzen gesetzt werden müssen, abgesehen, besteht kein Zweifel, dass mit dem Instrumentarium der Scharia "Europakonformität" erreicht werden kann. Hier sei auf die Gesetzesmaterialien zum heute noch geltenden österreichischen Islamgesetz verwiesen, die bereits 1912 unter Hinweis auf die Situation in Bosnien-Herzegowina festhielten: Da sich "im Leben der Bekenner des Islams ein tiefinnerlicher Gottesglaube zugleich mit hohem ethischem Pflichtbewusstsein offenbart", sei kein Zweifel, "dass weder die Kultusübung, noch die sonst auftretenden Äußerungen der religiösen Überzeugung Anstoß erregen, oder sich in Widerspruch mit den Postulaten des Kulturlebens gegenwärtig setzen oder in Zukunft setzen könnten." In diesem Sinne stellte der Altmeister der Islamwissenschaft Bernard Lewis vor kurzem fest: "Einige Merkmale der traditionellen islamischen Zivilisation, etwa Toleranz, soziale Mobilität und Achtung vor dem Gesetz, begünstigen eine demokratische Entwicklung eindeutig." Diese Merkmale fruchtbar zu machen, wird allerdings vor allem Sache der Muslime selbst sein müssen.

Der Autor ist Professor für Recht und Religion an der Universität Wien.

DER ISLAM: ALLTAGSKONFLIKTE UND LÖSUNGEN. Rechtliche Perspektiven. Von Mathias Rohe. Herder, Freiburg 2001. 221 S., TB, öS 145,-/e 10,54

SCHÄCHTEN. RELIGIONSFREIHEIT UND TIERSCHUTZ. Hg. von Richard Potz e.a. - Verlage Plöchl/Kovar, Freistadt 2001. 272 S., kt. öS 298,-/e 21,66

HANDBUCH RECHT UND KULTUR DES ISLAMS IN DER DEUTSCHEN GESELLSCHAFT. Probleme im Alltag, Hintergründe, Antworten. Von Adel Th. Khoury, Peter Heine, Janbernd Oebbecke. Gütersloher Verlagshaus, 2000. 333 S., geb., öS 569,-/e 41,35

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