Lebenswirklichkeit und religiöse Quellen

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Carla Amina Baghajati, Medien-und Frauenreferentin der Islamischen Glaubensgemeinschaft sowie Mitgründerin der "Initiative muslimischer Österreicherinnen und Österreicher", führt in einem Buch Lebenswirklichkeiten muslimischer Frauen vor Augen.

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Carla Amina Baghajati, Medien-und Frauenreferentin der Islamischen Glaubensgemeinschaft sowie Mitgründerin der "Initiative muslimischer Österreicherinnen und Österreicher", führt in einem Buch Lebenswirklichkeiten muslimischer Frauen vor Augen.

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Muslimin sein" von Carla Amina Baghajati ist ein bemerkenswertes Buch nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer, ebenso für Nicht-Muslime und -Musliminnen. Denn der Autorin ist das Kunststück gelungen, konkrete und authentische Erfahrungen und grundlegende Methoden der Auslegung von Koran und Sunna aufeinander zu beziehen. Zentrale Fragen in der Lebenswirklichkeit muslimischer Frauen werden beispielhaft und lebendig vor Augen geführt. Zugleich kommt zur Sprache, wie die religiösen Quellen zu lesen sind, wodurch viele Vorurteile und Missverständnisse ausgeräumt werden können.

Die Ansicht, der Koran müsse wörtlich genommen werden, weil er doch das Wort Gottes sei, verrät eine fundamentalistische Geisteshaltung. Diesem sehr neuzeitlichen Phänomen steht bereits in den ersten Jahrhunderten muslimischer Geschichte eine differenzierte Auslegungstradition gegenüber, auf die Gelehrte heute wieder zurückgreifen. Denn das Wort Gottes muss von Menschen verstanden werden, und menschliches Verstehen kann nie mit dem unerschöpflichen Gotteswort identisch sein. Auf dieser Basis steht das Buch von Amina Baghajati. Ohne ins bloß Theoretische abzudriften, zeigt sie an bestimmten Beispielen auf, dass der Koran eine dynamische Auslegung erfordert.

Methoden der Auslegung

Um dem, was Gott den Menschen sagen will, so nahe wie möglich zu kommen, braucht es Methoden, die den geschichtlichen Kontext sowie den inner-koranischen Textzusammenhang berücksichtigen. Von Anfang an wurden daher Anlässe und Begleitumstände der Offenbarungen analysiert, auch jüdische und christliche Überlieferungen zum besseren Verstehen herangezogen. Jedenfalls wird deutlich, "dass Auslegungen sich je nach den Faktoren Zeit, Ort und handelnde Personen, also den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, ändern können" (S. 13). Nur so ist es für die Autorin möglich, dass die Texte auch zu heutigen Menschen unter anderen Zeit- und Lebensumständen sprechen. Wer also behauptet, der Islam kenne keine historischkritische Forschung, wird in diesem Buch eines Besseren belehrt.

Im Übrigen ist das Missverständnis verbreitetet, christliche Exegese würde unter "kritisch" eine abwertende Religionskritik verstehen. Hingegen ist hier kritisch im Sinne des griechischen Wortes krinein gemeint, d. h. unterscheiden, im Islam z.B. unterscheiden von Offenbarungsanlässen. Wenn die Hadith-Wissenschaft die Überlieferungslinien nachverfolgt, um gut bezeugte von schwach bezeugten Aussagen und Praktiken des Propheten Muhammad zu unterscheiden, ist das in christlicher Sprache Überlieferungskritik.

Die Autorin betont jedoch auch, dass es notwendig ist, Geschichtliches von bleibend Gültigem zu unterscheiden, wie die fünf Säulen der Praxis. Sie stellt überzeugend dar, dass auch die Scharia kein starres Gebilde ohne Diskussion von Gelehrtenmeinungen ist. Und doch gibt es auch darin universale Werte, die als Absicht des Gesetzes (intentio legis) in fünf Prinzipien des Schutzes festgehalten sind (die maqasid): Schutz des Lebens, der Religion, der Vernunft, der Familie (Generationenfolge) und des Eigentums: "Daraus hat sich über die Jahrhunderte [...] bis zu modernen Theologen ein vielschichtiger Diskurs entwickelt, der gerade heute wieder an Aktualität gewinnt. [...] Auch das Prinzip der Geschlechtergerechtigkeit müsste ein Prinzip bilden, das stärker zu berücksichtigen ist"(S. 22). Das wird nicht abstrakt abgehandelt, sondern immer im Zusammenhang der Frage, was das für Frauenbilder und Rollenzuschreibungen bedeutet.

Eine muslimische Innensicht

Das Buch konzentriert sich, der Absicht entsprechend, auf die muslimische Innensicht. So manches, was muslimische Frauen bewegt, wird nicht-muslimischen Lesern und Leserinnen recht irritierend vorkommen. Das sollte nicht zu gegenseitiger Herabsetzung führen, lässt sich aber auch nicht verleugnen. Daher muss es möglich sein, dass Nicht-Muslime und -Musliminnen ihre andere Sicht in angemessener Weise äußern, ohne dass dies als Angriff oder Beleidigung empfunden wird. Zusammenleben bedeutet Zusammenleben von Verschiedenen und nicht gleich sein. Das Buch kann dazu beitragen, mit Verschiedenheit umgehen zu lernen.

Was mich besonders anspricht: Die Autorin zeigt am Koran auf, dass Frauen dieselbe Menschennatur zukommt wie Männern. Aber diese anthropologische Bestimmung wird immer wieder von den üblichen ungleichen sozialen Verhältnissen unterlaufen, anstatt die sozialen Verhältnisse nach der anthropologischen Bestimmung zu gestalten. In der Folge werden die ungleichen sozialen Verhältnisse zur Natur der Frau erklärt, zur Essenz, zum Wesen des Weiblichen hochstilisiert zum einseitigen Nutzen der Männer. Carla Amina Baghajati macht jedoch klar: Aus der geschlechtlichen Differenz lässt sich keine soziale Differenz ableiten. Auch im Islam sind nur Mann und Frau der ganze Mensch, gemeinsam zur Verwaltung der Erde beauftragt.

Die Autorin ist Prof. f. Praktische Theologie an der Evang.-Theol. Fak. Wien und Co-Vorsitzende der Plattform Christen und Muslime

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