Minarett - © Foto: Getty Images / Eye Ubiquitous / UIG

Fundamentalisten: ein Problem aller Religionen

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Spannungen zwischen wörtlichem Verständnis und einer den Kontext der Entstehung in den Blick nehmenden Auslegung gibt es nicht nur im Islam.

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Spannungen zwischen wörtlichem Verständnis und einer den Kontext der Entstehung in den Blick nehmenden Auslegung gibt es nicht nur im Islam.

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„Liebe Dr. Laura, ich würde gerne meine Tochter in die Sklaverei verkaufen, wie es durch die Bibel (Ex 21,7) erlaubt wird. Was denken Sie, wäre in den heutigen Zeiten ein fairer Preis für sie?“ Der satirische Brief an die US-amerikanische Radiomoderatorin Dr. Laura Schlesinger stammt aus den 2000er Jahren, aber kursiert bis heute im Internet. Schlesinger hatte in ihrer Sendung erklärt, Homosexualität sei widernatürlich, so stehe es wortwörtlich in der Bibel. Ein anonymer Satiriker fragte nun nach weiteren Ratschlägen. So sei doch in der Bibel die Berührung der Haut toter Schweine verboten – müsse er also beim Fußballspielen Handschuhe tragen? Usw. usw Man könnte leicht auf die Idee kommen, die Bibel sei ein Buch für Dumme.

Alle, die diese Zeilen lesen, wissen jedoch, dass die Bibel ein weises und für viele Menschen sehr hilfreiches und tröstendes Buch ist. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, ist eine biblische Maxime, die grundlegend für jede Gesellschaft ist. Die Seligpreisungen wiederum zeigen ein gewaltfreies Leben in Frieden und Gerechtigkeit usw. Doch eben, es gibt die anderen Stellen auch.

Wurzeln in der Bronzezeit

Man könnte dasselbe mit dem Koran unternehmen: es gibt eine Fülle von Passagen, die vom guten, gelingenden Leben in Hingabe an Gott sprechen; beginnend mit der immer wiederkehrenden Anrufung Gottes, des Allbarmherzigen – die semitische Wurzel des Wortes bedeutet Gebärmutter, also einen Ort der absoluten Geborgenheit. Und es gibt andere Passagen, die für heutige Ohren unerträglich sind. Und Ähnliches gilt auch für die anderen gro­ßen Religionen.

Die Religionen von heute haben alle ihre Wurzeln in Überlieferungen, die in die Bronzezeit zurückreichen, die jüdisch-christlich-islamische Überlieferung genauso wie die indischen Religionen. Rechtsvorstellungen, Lebensumstände und Weltbilder jener lang vergangenen Zeiten unterscheiden sich markant und umfangreich von heutigen Verhältnissen. Wie die anonyme Satire zeigt, gilt manches, was früher rechtens war, heute als kriminell. Dem widerspricht der überzeitliche Geltungsanspruch dieser Texte. Bibel und Koran sind Offenbarung Gottes, die indischen Veden und Upanishaden sind Shruti, „Gehörtes“, also ebenfalls Offenbarung, an denen kein Laut verändert werden darf. Im Buddhismus sind die Sutren des Pali-Kanon, die auf den „historischen Buddha“ Shakyamuni zurückgehen, aber auch die viel später entstandenen Sutren des Mahayana gleichermaßen „Löwengebrüll“, Wort des Buddha.

Dieses Problem hat man mit einem literarischen Text wie zum Beispiel dem Gilgamesch-Epos nicht. Das zwölf Tafeln umfassende Gedicht ist rund 4000 Jahre alt und stammt aus Mesopotamien. Es erzählt vom Wunsch nach Überwindung des Todes, ein Thema auch der Religionen. Der Unterschied: Die Geschichte enthält keine lebenspraktischen und normativen Anweisungen, wie sich dies in allen religiösen Texten in der einen oder anderen Form findet. In den normativen Passagen geht es um gutes soziales Zusammenleben ebenso wie um Transzendenz – um die Seligkeit in Gott, um das Ende von Gier, Hass und Egoismus. Daraus begründet sich der normative Anspruch.
Dass man derartige Texte nicht ohne Interpretation verstehen kann, ist in allen Religionen bekannt. Jede Tradition hat ihre eigenen hermeneutischen Probleme – im Buddhismus stellt sich angesichts der Vielfalt und Unterschiedlichkeit der verschiedenen Traditionen die Frage, was denn nun davon wirklich „Buddhavacana“, Worte des Buddha, sind und ein authentischer Übungsweg. Bekanntlich gibt es dazu viele Antworten. In den Hindu-Traditionen ergeben sich aus der Wichtigkeit der Sprache und der mündlichen Belehrung durch den Guru ähnliche Fragen.

In den abrahamitischen Religionen sind die Texte Offenbarung Gottes in der Sprache der Menschen. Damit taucht das Problem von Übersetzung und Interpretation zwangsläufig auf.

In der jüdischen Tradition gibt es die Wendung vom „schwarzen Feuer auf weißem Feuer“: die schwarzen Buchstaben stehen auf weißem Pergament, und aus dem buchstäblichen Sinn kann sich eine Fülle von Bedeutungen entwickeln. Das frühe Christentum kannte den vierfachen Schriftsinn: eine Textstelle kann buchstäblich als Geschichte gelesen werden; hat aber auch eine allegorische Bedeutung; sie gibt einen moralischen Impuls und öffnet die Dimension der Hoffnung. Wegen der Vieldeutigkeit biblischer Texte verbot die römische Kirche ab dem 13. Jahrhundert den Laien die eigenständige Lektüre der Bibel. Schwierig wurde es, als mit der Renaissance ein neues Bewusstsein der his­torischen Dimension von Texten aufkam.

Als ob der Heilige Geist diktiert hätte

Für die Reformatoren sprach das „Wort Gottes“ der Bibel für sich selbst. Im 17. Jahrhundert entstand daraus die Vorstellung, dass der Heilige Geist die Bibel „Wort für Wort diktiert“ habe. Aufklärer wiederum betonten, dass die biblischen Texte widersprüchlich sind und daher nicht wahr sein könnten. Die historisch-kritische Methode der Bibelexegese versuchte, diese Fragen mit rational nachvollziehbaren Methoden wie Textkritik oder Archäologie zu klären.

Im 19. Jahrhundert entstand ein neues Problemfeld: mit den neuen Naturwissenschaften war das antike biblische Weltbild unvereinbar. Als Gegenbewegung entstand um 1910 in den USA der Fundamentalismus. Evangelikale nehmen die Bibel wörtlich – und lehnen daher die Evolutionstheorie ebenso wie die historisch-kritische Methode ab. Probleme mit Evolutionstheorie und historisch-kritischer Exegese haben übrigens auch die orthodoxen christlichen Kirchen. In der römisch-katholischen Kirche war die historisch-kritische Methode der Bibelexegese bis 1948 verboten. Heute gehört die Exegese des Alten und Neuen Testaments ganz selbstverständlich zum Theologie-Studium. Das Ringen um den Sinn der biblischen Texte ist damit in ein neues Stadium getreten.

In diesem schwierigen und nicht zuletzt politischen Spannungsfeld – es geht ja um Normen des Zusammenlebens – muss sich heute die Auslegung des Koran neu artikulieren. Das Problem sind die Fundamentalisten.

Und die gibt es in allen Religionen. Sie lieben den Zwang zur Eindeutigkeit und die Verdammung der „Anderen“. Die Mehrdeutigkeit und Vielschichtigkeit heiliger Texte lässt sie erzittern.

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