Kind der Aufklärung

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Die historisch-kritische Bibelauslegung ist immer wieder Angriffen ausgesetzt. Aber für den Forscher bleibt diese Methode unverzichtbar.

So manche(r) meint, die historisch-kritische Methode der Schriftauslegung sei "in die Jahre" gekommen - ein skurriles Relikt "neuzeitlicher" Schriftauslegung. Das mag nicht ganz von der Hand zu weisen sein. Doch welche Vorbehalte verbinden sich mit diesem, manchmal auch hämisch-grinsend vorgetragen Urteil? Da stehen jene auf, die von Anfang an zu wissen meinten, dass die Methode aufgrund ihrer methodischen Prämissen mit genuin kirchlicher Bibelinterpretation unvereinbar sei, weil sie die Wahrheit der Schrift in Frage stelle; und andere, die der Methode im Blick auf ihre Resultate die Legitimität absprechen wollen: Historisch-kritische Bibelauslegung sei theologisch steril, die Ergebnisse weitgehend unbewiesene Hypothesen und ein Dschungel von Detailbeobachtungen von vernachlässigbarer Glaubensrelevanz.

Die Herausforderung ergibt sich nicht zuletzt aus der Perspektive der zahlreichen neueren Ansätze, die sich in den letzten Jahrzehnten innerhalb der Bibelwissenschaft entwickelt haben. Hat die Zeit den Ansatz der historisch-kritischen Exegese überholt? Wurde sie von einer einstmals heiß umkämpften methodischen Errungenschaft zu einem verzichtbaren Element des wissenschaftlichen Diskurses?

Erkämpfte Etappensiege

Die historisch-kritische Schriftinterpretation ist ein Kind der Aufklärung. Das Alte Testament spielte bei der Entwicklung der Methode stets die Vorreiterrolle, die dort geschärften Fragestellungen wurden später meist auch in der neutestamentlichen Bibelwissenschaft übernommen. Obwohl die Methode erst im 19. Jahrhundert ihre Hochblüte erlebte, reichen ihre Wurzeln weit zurück. Bereits im Mittelalter beobachteten Gelehrte die auffälligen Widersprüche, die sich innerhalb des Pentateuch beobachten ließen - weshalb konnte etwa Mose einen eigenen Tod noch zu Lebzeiten detailgetreu beschreiben (Dtn 34) und auf Ereignisse Bezug nehmen, die lange nach seinem Ableben eintreten sollten?

Angestoßen durch Aufklärung und Reformation publizierte der französische Priester Richard Simon im Jahr 1678 sein Werk "Kritische Geschichte des Alten Testaments", mit der er die neuzeitliche, christliche Bibelwissenschaft begründete. Darin entwickelte er die Hypothese zur Entstehung des Pentateuch: Das Werk als Ganzes entstamme nicht der Zeit des Mose, sondern sei ein Kompendium älterer Quellen und schriftgelehrter Kommentare, die erst in der Zeit des babylonischen Exils von Redaktoren zu einem Ganzen zusammengefügt worden seien.

Trotz anfänglicher Zustimmung provozierten Simons Thesen bald einen Sturm der Entrüstung, der in der Konfiskation und Verbrennung seines Werkes, dem Verlust des Lehrstuhls und der Verbannung in eine Landpfarre resultierte. Unglücklicherweise war mit diesen Maßnahmen auch schon der Ton vorgegeben, mit dem die Auseinandersetzung innerhalb der katholischen Kirche über fast 150 Jahre hinweg geführt werden sollte. Katholische Forscher arbeiteten von da ab im Untergrund und publizierten unter Pseudonymen oder blendeten sich überhaupt aus der wissenschaftlichen Diskussion aus.

Die herausragenden Gestalten, denen die historisch-kritische Methode ihre großen wissenschaftlichen Würfe verdankt, gingen somit primär aus den reformatorischen Kirchen hervor. Innerkatholisch gab die Enzyklika "Providentissimus Deus" (Leo XIII., 1893) die Richtlinien vor: Den Versuchungen der "rationalistischen Exegese" müsse ebenso widerstanden werden wie der Infragestellung der mosaischen Verfasserschaft des Pentateuchs oder gar der Inspiration der Heiligen Schrift. Erst Pius XII. gab der historisch-kritischen Methode in der bahnbrechenden Enzyklika "Divino afflante spiritu" (1943) auch in der katholischen Kirche jenes Heimatrecht, das danach sowohl das Zweite Vatikanum ("Dei Verbum", 1965) als auch die Päpstliche Bibelkommission im Auftrag von Papst Johannes Paul II. (1993) durch das Dokument über "Die Interpretation der Bibel in der Kirche" bekräftigten und vertieften.

Methode nicht obsolet

Gerade das letztgenannte Schriftstück zeigt jedoch gleichzeitig auf, was die (vermeintliche) "Krise" der historisch-kritischen Methode auslöst: In den letzten Jahrzehnten entwickelte sich neben ihr eine bunte Palette anderer Ansätze, die den historisch-kritischen Zugang "nur mehr" zu einem neben vielen anderen werden ließen. Vor allem erfahrungsbezogene und kontextuelle Auslegungsmethoden (feministisch, psychoanalytisch oder befreiungstheologisch orientiert etc.) eröffnen Fragestellungen, denen sich die inzwischen bereits klassische Exegese mitunter verschloss.

Wurde damit obsolet, was über Jahrhunderte heiß erkämpft worden war? Mitnichten. Die historisch-kritische Exegese entwickelte sich längst zu einem umfangreichen Methodenbündel (Textkritik, Literarkritik, Motiv- und Traditionskritik, Redaktionskritik usw.), dem es im Wesentlichen um Eines geht: die Entstehungsgeschichte biblischer Texte in ihren vielen Dimensionen und Schichten nachzuzeichnen, diese bestimmten historischen Situationen und Gattungen zuzuordnen ("Sitz im Leben") und damit ihre Vieldimensionalität aufzuspüren. Dahinter steht die Grundüberzeugung, dass die Texte ihre theologische Weite ohne die konkrete historische und theologiegeschichtliche Verortung nicht oder nur zum Teil entfalten können.

Die historisch-kritische Auslegung der Texte setzt ein hohes Maß an exegetischer Kompetenz voraus (etwa die Beherrschung der biblischen und orientalischen Sprachen, das Fachwissen über literaturwissenschaftliche Methodik usw.), das in entsprechend komplizierten Textanalysen ausmündet. In diesem Bereich ging die Forschung in den letzten Jahrzehnten (wie jede andere Wissenschaft) sicher auch Irrwege oder geriet in Sackgassen. Es wäre jedoch kurzschlüssig, würde man diese Unzulänglichkeiten zum Anlass nehmen, die Methode als solche zu verwerfen: Die Berechtigung und Notwendigkeit historisch-kritischer Schriftinterpretation bleibt weiterhin ungebrochen.

Der Autor ist Prof. f. alttest. Bibelwissenschaft an der Kath.-theol. Fakulät in Wien u. lehrt an der University of St. Thomas in St. Paul/USA.

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