Um ein heutiges Verständnis ringen

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Christen müssen ihre Hermeneutik - ihre Interpretationsweise - des Alten Testaments neu entwickeln. Anmerkungen zum modernen Verständnis eines alten Buches.

Siebzig Gesichter hat die Tora." - So heißt es in der rabbinischen Tradition. Auf 70 und mehr verschiedene Arten wird das Alte Testament/die Jüdische Bibel heute gelesen. Ihre Vieldeutigkeit ist schon in den hebräischen Texten selbst angelegt. Aber für christliche Hermeneutik ist dieser Pluralismus keine Selbstverständlichkeit.

Die Jüdische Bibel, das christliche Alte Testament, wird im Judentum und im Christentum auf je unterschiedliche Art und Weise angeeignet: im Judentum als "mündliche Tora" in Talmud und Midrasch, im Christentum als Evangelium im Neuen Testament. Diese unterschiedlichen Aneignungsformen haben nebeneinander ihr Recht, auch wenn sie verschiedene Wahrheitsmomente enthalten. Für den christlichen Zusammenhang von Altem und Neuem Testament bedeutet das, dass zwischen beiden Teilen der christlichen Bibel sowohl Diskontinuität als auch Kontinuität besteht. Sie sind einerseits jeweils in ihrem Eigenwert für sich zu lesen, andererseits ist aber auch "ein produktives, kontrastives Schriftgespräch' zwischen beiden Teilen der einen christlichen Bibel" (Erich Zenger, vgl. Seite 17/18 dieser Furche) zu führen.

Jüdisches Denken anerkennen

Trennlinie zwischen jüdischer und christlicher Schriftauslegung wird immer die Christologie bleiben. Die christologische Interpretation hat im Rahmen des Christentums ihr eigenständiges Recht. Die Jüdische Bibel ist als die Bibel Jesu Teil der christlichen Bibel.

Als Gegenbewegung zu einer langen Tradition christlicher Ignoranz und Abwertung jüdischer Schriftauslegung ist es zunächst einmal wichtig, jüdische Hermeneutik in der christlichen Theologie überhaupt wahrzunehmen. Des weiteren geht es darum, den jüdischen Umgang mit Texten als Herausforderung zu sehen und die Legitimität rabbinischer Exegese christlicherseits anzuerkennen. Ziel einer neuen Hermeneutik ist es, anschlussfähig zu sein für jüdisches Denken: Über jüdische und christliche Hermeneutik ist auf eine Art und Weise nachzudenken, die "jüdischem Denken nicht von vornherein verschlossen ist, auch wenn dieses seine eigenen Perspektiven und Ausdrucksformen besitzt", wie der Tübinger evangelische Theologe Bernd Janowski meint.

Und Christen?

Moderne christliche Hermeneutik des Alten Testaments lässt sich nicht ohne die historisch-kritische Methode der Bibelauslegung denken. Zwar hat diese viele Probleme aufgeworfen: Ihre Hypothesen sind teilweise widersprüchlich und lassen sich kaum verifizieren; sie ist nicht so objektiv, wie sie gerne wäre; durch grenzenloses Zerschneiden von Texten hat sie sich weit von jeder Praxis entfernt.

Andererseits bleiben aber unverzichtbare Errungenschaften, Fragestellungen, die erst durch die historisch-kritische Methode möglich wurden: Sie macht uns den großen Abstand zwischen den über 2.000 Jahre alten Texten und uns heute bewusst; sie nimmt die historische Distanz ernst; die historisch-kritische Methode hat die Vielfältigkeit der biblischen Schriften im Allgemeinen und die Eigenständigkeit des Alten Testaments - ohne Brille des Neuen - im Besonderen herausgearbeitet.

Der Versuch der Einordnung in den historischen Kontext kann Texte verständlicher machen und dazu beitragen, die Distanz zwischen Leserinnen und Lesern und den Texten der Bibel zu überwinden. Brüche, Widersprüchlichkeiten, Lücken im Bibeltext werden durch die Suche nach der exakten Wortbedeutung des hebräischen Urtextes, nach dem "Sitz im Leben", durch die Zuordnung zu unterschiedlichen literarischen Schichten begreifbar gemacht.

Aus der Vielfältigkeit der Aussagen im Alten Testament, die sich nicht über den Kamm einer einzigen "biblischen Botschaft" scheren lassen, folgt die Trennung von Bibelkritik und Dogmatik: Diese war in den Anfängen der historisch-kritischen Methode eine wichtige Errungenschaft, die nach wie vor ihre Berechtigung darin hat, dass Aussagen des Alten Testaments nicht von vornherein nur auf dogmatische Wahrheiten - wie etwa über Jesus Christus - hin befragt werden.

Wichtig ist einerseits die Unterscheidung zwischen historischen, literarischen und theologischen Fragen, aber andererseits auch das Bewusstsein, dass diese Trennung nie ganz objektiv gelingen kann: Jede Interpretation geht von gewissen Voraussetzungen aus, aber es ist notwendig, diese offen darzulegen.

Kreatives Weiterschreiben

Neuere Formen der Exegese berücksichtigen die unterschiedlichen Kontexte der Leser stärker. Sie erklären Unstimmigkeiten im Text meist nicht durch unterschiedliche Schichten, sondern gehen von der vorfindlichen Textgestalt aus. Eine Verbindung von Theorien - etwa von jüdisch-rabbinischer Schriftauslegung und feministischer Hermeneutik - ist eine Bereicherung für die moderne Forschung am Alten Testament/an der Jüdischen Bibel und trägt zur Vermittlung zwischen jüdischer und christlicher Hermeneutik bei.

Auch wenn es große Unterschiede zwischen diesen Theorien gibt, gibt es doch auch zahlreiche Parallelen: Die Interaktion zwischen Leser/in und Text ist wichtig für das Verständnis der biblischen Texte, denn die Bedeutung der Texte entsteht erst in der Lektüre und Auslegung: Einerseits geht es um die historischen und modernen Einzelleserinnen und -leser, andererseits um die jeweilige - jüdische oder christliche - Interpretationsgemeinschaft. Bedeutung entsteht immer wieder neu in Lektüre und Diskussion. Zwischen der Suche nach dem "Eigenwert", der eindeutig zu bestimmenden Wortbedeutung und einem spielerischen Umgang mit den Texten besteht eine fruchtbare Spannung.

Der Pluralismus und die vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten gerade alttestamentlicher Texte sind kein Mangel, sondern eine positiv zu nutzende Chance. Das Spiel mit dem Bedeutungsreichtum des Bibeltextes bereichert die Auslegung. Gerade Leerstellen und unverständliche Textpassagen können ein Schlüssel zur Interpretation werden: Der Leser und die Leserin stellt Fragen und tritt so in ein Gespräch zwischen dem eigenen Kontext und dem biblischen Text. Verstehen ist nicht nur ein rezeptiver, sondern auch ein produktiver Vorgang.

Jede Auslegung ist ein kreatives Weiterschreiben der biblischen Tradition. In jeder Lektüre entsteht ein neuer Textzusammenhang. Auch Autor/innen sind Leser/innen, ihre Lektüreerfahrungen drücken sich in ihren Werken aus. Lektüre und Textproduktion stehen so in einem zirkulären Zusammenhang.

Ein dialogischer Prozess

Insgesamt geht es heute um einen Zugang zum Alten Testament, der beides berücksichtigt: sowohl das Bemühen um eine historische und literarische Erklärung der Texte als auch die Berücksichtigung der Kontextgebundenheit jeder Exegese.

Die konkrete Bedeutung alttestamentlicher Texte und ihre Verbindlichkeit stehen nicht statisch fest, sondern werden im Diskurs immer wieder neu verhandelt: als offener, dynamischer, dialogischer Prozess, der die Wechselwirkungen zwischen Texten und ihren Lesern sowie den Kontext in unterschiedlichen - jüdischen, christlichen oder säkularen - Interpretationsgemeinschaften aufnimmt.

Die Autorin ist Universitätsassistentin am Institut für Alttestamentliche Wissenschaft der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Wien.

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