Patriarchal umgedrehte Bibel

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Von der rabbinischen Tradition her nimmt die Frau vor Gott - bedauerlicherweise - eine zweitrangige Position ein. In der Jüdischen Bibel selbst tritt die Frau aber als Vermittlerin der religiösen Erfahrung hervor.

Die jüdische Tradition beruht - wie andere religiöse Traditionen - auf einem schriftlich festgelegten Kanon, der einerseits die Geschichte des Volkes Israel beinhaltet, aber darüber hinaus die Grundlage für den Glauben bildet. Diese zwei Dimensionen der Heiligen Schrift kommen im Judentum durch das Lernen und das Beten als zwei Möglichkeiten, Tradition zu stiften, zum Ausdruck. Die Heilige Schrift ist in jüdischer Tradition Ausdruck des mündlichen, lebendigen Wortes Gottes, welches in menschlich verständlicher Sprache aufgeschrieben ist: "Dibra Tora klischon Benei Adam - Die Tora redet wie in menschlicher Sprache", lautet eine bekannte rabbinische Aussage.

Dies gewinnt bei der Frage über die Rolle der Frau in biblischen Geschichten und Judentum überhaupt eine besondere Prägnanz, da nach der Halacha, dem Religionsgesetz, die Frau vom Lernen und Beten freigestellt und somit aus der Kette der Tradition praktisch ausgeschlossen ist.

Diese Problematik bildet die Grundlage für einen Verlust an religiöser Identität - nicht nur für Frauen im Judentum, sondern auch für Männer. Es geht heute nämlich weniger um die Frage der Rolle oder der Rechte der Frau, sondern um die Frage nach der Partizipation in allen Bereichen des religiösen Lebens. In allen Denominationen des modernen Judentums ist zu beobachten: Frauen wollen nicht mehr nur zugelassen werden, sondern sie wollen die Erneuerung des Judentums im Sinne einer Kontinuität innerhalb der jüdischen Tradition mitbestimmen.

Vermittlerin der Erfahrung

"Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist, ich werde ihm eine Helferin schaffen." Dieser Satz, der im Buch Genesis die Schöpfung der Frau einleitet (Gen 2,18), ist der Schlüssel zum Verständnis der Rolle der Frau in der Bibel wie auch in der jüdischen Tradition. Es ist nämlich eine fast überraschende Tatsache, dass es trotz der Unterordnung der Frau unter den Mann in der jüdischen Tradition - sie ist als Frau und Mensch dem Mann in allen Bereichen des religiösen und sozialen Leben untergeordnet - bereits in der Bibel Anweisungen für ihr religiöses Handeln gibt, durch die der paradoxale Charakter dieser Unterordnung zum Ausdruck kommt.

In der Bibel steht die Frau in jenen Situationen, wo es sich nicht um die formelle Verbindung zwischen Mensch und Gott handelt, sondern um die Erfahrung des Göttlichen selbst - eine Erfahrung, die nicht in eine bestimmte sprachliche oder rituelle Form gebracht werden kann, sondern die, wie bekannt, den Kern des Gott-Mensch-Verhältnisses ausmacht - als Vermittlerin zwischen Mann und Gott.

Es scheint so, als ob die männliche Form des Umgangs mit Gott durch einen Drang zur Sprache gekennzeichnet ist, dagegen die Form, in der die Frauen in der Bibel sich äußern, eine unmittelbare Weise ist, die sich schwer oder überhaupt nicht in Sprache ausdrücken lässt. Die jüdische Mystik hat diese Unmittelbarkeit aufgenommen, aber es wäre ein Fehler, die mystische Tradition als eine weibliche zu betrachten.

Sogar wenn wir in kabbalistischen Texten der Frau als Medium fürs Verständnis der Tora begegnen, bleibt sie nur Medium und Metapher ohne Fleisch und Blut. Zusätzlich lässt sich beobachten, dass in der weiteren Entwicklung der jüdischen Tradition, nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 unserer Zeitrechnung, die Frau mehr und mehr in den Hintergrund gerät, wobei im Gottesdienst, als Ausdruck der Verbindung mit Gott, die Frau aus den wichtigen und zentralen Bereichen, wie denen des Priesters und des Propheten (Lehrer, Rabbiner, Vorbeter und Vermittler der Tradition) ausgeschlossen wird - und das trotz der Tatsache, dass die Rabbinen betonen, dass wir das Beten von Hanna lernen (1Sam 1-2), das heißt von ihrer innerlichen, murmelnden Bitte um ein Kind, den späteren Propheten Samuel.

Bibel wird umgedreht

In der Bibel steht zwischen Gott und Mann die Frau, in der rabbinischen Tradition dreht sich dies um - und zwischen Frau und Gott steht der Mann. Wir haben es hier mit einem patriarchalen Weltbild zu tun, das zwischen Inhalt und Form, Körper und Seele, Erfahrung und Sprache trennt. Die Körperlichkeit der Frau als Sitz der Fortpflanzung und des Geistigen erlaubt eine vollkommenere Integration zwischen allen Teilen der menschlichen Erfahrung. Die Sprache ist nur ein kleiner Teil, der Rückzug auf sie ist somit kein Fortschritt, sondern eine Regression, die jedoch nicht mehr rückgängig zu machen ist - trotz der mystischen und magischen Traditionen, die im ersten Jahrhundert wie auch im Judentum des Mittelalters aufkamen.

In der Bibel sind noch beide Formen - die des Sprechens und die des Schweigens, die des Lernens und die des Betens - eng miteinander verbunden. Die Begegnung mit Gott (oft ausgedrückt in der Begegnung mit einem Engel) ist genau so wichtig wie das Wort, in dem das gegenseitige Verstehen von Gott und Mensch zum Ausdruck kommt. Das Bilderverbot im Judentum zielt in diese Richtung: Weil es verboten ist, sich sein Bild von Gott zu machen, wird zwischen Mensch und Gott eine direkte Verbindung gelegt. Im Lernen und im Beten, in der Verwandlung des biblischen Textes in das Gebet als unerfüllte Hoffnung kommt dies zum Ausdruck.

Beispiel: Eva im Paradies

Nachdem Eva in die Welt gekommen ist (Gen 2) verlagert sich die Handlung ins Paradies (Gen 3). Es ist bemerkenswert, dass der Konflikt zwischen Mensch und Gott im Paradies beginnt und dass dieser Konflikt von der Frau initiiert wird: In der Bibel wie im rabbinischen Kommentar wird dieser auf sie abgeschoben. Der Baum der Erkenntnis von Guten und Böse ist der erste Ort der Begegnung zwischen Mensch und Gott im geistigen Sinn. Gut und Böse sind keine absoluten Kategorien, sondern gewinnen ihre wahre Konturen in der Gotteserfahrung, wenn der Mensch beschließt, aus freiem Willen, vom Baum der Erkenntnis zu essen oder nicht: Gotteserkenntnis, Selbsterkenntnis und moralisches Bewusstsein werden eins.

"Alles ist vorgesehen, aber die freie Entscheidung ist gegeben", so eine bekannte Aussage der Rabbinen, die wussten, dass es weniger um die Auslegung der Schrift, als um eine Begegnung mit der Schrift geht, als das zum Laut gewordene, gesprochene Wort Gottes, das sich jeder Systematik entzieht und das sich als Heilige Schrift immer wieder am Handeln des Einzelnen orientiert. Das hebräische Wort chessed, als Entschluss zur und Vollzug der tätigen Liebe, bringt dies prägnant zum Ausdruck. Es bedeutet ein Urvertrauen zwischen Mensch und Gott und meint: Es lohnt sich trotz allem, in dieser Welt sinnvoll zu handeln und das Gute vom Böse zu trennen.

Mutter alles Lebendigen

Die Bibel erzählt somit - im Gegensatz zum griechischen Determinismus - einerseits von einer Offenbarung des göttlichen Willens, aber macht diesen Willen vom Anfang an von der Handlung des Menschen abhängig - und es ist die erste Frau, Eva, die Mutter alles Lebendigen, hebräisch: Em Kol Chai, die diese Herausforderung annimmt und verwirklicht. Sie ist es, die vom Baum der Erkenntnis isst und ihrem Mann zu essen gibt. Beide erkennen sich selbst - und erkennen Gott. Sie hören zum ersten Mal die Stimme Gottes im Garten, der den Menschen ruft! "Adam, wo bist du?", ist von nun an die Anfrage Gottes an den Menschen - zu jeder Zeit, an jedem Ort.

Nach der Geburt ihres Sohnes, nachdem Gott Adam und Eva aus dem Paradies geschickt hatte, ist es wiederum die Frau, die - ohne eine Verheißung zu bekommen - die Verbindung für ihren Mann und ihren Sohn herstellt. Dies geschieht in der Antwort Evas auf Adams Ausruf nach ihrer Geburt, dass sie "Fleisch seines Fleisches, Knochen seines Knochens" (Gen 2,23) sei. Nein, sie ist ein selbständiges Wesen, die das Bindeglied zwischen dem Körper und der Seele darstellt und zwischen Erde und Himmel vermittelt: Zwischen Mensch und Gott gibt es für sie keine Trennung, keine Vertreibung.

Gott und Mensch - paradox

Von Eva ist das erste Gebet in der Bibel: "Ich habe einen Isch (Mann und Sohn) gewonnen mit Gottes Hilfe" (Gen 4,1). Kain, ihr erster Sohn, der diese Verbindung als Bund und Ent-Bindung aushalten muss, ist jedoch auch der erste Mörder auf dieser Erde. Er ist es, der seinen Bruder Abel umbringt - wie ja jeder Mord immer ein Brudermord ist ...

Beide, Adam und Eva, verlassen das Paradies mit dem Wissen um den Tod. Eva hat jedoch die Lebenskraft bekommen, ein Kind zur Welt zu bringen und zu wissen, dass in jeden Menschen das Zeichen Kains eingraviert ist. So ist die Geschichte von Eva ein Paradigma für das paradoxale Verhältnis zwischen Mensch und Gott - ein Helfer "gegen ihn", wie Gott, bevor er sie schuf, gesagt hatte (Gen 2,18) -, eine Beziehung, die erst durch eine Wahl zwischen Gut und Böse seine Bedeutung gewinnt. Der Mensch - Mann und Frau - wird erst vor Gott zum Individuum.

Es ist daher umso bedauerlicher, dass in der rabbinischen Tradition die Frau als religiöses Individuum vor Gott eine zweitrangige Position einnimmt: Dies führt gerade in der modernen Welt mehr und mehr dazu, dass das Religiöse und das Profane getrennt sind, was verheerende Folgen für das Überleben des Judentums hat. Aus der Geschichte des Judentums wissen wir, wie gerade der Streit um die Traditionen - die Weitergabe des erhaltenen Erbes als Basis für alle Bereiche des Lebens - ein fruchtbarer Boden für den Glauben war. Es geht letztendlich um die Glaubwürdigkeit dieser Tradition, die nicht von oben, sondern nur durch die Praxis und Wahrhaftigkeit eines jeden Einzelnen bestätigt werden kann.

Religiöse Mündigkeit bedeutet dieses Erbe zu beanspruchen und in voller Verantwortung, für sich und die nächsten Generationen, zu tragen.

Die Autorin ist die erste Rabbinerin Österreichs und Direktorin der Hermann-Cohen-Akademie für Religion Wissenschaft und Kunst. Sie hat z.Z. eine Gastprofessur für Jüdische Kulturphilosophie an der Universität Wien inne.

Zum Thema

Tanach - Die Jüdische Bibel

In der rabbinischen Tradition werden die 24 Bücher der Jüdischen Bibel in drei Gruppen unterteilt: In die Tora (Gesetz), die Newi'im (Propheten), die Ketuwim (Schriften); nach den Anfangsbuchstaben dieser Gruppen wird die ganze Jüdische Bibel Tanach genannt.

Zentrum der Jüdischen Bibel ist die Tora, die aus den fünf Büchern Mose (1. Bereschit - Im Anfang, 2. Schemot - Namen, 3. Wajjikra - Und ER rief, 4. Be-Midbar - In der Wildnis, 5. Dewarim - Worte), besteht. In ihr sind der jüdische Glaube und das Gesetz Gottes niedergeschrieben.

Zu den Newi'im, den acht Prophetenbüchern, zählen Jesaja, Jeremia, Ezechiel und das Zwölfprophetenbuch (Hosea, Joël, Amos, Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, Zefanja, Haggai, Sacharja, Maleachi) sowie Josua, Richter, die Samuelbücher und die Königsbücher.

Die elf Schriften - Ketuwim - bestehen aus Psalmen, Sprichwörter, Ijob, Hohelied, Rut, Klagelieder, Kohelet, Ester, Daniel, Esra & Nehemia und den Chronik-Büchern.

Auch wenn es Unterschiede in Zählung und Reihung gibt, stimmen die kanonischen Bücher der Jüdischen Bibel mit denen des Altes Testaments überein (zu den deuterokanonischen Büchern, die für Juden und Protestanten nicht zur Bibel gehören, siehe nächste Spalte).

Das Alte Testament

Die christliche Tradition hat die Jüdische Bibel als Altes Testament übernommen. Der christliche Kanon hält sich in Reihenfolge und Zählung an die Septuaginta, die griechische Bibelübersetzung hellenistischer Juden (3. Jh. v. Chr.). Diese zählt 39 Bücher, weil einige Bücher der Jüdischen Bibel als je zwei und das Zwölfprophetenbuch als zwölf Bücher gerechnet werden.

Den ersten Teil bilden die fünf Mosebücher (mit den Septuaginta-Bezeichnungen: 1. Genesis, 2. Exodus, 3. Levitikus, 4. Numeri, 5. Deuteronomium).

Dann folgen die Geschichtsbücher (Josua, Richter, Rut, 1. und 2. Buch Samuel, 1. und 2. Buch Könige, 1. und 2. Buch Chronik, Esra, Nehemia, Ester) und die Weisheitsbücher (Ijob, Psalmen, Sprichwörter, Kohelet, Hohelied).

Am Schluss stehen die Prophetenbücher Jesaja, Jeremia, Klagelieder, Ezechiel, Daniel, Hosea, Joël, Amos, Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, Zefanja, Haggai, Sacharja und Maleachi.

Die katholische und die orthodoxe Tradition zählen noch weitere, so genannte deuterokanonische Bücher, die nach 400 v. Chr. entstanden sind, zum Alten Testament. Dies sind die Geschichtsbücher Tobit und Judit, die Lehrbücher Weisheit und Jesus Sirach, der Prophet Baruch, sowie spätere Zusätze zu Ester und Daniel. Otto Friedrich

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