Für und wider Träume

Werbung
Werbung
Werbung

"Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein, eure Alten werden Träume haben, und eure jungen Männer haben Visionen.“ Dieser Satz, der sich beim Propheten Joël findet (Joël 3,1b), kann als Zusammenfassung des biblischen Zugangs zum umfassenden Themenkomplex der "Schau“ stehen. Dort, wo es um den Berührungspunkt von Religion und Leben, von Göttlichem und menschlicher Erfahrung geht: an dieser existenziellen Schnittstelle taucht die Vision als Wirklichkeit auf. Der zitierte Satz bei Joël ist, wie oft in den Prophetentexten, Teil einer Zukunftsschau: das kommende Heil, die messianische Zeit, die Hoffnung Israels in hoffnungsarmer Zeit - so kann die Vision als Teil des religiösen Gedächtnisses im jüdisch-christlichen Kontext dargestellt werden. Wobei diese Form des Religiösen kein Exklusivmerkmal von Judentum oder Christentum ist, sondern die meisten Erfahrungen rund um Transzendenz mit beschreibt.

Ein Erbe der heidnischen Antike

Oft wird in der Bibel die Vision mit dem Traum in Verbindung gebracht oder über einen Traum erzählt. Auch das ist ein Erbe der heidnischen Antike: Der Traum bringt nach dieser Vorstellung den Menschen in Verbindung mit der Welt des Göttlichen und kann so etwas Verborgenes oder gar etwas Zukünftiges enthüllen. Es ist evident, dass der Traum in den biblischen Schriften eine wichtige Rolle spielt - und zwar schon für den Beginn der Menschheitsgeschichte. Die Erschaffung des Menschen geht auch mit einem Traum einher: Adam, so erzählt es der zweite Schöpfungsbericht im Buch Genesis, fällt in einen tiefen Schlaf, aus dem er mit einer Gefährtin - Eva - erwacht (Gen 2,21f). Auch Jakobs Schau von der Himmelsleiter (Gen 28,10-17), in dem die Verheißung auf Nachkommen und Land erneuert wird, ist ebenso ein Traum wie die Vision seines Sohnes Josef, welche diesem die Zukunft als gegenüber seinen Brüdern Herausragender anzeigt (Gen 37,5-10).

In der alttestamentlichen Josefserzählung spielen Träume überhaupt die Schlüsselrolle, wobei die Träume des Oberbäckers und des Obermundschenks sich erst in der Deutung durch Josef erschließen (Gen 40,5-23). Und der Traum des Pharao (Gen 41,1-31) wird gleichfalls in der Deutung Josefs über die sieben fetten Jahre, in denen Getreidevorräte anzulegen sind, und die darauffolgenden sieben mageren Jahre, wirkmächtig. Am Ende der Traumdeutung (Gen 41,32) fügt der biblische Erzähler hinzu, dass es Gott selber ist, der die Träume gesandt hat und auch ausführt. Eine analoge Erzählung findet sich im Buch Daniel, in dem der Prophet die Träume des babylonischen Königs Nebukadnezzar von den Weltreichen nicht nur deutet, sondern auch errät (Dan 2,1-49).

Im Neuen Testament setzen sich die alttestamentlichen Traummuster fort. Insbesondere wird wiederholt der Wille Gottes den Menschen in Träumen offenbart: So erfährt Josef von Nazaret im Traum, dass Maria mit Jesus schwanger ist (Mt 1,20). Auch damit Jesus dem Kindermord von Betlehem entgehen kann, wird den drei Sterndeutern im Traum befohlen, nicht zu Herodes zurückzukehren (Mt 2,12), und Josef flieht mit Maria und Jesus nach einer analogen Traumbotschaft nach Ägypten (Mt 2,13). In der Apostelgeschichte wird gleichfalls wiederholt von nächtlichen Visionen des Paulus berichtet (z.B. Apg 16,9 oder 18,9), wo ihm der Engel Gottes Handlungsanweisungen gibt.

Die Vision als biblische Darstellung von Offenbarung lässt sich vom Traum meist nicht klar abgrenzen. Zusätzlich zu den Erlebnissen im Schlaf treten hier Offenbarungsereignisse, die mit allen Sinnen wahrgenommen werden können - als Gehörtes wie beispielsweise beim Propheten Jeremia ("Das Wort des Herrn erging an mich …“, Jer 1,4) wie eben als im Wortsinn Geschautes: Als solches erweist sich schon die Vision des Mose im brennenden Dornbusch, wo sich der Gott Israels als Jahwe, als der "Ich werde da sein“ zu erkennen gibt (Ex 3,4 - 4,16). Beim Propheten Ezechiel kann das Wort Gottes sogar geschmeckt werden ("süß wie Honig“, Ez 3,3), und im Buch Jeremia erfährt es der Prophet durch Berührung des Mundes (Jer 1,9).

Besonders in der sogenannten Apokalyptik (im alttestamentlichen Buch Daniel oder in der Offenbarung des Johannes, dem letzten Buch des Neuen Testaments), die eine Schau in die Endzeit der Welt darstellt, erreicht die Vision als biblisches Motiv mit explizit drastischer Bildsprache auch einen literarisch markanten Höhepunkt.

Gegenmittel gegen Trugbilder

Doch gerade in einer biblischen Betrachtungsweise darf auch die Visionskritik nicht ausgespart bleiben. Denn die Bibel erweist sich geradezu als Antidot gegen die unkritische Übernahme von Zukunftsschau. Das Sprichwort von "Träme sind Schäume“ findet in der Bibel klare Entsprechungen. Eine ganze Schrift, das Buch Kohelet, kann hier als Warnung vor Illusion herhalten: "Wo Träume sich mehren und Windhauch und viele Worte, da fürchte du Gott!“ (Koh 5,6) Auch im nachexilischen Buch Jesus Sirach (Sir 34,1-7) ist eine Abkehr vom Glauben an Träume zu finden: "… Träume regen nur Törichte auf. Wie einer, der nach Schatten greift und dem Wind nachjagt, so ist einer, der sich auf Träume verlässt“.

Als schärfster Traumkritiker kann der Prophet Jeremia gelten, der gleich mehrfach vor falschen Visionen und Visionären warnt (Jer 23,25-32; 27,9f; 28,8f): "Ich habe gehört, was die Propheten reden, die in meinem Namen Lügen sagen und sprechen: Einen Traum habe ich gehabt, einen Traum. Wie lange noch? Haben sie denn wirklich etwas in sich, die Propheten, die Lügen weissagen und selbsterdachten Betrug?“ Auch beim Propheten Sacharja ist von falschen Wahrsagern die Rede, die "nichtige Träume verkündeten“ (Sach 10,2). Und im Buch Jesaja, derwirkmächtigsten prophetischen Schrift der Bibel, heißt es, dass eine Vision zuerst ein menschliches Fantasiegebilde ist (Jes 29,7f): "Wie wenn ein Hungriger träumt, dass er isst und immer noch hungrig ist, und wie wenn ein Durstiger träumt, dass er trinkt, dann aber aufwacht, und immer noch matt ist, so wird es dem Haufen der Völker gehen, die gegen den Berg Zion in den Krieg ziehen.“

So erweist sich die jüdische wie die christliche Bibel gleichermaßen als Buch der Träume wie als Darstellung von Visionskritik. Dass Vision und Illusion zwei Seiten einer Medaille sein können, wird hier wiederholt klar. Einmal mehr gilt es, eine Kunst der Unterscheidung der Geister zu entwickeln.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung