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Das Alte Testament und wir

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FRAGE: Das Weltbild, die Weltanschauung des Alten Testaments und deren Wirkung auf den Menschen unserer heutigen Industriegesellschaft: Was können Sie uns dazu sagen, Herr Professor?

ANTWORT: Wir können auf keinen Fall vom Alten Testament naturwissenschaftliche Auskünfte erwarten; etwa eine Art Realbericht über die Schöpfung und Menschwerdung. Grundsätzlich darf Weltbild und Weltanschauung nicht verwechselt werden. Das Weltbild bedeutet die Erklärung all dessen, was der Mensch wahrnimmt, ändert sich also mit jeder neuen Entdeckung. Weltanschauung gibt Antwort auf die letzten Fragen des Woher und Wohin der Welt und des Menschen; beides hat miteinander nichts zu tun, denn Vertreter des antiken Weltbildes ebenso wie des heutigen oder irgendeines zukünftigen Weltbildes konnten oder können eine theistische oder atheistische Weltanschauung vertreten. Daher ist es sinnlos, dem Alten Testament den Vorwurf zu machen, in ihm nicht das heutige Weltbild vorzufinden. Der inspirierte Verfasser konnte nur zu Fragen Stellung nehmen, die ihm bekannt waren, daher ist es sinnlos, etwa die Beschreibung der Erschaffung des Menschen (Gen. 2, 7) mit der Evolutionstheorie, die dem Verfasser unbekannt war, in Verbindung zu bringen.

FRAGE: Hat das Alte Testament irgendeinen profanwissenschaftlichen Wert?

ANTWORT: Das Alte Testament ist nach wie vor eine wesentliche Quelle für unsere Kenntnis der altorientalischen Geschichte. Durch die Erfindung der Schrift im 4. vorchristlichen Jahrtausend tauchten Mesopotamien, Palästina und Ägypten in das Licht der Geschichte,

während die übrige Erdoberfläche mit ihren Bewohnern weiterhin im Dunkel der Vorgeschichte blieb. Die Geschichtswissenschaft kann also nur im Orient beginnen, und für sie sind die sich ergänzenden Aussagen des Alten Testaments und der übrigen altorientalischen Geschichtsquellen von unschätzbarem Wert. Für die Semitistik sind die hebräischen Texte des Alten Testaments unentbehrlich, weil wir durch sie wesentliche Einblicke in die Entstehung und Verbreitung der semitischen Sprache erhalten. Das Abendland entstand durch eine Verbindung des Christentums mit der griechisch-römischen Kultur und ist ohne diese Grundlage unverständlich. Da aber das Christentum seinerseits auf dem Alten Testament aufbaut, ist ohne die Kenntnis des letzteren ein Verstehen und Begreifen der abendländischen Kunst, die zum Großteil religiösen Charakter hat, nicht möglich.

FRAGE: Welche theologische Aussagen hat das Alte Testament für den Christen? In welchem Zusammenhang stehen Altes und Neues Testament, Herr Professor?

ANTWORT: Im Alten und im Neuen Testament offenbart sich ein- und derselbe Gott, wodurch sich die Bibel wesentlich von jedem anderen Werk der menschlichen Literatur unterscheidet. Christus ist nicht gekommen, um Gesetz und Propheten aufzuheben, sondern zu erfüllen (Mt. 5, 17), daher bliebe jedes der beiden Testamente ohne das andere unverständlich. Das Alte Testament verweist auf einen Neuen Bund (Jer. 31, 31—40) und auf eine mes- sianische Zeit sowie auf eine mes- sianische Persönlichkeit, ist also ein Weg hin zu Christus. Das Neue Testament ist nur zu verstehen als

Erfüllung der alttestamentlichen Offenbarung. Die Formulierungen der neutestamentlichen Schriftsteller, insbesondere des heiligen Paulus, erfordern zu ihrem Verständnis die Kenntnis der alttestamentarischen Gedankenwelt. Der Offenbarungscharakter des Alten Testaments verlangt eine Glaubensentscheidung, nämlich, daß in diesen Texten Gott den einzelnen direkt mit seinen Forderungen anspricht. Dieser Offenbarungscharakter kann nicht durch eine naturwissenschaftliche Methode erwiesen werden, aber er drängt sich unwillkürlich überzeugend auf bei Betrachtung folgender Tatsache: Das alttesta- mentliche Volk war in sämtlichen Belangen der materiellen Kultur von den überragenden Leistungen seiner Umwelt abhängig. Nur auf dem religiös-sittlichen Gebiet stößt man auf Auffassungen, die sich im übrigen alten Orient nicht nachweisen lassen. Hierher gehört vor allem der monotheistische Gottesbegriff, die lineare Heilsgeschichte im Gegensatz zum mythologisch-zyklischen Denken der Umwelt, der Mensch als Ebenbild Gottes mit seiner wesentlichen Aufgabe, die Hoheitsansprüche Gottes in seiner Schöpfung zu wahren, der Heilsuniversalismus, nach dem alle Menschen und Völker zum Heil berufen sind (kein Barbarenprinzip!), mit den daraus folgenden Pflichten gegenüber dem sozial Schwachen ohne Rücksicht auf seine völkische Zugehörigkeit, und vor allem der Messiasbegriff. Die messianischen Aussagen sind durchgängig bipolar, das heißt, der Messias wird gleichzeitig „ganz oben“ und gleichzeitig „ganz unten“ gesehen. Diese bipolare Schau erfüllt sich für den Christen in der hypostatischen Union Christi: Christus ist gleichzeitig wahrer Mensch und wahrer Gott.

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