"Nicht du trägst die Wurzel"

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Christen sollten sich auf ihre jüdischen Wurzeln besinnen. Polemiken gegen Juden im Neuen Testament resultieren aus dem Trennungskonflikt zwischen christlichen Gemeinden und Synagoge. Christliche wie jüdische Sichtweise sind beide gültige Heilswege Gottes.

Einer im Christentum lange Zeit beheimateten Ansicht zufolge, galten die Juden als von Gott verfluchtes Volk, als Gottesmörder, die das Blut des Gottessohn Jesus Christus vergossen hätten. Die Fehlinterpretation der Worte "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder" (Mt 27,25) führte in der Geschichte des Christentums nicht selten zur Rechtfertigung von Judenpogromen und zur Ausbildung jenes christlichen Antijudaismus, der letztlich dem rassenfanatischen Antisemitismus das Terrain bereitete.

Doch in jüngeren Jahren haben immer wieder Theologen und Vertreter von Kirchenleitungen (nicht zuletzt Papst Johannes Paul II. selbst oder die Instructio der Päpstlichen Bibelkommission vom 14. 5. 2001: Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel, vgl. Furche 3/2003, Seite 9) die Bedeutung der jüdischen Abstammung Jesu herausgestrichen: Jesus war ein gläubiger Jude seiner Zeit, sein Anliegen war es nicht, eine völlig neue Religion zu gründen, sondern das jüdische Volk in ein vertieftes Verständnis des Alten Bundes zu führen.

Jüdisches bei Lukas

Der "Neue" Bund Jesu meint damit nicht die Auflösung des Alten, sondern die Er-Neuerung und universale Ausweitung des ewigen und einzigen Bundes zwischen Gott und seinem Volk. Interessanterweise führt gerade das Lukasevangelium seinen vorwiegend heidenchristlichen Lesern die bleibende Bedeutung der jüdischen Wurzeln für das Christentum vor Augen, wohl auch um urkirchliche Spannungen zwischen Juden- und Heidenchristen zu überbrücken.

Gerade der jüdischen Tempelfrömmigkeit kommt dabei eine herausragende Stellung zu: Zacharias, der Vater des Täufers, erhält beim Tempeldienst die Botschaft von der Geburt seines Sohnes (1,9); Jesus wird "gemäß dem Gesetz des Herrn" im Tempel "dargestellt" (2,22-24) und begegnet dort der Prophetin Hanna, die sich "beständig im Tempel aufhielt und Tag und Nacht Gott diente durch Fasten und Beten" (2,37).

Darüber hinaus pilgern auch die Eltern Jesu jährlich zum Paschafest nach Jerusalem und nehmen Jesus nach Erreichen der Volljährigkeit, also mit zwölf Jahren, "gemäß dem Festbrauch" mit (2,41-42). Der Zwölfjährige kehrt nicht mit seinen Eltern zurück, sondern verbleibt im Tempel: "Wusstet ihr nicht, das ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?" Ganz selbstverständlich kommt hier zum Ausdruck, dass auch für Jesus der Jerusalemer Tempel Wohnstätte seines himmlischen Vaters ist.

Der erwachsene Jesus bleibt diesem Wissen treu: Er geht bewusst nach Jerusalem, um in der Heiligen Stadt seine Botschaft zur Entscheidung zu führen: "Denn ein Prophet darf nirgendwo anders als in Jerusalem umkommen" (13,33). Nach Pfingsten zeichnet sich die Urkirche durch ihre Nähe zum jüdischen Tempelkult aus: "Tag für Tag verharrten sie einmütig im Tempel, brachen in ihren Häusern das Brot und hielten miteinander Mahl in Freude und Einfalt des Herzens" heißt es in Apg 2,46. Petrus und Johannes werden beim Beten im Tempel gezeigt (3,1) und verkündigen dort das Wort Gottes (5,20f.42).

Jesus: im Judentum verankert

Der Heidenapostel Paulus legt im Tempel sogar ein Gelübde ab (21,26). Die jüdischen Wurzeln bleiben für den Evangelisten Lukas unaufgebbarer Grundstock unseres Glaubens. Während die synoptischen Evangelien (Mk, Mt, Lk) für die Zeit des öffentlichen Wirkens Jesu allerdings nur von einem Gang nach Jerusalem berichten (dem Gang in Leiden und Tod), weiß das Johannesevangelium sogar von wiederholten Pilgerfahrten Jesu nach Jerusalem (Joh 2,13; 5,1; 7,25; 10,22; 12,12) zu berichten.

Das Matthäusevangelium hingegen betont die bleibende Gültigkeit des jüdischen Gesetzes: "Amen ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht der kleinste Buchstabe des (jüdischen) Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist." (5,18)

Alle frühchristlichen Quellen über Jesus sind sich also darin einig, dass Jesus in den religiösen Traditionen seines Volkes fest verankert war, auch er war "dem (jüdischen) Gesetz unterstellt", wie es Paulus im Galaterbrief 4,4 ausdrückt.

Christlich-jüdische Polemik

An dieser grundsätzlichen Haltung vermag auch die Polemik zwischen Juden und Christen nichts zu ändern. Auffallend ist hier, dass gerade in judenchristlichen Kreisen der Urkirche polemische Anmerkungen gegen das Judentum beheimatet waren. Die judenchristliche Gemeinde des Johannesevangeliums etwa leidet unter dem offensichtlich bereits erfolgten Ausschluss aus der jüdischen Synagogengemeinschaft (Joh 16,2). Dabei war zunächst nicht nur das Bekenntnis zu Jesus als Messias der eigentliche Knackpunkt, sondern auch der Stellenwert, den die frühen Christen der Beschneidung und den Reinheitsgeboten beimaßen. Schon bald ersetzte die christliche Taufe die jüdische Beschneidung und die Reinheitsgebote (Speisevorschriften ...) traten in den Hintergrund. Dadurch aber war der Verbleib in der jüdischen Kultgemeinschaft nicht mehr möglich.

Auch das Matthäusevangelium scheint kurz nach dem Bruch mit der Synagogengemeinschaft entstanden zu sein und ringt um die eigene Identität in Bewältigung der Trennung von der jüdischen Muttergemeinde. Vor diesem Konflikt wird der polemische Stil gegen die jüdischen Würdenträger leichter verständlich. Das kirchengeschichtlich so verhängnisvolle Blut Jesu, das die Juden des Matthäusevangeliums "über uns und unsere Kinder" (Mt 27,25) beschwören, meint freilich keine dogmatische Perpetuierung dieser Schuld bis zum Jüngsten Tag. Vielmehr bedient sich Matthäus hier des mahnenden Redestils alttestamentlicher Propheten, die ihren Glaubensgenossen stets in dick aufgetragenen Bildern die Schuld vor Augen führten und zur Umkehr aufriefen. In diesem Zusammenhang fällt bereits im Alten Testament (!) die Rede von einem "Neuen Bund" (Jer 31,31), den Gott mit seinem Volk schließen werde - gerade um die Schuld des Gottesvolkes zu tilgen, nicht um dieses zu verwerfen. Der "Neue Bund" meint somit nicht die Auflösung des "Alten", sondern dessen Erneuerung und Wiederbelebung.

"... sein Volk nicht verstoßen"

Deutlich wird so, dass neutestamentliche Polemik am Judentum nicht einer grundsätzlichen Ablehnung des Judentums entsprungen ist (und schon gar nicht fanatischem "Antisemitismus"), sondern dem Zwist zweier Brüder, die ums gemeinsame theologische Erbe ihrer Väter ringen. Der von Jesus vertretene Heilsuniversalismus führt in die Kirche aus Juden- und Heidenchristen, die strenge Treue zur Tora findet ihre Fortsetzung in der rabbinischen Synagogengemeinschaft. Beide Sichtweisen berufen sich zu Recht auf die Hebräische Bibel (das "Alte Testament"), die sie jedoch unterschiedlich interpretieren. Beide Sichtweisen bleiben gültige Heils- und Erlösungswege Gottes. "Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das er einst erwählt hat. Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt", schreibt Paulus im Römerbrief (11,2.29). Und weiter formuliert er für uns Christen: "Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel (das jüdische Volk) trägt dich." (11,17)

Der Autor ist Assistent für neutestamentliche Bibelwissenschaft an der Kath.-Theol. Fakultät in Wien.

Das Neue Testament

Der Kanon des Neuen Testaments besteht aus 27 Schriften. In der 2. Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr. entstanden zunächst die Paulusbriefe, dann die Evangelien. Jede christliche Gemeinde dürfte eine bestimmte Sammlung von Schriften, die im Gottesdienst gelesen wurden, zusammengestellt haben. Dazu gehörten Evangelientexte ebenso wie an die Gemeinde gerichtete Schreiben (etwa der Korintherbrief an die Gemeinde in Korinth). Solche Texte wurden zwischen den Gemeinden ausgetauscht: Durch derartige Weiterverbreitung begann der Prozess der Kanonbildung, der weitgehend im Dunkeln liegt: Welche Texte sollten allgemein gültig sein, welche nicht?

Um das Jahr 200 herrschte weitgehende Übereinstimmung über eine Liste von 20 neutestamentlichen Schriften, ab dem 4. Jahrhundert galt der Kanon aus 27 Schriften als allgemeines Fundament des christlichen Glaubens. Daneben gab es andere Texte über Jesus von Nazaret und seine Botschaft (Thomasevangelium, Protoevangelium des Jakob ...), die nicht in den Kanon aufgenommen wurden, sondern heute als "apokryphe Schriften" bezeichnet werden.

Das Neue Testament beginnt mit den 4 Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes, denen eine Vorrangstellung in der Verkündigung zukommt. Sie erzählen von Leben, Tod und Auferstehung Jesu. Das nächste Buch, die Apostelgeschichte, berichtet über die Ausbreitung der Botschaft Christi in den ersten Jahren. Dann folgen 14 Briefe von Paulus (oder ihm zugeschrieben); 7 "katholische" Briefe tragen die Apostelnamen Jakobus, Petrus, Johannes und Judas als Absender, den Abschluss bildet die Offenbarung des Johannes, das prophetische Buch des Neuen Testaments. ofri

BUCHTIPP: GRUNDKURS BIBEL - Neues Testament Von Walter Kirchschläger, Verlag Katholisches Bibelwerk/ Topos plus, Stuttgart/Kevelaer 2002, 128 Seiten, TB, e 8,20

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