Dabru emet - Sagt die Wahrheit

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Wortlaut der Stellungnahme jüdischer Gelehrter zu Christen und Christentum "Dabru emet".

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Wortlaut der Stellungnahme jüdischer Gelehrter zu Christen und Christentum "Dabru emet".

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In den vergangenen Jahren hat sich ein dramatischer und unvorhersehbarer Wandel in den christlich-jüdischen Beziehungen vollzogen. Während des fast zwei Jahrtausende andauernden jüdischen Exils haben Christen das Judentum zumeist als eine gescheiterte Religion oder bestenfalls als eine Vorläuferreligion charakterisiert, die dem Christentum den Weg bereitete und in ihm zur Erfüllung gekommen sei. In den Jahrzehnten nach dem Holocaust hat sich die Christenheit jedoch dramatisch verändert. Eine wachsende Zahl kirchlicher Gremien, unter ihnen sowohl römisch-katholische als auch protestantische, haben in öffentlichen Erklärungen ihre Reue über die Misshandlung von Juden und Judentum zum Ausdruck gebracht. Diese Erklärungen haben zudem verdeutlicht, wie christliche Lehre und Predigt reformiert werden können und müssen, um den unverändert gültigen Bund Gottes mit dem jüdischen Volk anzuerkennen und den Beitrag des Judentums zur Weltkultur und zum christlichen Glauben selbst zu würdigen.

Wir sind überzeugt, dass diese Veränderungen eine wohl bedachte jüdische Antwort verdienen. Als eine Gruppe jüdischer Gelehrter unterschiedlicher Strömungen - die nur für sich selbst spricht - ist es unsere Überzeugung, dass es für Juden an der Zeit ist, die christlichen Bemühungen um eine Würdigung des Judentums zur Kenntnis zu nehmen. Wir meinen, es ist für Juden an der Zeit, über das nachzudenken, was das Judentum heute zum Christentum zu sagen hat. Als einen ersten Schritt wollen wir in acht kurzen Punkten erläutern, auf welche Weise Juden und Christen miteinander in Beziehung stehen könnten.

1. Juden und Christen beten den gleichen Gott an. Vor dem Aufstieg des Christentums waren es allein die Juden, die den Gott Israels anbeteten. Aber auch Christen beten den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, den Schöpfer von Himmel und Erde, an. Wenngleich der christliche Glaube für Juden keine annehmbare Alternative darstellt, freuen wir uns als jüdische Theologen darüber, dass Abermillionen von Menschen durch das Christentum in eine Beziehung zum Gott Israels getreten sind.

2. Juden und Christen stützen sich auf das gleiche Buch - die Bibel. In ihm suchen wir nach religiöser Orientierung, spiritueller Bereicherung und Gemeinschaftssinn und ziehen aus ihm ähnliche Lehren: Gott schuf und erhält das Universum; Gott ging mit dem Volk Israel einen Bund ein und es ist Gottes Wort, das Israel zu einem Leben in Gerechtigkeit leitet; schließlich wird Gott Israel und die gesamte Welt erlösen. Gleichwohl interpretieren Juden und Christen die Bibel in vielen Punkten unterschiedlich. Diese Unterschiede müssen respektiert werden.

3. Christen respektieren den Anspruch des jüdischen Volkes auf das Land Israel. Für Juden stellt die Wiedererrichtung des Staates Israel im Gelobten Land das bedeutendste Ereignis seit dem Holocaust dar. Als Angehörige einer biblisch begründeten Religion sind Christen dafür dankbar, dass Israel den Juden als der leibhaftigen Verkörperung des Bundes zwischen ihnen und Gott versprochen und gegeben wurde. Viele Christen unterstützen den Staat Israel aus weit tiefer liegenden Gründen als nur solchen politischer Natur. Als Juden begrüßen wir diese Unterstützung. Darüber hinaus wissen wir, dass die jüdische Tradition allen Nicht-Juden, die im jüdischen Staat leben, Gerechtigkeit gebietet.

4. Juden und Christen anerkennen die moralischen Prinzipien der Tora. Im Zentrum der moralischen Prinzipien der Tora steht die unveräußerliche Heiligkeit und Würde eines jeden Menschen. Wir alle wurden nach dem Bilde Gottes geschaffen. Diese uns gemeinsame moralische Haltung kann die Grundlage für ein verbessertes Verhältnis zwischen unseren beiden Gemeinschaften sein. Darüber hinaus kann es auch zur Grundlage eines kraftvollen Zeugnisses für die gesamte Menschheit werden, das der Verbesserung des Lebens unserer Mitmenschen dient und sich gegen Unmoral und Götzendienst richtet, die uns verletzen und entwürdigen. Ein solches Zeugnis ist insbesondere nach den beispiellosen Schrecken des vergangenen Jahrhunderts dringend von Nöten.

5. Der Nazismus war kein christliches Phänomen. Ohne die lange Geschichte christlichen Antijudaismus und christlicher Gewalt gegen Juden hätte die nationalsozialistische Ideologie jedoch keinen Bestand finden und nicht verwirklicht werden können. Zu viele Christen waren an den Grausamkeiten der Nazis gegen die Juden beteiligt oder billigten sie. Andere Christen wiederum protestierten nicht genügend gegen diese Grausamkeiten. Dennoch war der Nationalsozialismus selbst kein zwangsläufiges Produkt des Christentums. Wäre den Nationalsozialisten die Vernichtung der Juden in vollem Umfang gelungen, hätte sich ihre mörderische Raserei weitaus unmittelbarer gegen die Christen gerichtet. Mit Dankbarkeit gedenken wir jener Christen, die während der nationalsozialistischen Herrschaft ihr Leben riskiert oder geopfert haben, um Juden zu retten. Eingedenk dieser Christen fordern wir die Fortsetzung der jüngsten Anstrengungen in der christlichen Theologie, die Verachtung des Judentums und des jüdischen Volkes eindeutig zurückzuweisen. Wir preisen jene Christen, die diese Lehre der Verachtung ablehnen und klagen sie nicht auf Grund der Sünden ihrer Vorfahren an.

6. Der nach menschlichem Ermessen unüberwindbare Unterschied zwischen Juden und Christen wird nicht eher ausgeräumt werden, bis Gott die gesamte Welt erlöst haben wird, wie es die Schriften prophezeien. Christen wissen von Gott und dienen ihm durch Jesus Christus und die christliche Tradition. Juden wissen und dienen Gott durch die Tora und die jüdische Tradition. Dieser Unterschied wird weder dadurch aufgelöst, dass eine der Gemeinschaften darauf besteht, die Schrift zutreffender auszulegen als die jeweils andere, noch dadurch, dass eine Gemeinschaft politische Macht über die andere ausübt. So wie Juden die Treue der Christen gegenüber ihrer Offenbarung anerkennen, so erwarten auch wir von Christen, dass sie unsere Treue unserer Offenbarung gegenüber respektieren. Weder Jude noch Christ sollten dazu genötigt werden, die Lehre der jeweils anderen Gemeinschaft anzunehmen.

7. Ein erneuertes Verhältnis zwischen Juden und Christen wird die jüdische Praxis nicht schwächen. Ein verbessertes Verhältnis wird die von Juden zu Recht befürchtete kulturelle und religiöse Assimilation nicht beschleunigen. Es wird weder die traditionellen jüdischen Formen der Anbetung verändern, noch wird es interreligiöse Ehen zwischen Juden und Nicht-Juden fördern, noch wird es Juden vermehrt dazu bewegen, zum Christentum überzutreten, und auch nicht zu einer unangebrachten Vermischung von Judentum und Christentum fuhren. Wir anerkennen das Christentum als einen Glauben, der dem Judentum entsprungen ist und nach wie vor über wichtige Kontakte zu ihm verfügt. Wir betrachten das Christentum nicht als eine Erweiterung des Judentums. Nur wenn wir unsere eigenen Traditionen pflegen, können wir an unserer Beziehung zueinander in Aufrichtigkeit festhalten.

8. Juden und Christen müssen sich gemeinsam für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen. Juden und Christen erkennen, ein jeder auf seine Weise, die Unerlöstheit der Welt, wie sie sich in andauernder Verfolgung, Armut, menschlicher Entwürdigung und Not manifestiert. Obgleich Gerechtigkeit und Frieden letztlich in Gottes Hand liegen, werden unsere gemeinsamen Anstrengungen zusammen mit denen anderer Glaubensgemeinschaften helfen, das Königreich Gottes, auf das wir hoffen, und nach dem wir uns sehnen, herbeizufuhren. Getrennt und vereint müssen wir daran arbeiten, dass Gerechtigkeit und Frieden in unsere Welt einziehen. Die Vision der Propheten Israels ist uns dabei das gemeinsame Leitbild: "Am Ende der Tage wird es geschehen: Der Berg mit dem Haus des Herrn steht fest gegründet als höchster der Berge, er überragt alle Hügel. Zu ihm strömen alle Völker. Viele Nationen machen sich auf den Weg; sie sagen: ,Kommt wir ziehen hinauf zum Berg des Herrn und zum Hause des Gottes Jakobs.' Er zeige uns seine Wege, auf seinen Pfaden wollen wir gehen." (Jes 2,2-3) Tikva Frymer-Kensky/University of Chicago, David Novak/University of Toronto, Peter Ochs/University of Virginia, Michael Signer/University of Notre Dame und weitere 217 Unterzeichner.

Thema: 221 jüdische Rabbiner und Gelehrte, vor allem aus den USA, haben bis 24. Jänner 2001 das Dokument" "Dabru emet" ("Sagt die Wahrheit") unterzeichnet, das im Herbst 1999 in großen überregionalen Zeitungen der Vereinigten Staaten erschienen ist. Der Text ist eine Einladung an Juden und Christen, in ihren gegenseitigen Beziehungen eine neue Phase zu beginnen. Initiiert wurde die Erklärung vom "Institute for Christian and Jewish Studies" (ICJS) in Baltimore, das seit seiner Gründung im Jahr 1987 Bildungsprogramme organisiert, die die jüdische und die christliche Tradition darstellen und Missverständnisse zwischen beiden Seiten abbauen sollen. Die furche dokumentiert den Wortlaut der Erklärung, die eine Positionsbestimmung von jüdischer Seite dem Christentum gegenüber darstellt.

Buchtipps Christen und Juden gemeinsam ins dritte Jahrtausend. "Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung."

Hg. von Hubert Frankemölle. Bonifatius Verlag/Verlag Otto Lembeck, Paderborn/Frankfurt am Main 2001. 312 Seiten, kt. öS 218,-/e 15,84 "Ihr Heiden, freut euch mit Seinem Volk!" Arbeitsheft zum christlich-jüdischen Dialog Hg. vom Koordinierungsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit (Beiträge von Gerhard Bodendorfer, Helmut Krätzl, Christine Gleixner, Kurt Schubert u.a.), Wien 2001. 36 Seiten, kt. öS 40,-/e 2,91. Zu bestellen bei: Christlich-jüdisches Informationszentrum, 1180 Wien, Gentzgasse 14/5/1, Tel. & Fax: 01/4797376, www.jcrelations.net/cjoesterreich

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