"In der Geschichte BEISPIELLOS"

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Früher suchte die Kirche jedes Gespräch zwischen Katholiken und Juden zu verhindern, meint Philip Cunningham. Doch dann kam "Nostra Aetate".

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Früher suchte die Kirche jedes Gespräch zwischen Katholiken und Juden zu verhindern, meint Philip Cunningham. Doch dann kam "Nostra Aetate".

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Philip Cunnigham, Theologe und Direktor des Instituts für katholisch-jüdische Beziehungen an der St. Joseph' s University in Philadelphia, ist Präsident des "Internationalen Rates der Christen und Juden" (www. iccj. org), der Dachorganisation von weltweit 40 nationalen christlich-jüdischen und interreligiösen Dialogvereinigungen.

DIE FURCHE: Welche Bedeutung hat "Nostra Aetate" heute?

Philip Cunningham: Die Erklärung markierte den Wendepunkt im katholischen Verständnis, nicht nur des Judentums. Das katholische Empfinden vor und nach Nostra Aetate unterscheidet sich wie Nacht und Tag. Vor Nostra Aetate sagte man: Die Kirche muss immer auf der Hut vor den Juden sein. Und von daher suchte man jedes Gespräch zwischen Katholiken und Juden zu verhindern. In diesem Sinn war Nostra Aetate eine 180-Grad-Kehrtwendung im Verhalten der katholischen Kirche. Diese Erklärung stellt also eine enorme Wandlung im Verständnis dar, die in der Geschichte beispiellos ist.

DIE FURCHE: Ist diese Wandlung auch an die Basis der katholischen Welt vorgedrungen?

Cunningham: Wenn Sie einen Katholiken fragen, was Nostra Aetate bedeutet, so kennt er das Dokument vielleicht nicht. Aber wenn Sie heute einen einigermaßen kundigen Katholiken nach der Einstellung gegenüber Juden fragen, dann werden Sie vermutlich eine positive Antwort erhalten. Ich bin nicht so sicher, ob das vor 100 Jahren schon so war. Vielleicht ist das unbewusst geschehen, etwa dass viele Menschen dafür sensibilisiert wurden, was Papst Johannes Paul II. an der Klagemauer oder Benedikt XVI. oder Franziskus in Israel gesagt haben. Das kommuniziert, dass es sich zwischen Christen und Juden um eine familiäre Beziehung handelt - und nicht um etwas Fremdes oder etwas, was von Argwohn getragen wird.

DIE FURCHE: Aber gerade im letzten Jahrzehnt gab es Rückschläge - etwa 2008 die neue Fürbitte für den vorkonziliaren Messritus, die Benedikt XVI. formuliert hatte

Cunningham: Ich denke, es ist Work in progress. Die Geschichte der letzten 50 Jahre ist eine schrittweise Vertiefung der Beziehungen, und da gibt es auch Rückschritte. Es geht um Dialog und Freundschaft, darum, Gefährten auf einer gemeinsamen Reise zu sein. Bei einigen theologischen Fragen ist die nötige Tiefe schon erreicht, sodass betroffene katholische Theologen nicht arbeiten können, ohne sich mit dem Judentum auseinanderzusetzen: Das verlangt gegenseitige Interaktion - und das ist wunderbar: Wann in den letzten 2000 Jahren hat es diese Ebene des Gesprächs gegeben?

DIE FURCHE: Man hört von jüdischer Seite oft, man müsse einen Modus vivendi für beide Religionen entwickeln, aber da ist kein Interesse an einem theologischen Dialog.

Cunningham: Es gibt diese Position. Der bekannte orthodoxe US-Rabbiner Joseph Soloveitchik (1903-93) schrieb im Erscheinungsjahr von Nostra Aetate, Juden könnten sich mit Christen über nichtreligiöse Themen verständigen, aber in der Theologie hätten sie einander nichts zu sagen. Soloveitchik begründetet dies damit, dass die Gemeinschaft der Wenigen nicht auf gleicher Augenhöhe der Gemeinschaft der Vielen entgegentreten kann. Und er war überzeugt, dass die christliche Mehrheit prinzipiell auf Proselytismus aus war. Warum sollten die Juden unter diesen Umständen einen theologischen Kontakt suchen? Natürlich muss man diese Position aus seiner Zeit heraus verstehen. Mittlerweile führen Juden und Christen in vielen Ländern äußerst sinnvolle Gespräche. Aber ich betone, dass das nicht immer funktioniert. Und die Christen sind nicht in der Position, von den Juden zu verlangen, sich auf diese Art des Gesprächs einzulassen.

DIE FURCHE: Es gab von jüdischer Seite immerhin das Dokument "Dabru emet" von jüdischen Gelehrten aus 2000, das aufs Gespräch mit Christen Bezug nimmt. Cunningham: Dabru emet war die wesentlichste jüdische Reaktion auf die Entwicklungen in Katholizismus und anderen christlichen Traditionen. Es spricht nicht für die ganze jüdische Welt. Es war dennoch eine klare Botschaft an ein jüdisches Publikum, zur Kenntnis zu nehmen, dass sich im Christentum einiges verändert hat. DIE FURCHE: Ein Thema, auf das auch "Dabru emet" größten Wert legt, ist die Erinnerung an die Schoa. Diese Erinnerung ist für die jüdische Seite Voraussetzung für den Dialog.

Cunningham: Der Umbruch, der zu Nostra Aetate geführt hat, wurde durch die Schoa beschleunigt: Die christliche Welt wurde dadurch gezwungen, sich mit bestimmten Fragen auseinanderzusetzen, in der katholischen Kirche ist das am sichtbarsten beim Konzil geschehen. Ich fühle mich in den Aussagen von Papst Johannes Paul II. sehr zu Hause, die er etwa in der Schoa-Gedenkstätte in Jerusalem äußerte, nämlich, dass die christliche Verantwortung für das, was zum Holocaust führte, zu einer dauernden Haltung der Reue und Umkehr in uns führen sollte. Aber er wandte sich auch gegen ein selbstquälerischen Denken, das in Lähmung mündet. Denn man kann keine Beziehung zu einem Freund aufbauen, wenn man immerfort die Verwundungen, die in der Vergangenheit zugefügt wurden, vor Augen hat. DIE FURCHE: In bestimmten Abschnitten der Evangelien werden die Juden immer wieder angeprangert: Kann man nach der Schoa diese Stellen noch genauso wie davor lesen?

Cunningham: Natürlich nicht! In der katholischen Kirche müssen wir etwa die Art und Weise überdenken, wie wir in der Liturgie die Passion Christi lesen. Es gibt keinen liturgischen Grund, warum wir nicht Exzerpte daraus nehmen - wie wir das bei vielen Tageslesungen im liturgischen Kalender machen. Der Grund für dieses "Exzerpieren" ist ein pastoraler - um etwas leichter verständlich zu machen. So gibt es etwa keinen Grund, am fünften Fastensonntag den missverständlichen Satz in Matthäus 27,25 zu lesen, wo die Menge über Jesus schreit: "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!" Dieser Satz hat keinerlei kirchlichen Nutzen! Man kann eine Gottesdienstgemeinde heute nicht mehr mit derartigen Unterstellungen den Juden gegenüber behelligen. Das wäre eine Konsequenz, die nach dem Holocaust zu ziehen wäre. Man könnte das leicht ändern.

Das Gespräch führte Otto Friedrich

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