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Judenfrage — eine Christenfrage

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Im Anfange des Anfanges eines christlich-jüdischen Gesprächs erscheinen gegenwärtig zahlreiche Bücher. Soeben hat der Herder-Verlag eine deutsche Ausgabe des bedeutsamen Werkes von Pinchas E. Lapide „Rom und die Juden“ herausgebracht.

Dieses Buch ist von der kirchlichen Presse, einschließlich des „Osserva-tore Romano“ mit Lob bedacht worden. Mit Recht: Der Jude Lapide gibt hier eine ausführliche, auf zumeist jüdischen Forschungen der allerletzten Jahre basierende Darstellung heldenhafter Anstrengungen, die katholische Klöster, Nonnen und Mönche, einfache Priester und Laien unternommen haben, um im Feuersturm der Vernichtung in den Jahren 1939 bis 1945 jüdische Menschen zu retten. Ein wahres, ein wahrhaftiges Heldenlied des „einfachen Mannes“ in der Kirche wird hier laut.

Pinchas Lapide schildert die groß gearteten Bemühungen französischer Bischöfe, wie Theas, Saliege und des Kardinals Gerlier, die Tapferkeit vorzüglich eines holländischen Episkopats, die Juden in ihrem Lande zu schützen, und behandelt ausführlich die Anstrengungen des Papstes Pius XII., Juden zu helfen: Durch finanzielle Zuwendungen, durch Fluchtbeihilfe, durch Einwirkung auf die Nuntien, vorzüglich in der Slowakei, in Ungarn, Rumänien, Bulgarien. Der jüdische Dank an Pius XII. wird in einem reich abgestimmten Chor vorgestellt.

Lapide errechnet eine Zahl von 700.000 oder 800.000 Juden, deren Rettung durch die katholische Kirche unter Pius XII. ermöglicht wurde. Diese Rechnung sieht allerdings so aus (S. 359): Die Gesamtzahl der in dem von Hitler besetzten Europa überlebenden Juden beträgt über eine Million. Von dieser Zahl zieht Lapide eine runde Summe ab, die er Rettungsaktionen durch protestantische Kirchen, orthodoxe Kirchen, Kommunisten, Agnostiker usw. zuschreibt. Die verbleibende Zahl von Juden ergibt mindestens 700.000 Seelen, „wahrscheinlich liegt sie jedoch näher dem Maximum von 800.000“: das sind die Juden, „zu deren Rettung die katholische Kirche beigetragen hat...“

Warum wurden 6 Millionen ermordet?

Bleibt die gravis quaestio, die Frage: Warum wurden sechs Millionen ermordet, darunter mehr als ,600.000 jüdische Kinder? Lapide: „Das Hitlertum war die Nemesis für das Christentum, weil dieses seine jüdischen Wurzeln abgeschnitten hatte“ (344). Auschwitz basiert auf „dem tausendjährigen Antisemitismus der Christen“ (247). „Der 261. Papst war schließlich nur der erste der Katholiken, Erbe vieler Vorurteile von seinen Vorgängern und vieler Mängel seiner nahezu 500 Millionen Gläubigen“ (246). Eineinhalb Jahrtausende machte das Christentum „den Juden mm Prügelknaben seines kosmischen Dramas“ (10).

Hitler plagiiert 1938 den theologischen Antisemitismus des großen Papstes Gelasius (492 bis 496). „Die drastischste Beschneidung der jüdischen Rechte nahm das vierte Laterankonzil im Jahre 1215 unter Papst Innozenz III. vor. Zwischen den antijüdischen Gesetzen, die vor 750 Jahren von der Kirche aufgestellt wurden, und den Nürnberger Gesetzen des Jahres 1935 sowie der drauf-

folgenden nationalsozialistischen Gesetzgebung besteht eine auffallende Ähnlichkeit, mögen auch die Motive in beiden Fällen verschieden sein.“ Also: Sondersteuern auf alles jüdische Eigentum, Verbot der Ehe, Brandmarkung der Juden durch ein untarschpirlendes Gewand oder Ab-

zeichen ... (12). Eine tausendjährige Predigt macht die Juden „zum idealen Sündenbock für die Leidenschaften des Volkes und der Fürsten“. Die Päpste schützen die Juden an Leib und Leben, halten sie sich als „unsere Sklaven“; mörderische römische Karnevalssitten halten sich bis 1848. Das „Hep“ der Kreuzfahrer („hep“ ist Abkürzung für „Hierosolymaa est perdita“, Jerusalem ist verloren!) wurde „zum Signalruf für Judenpogrome von ihrer Zeit bis zu der Hitlers“ (21). Das .tödliche Erbe der Kirchenväter bereitet das Klima vor,

das auf Auschwitz zuführt (25 ff.). In den zahlreichen Schutzbullen und Schutzbriefen von Päpsten für Juden wird immer nur die offene Gewalt, „nicht jedoch eine tief eingewurzelte Feindseligkeit, die diese Gewalt unvermeidlich machte“, verurteilt. „Ein einziger päpstlicher Erlaß, der den Christen erklärt hätte, daß das jüdische Gebot, daß Christus seine Jünger lehrte: .Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!' auch den Juden gegenüber gelten müsse, wäre heilsamer gewesen, als lange Listen von Verboten und Beschränkungen. Doch ein so einfacher christlicher Brief aus Rom kam nie“ (28).

Bis hoch ins 19. Jahrhundert gilt dies: „Rom und der Kirchenstaat... blieben das letzte Bollwerk der Judenunterdrückung.“ Als der Kirchenstaat und damit das letzte Getto für die Juden 1870/71 fallen, übernimmt vor allem die Jesuitenzeitschrift „La Civiltä Cattolica“, die dem Vatikan nahe steht, die Aufgabe, den älteren kirchlichen Antisemitismus politisch auszumünzen für den Gebrauch der Katholiken: Die Juden, diese „widerliche Rasse“, sind ein Feind der Völker, in deren Mitte sie wohnen. Die einzige Lösung des Judenproblems sei „die Aufhebung ihrer bürgerlichen Gleichberechtigung“ durch ihre völlige Absonderung von der übrigen Bevölkerung in allen Lebenssphären, durch die Beschlagnahme ihres Eigentums und

durch ihre „Rückgabe der weltlichen Herrschaft an den heiligen Thron des Papsttums“. Die von den Nationalsozialisten viel und gern zitierte „Civiltä Cattolica“ hält 1881/82 fest: „Jedes Jahr kreuzigen die Hebräer ein Kind ... Damit das Blut wirksam ist. muß das Kind unter Qualen ster-

ben.“ Lapide erinnert in diesem Zusammenhang (33 f.): Hitler liest 1909 in Wien erstmals antisemitische Broschüren. „Da die — wütend-antisemitische — Christlich-soziale Partei in Wien mehrere dieser jesuitischen Artikel im Jahre 1907 übersetzen und drucken ließ, könnte Hitler einige seiner Vorstellungen unmittelbar von der .Civiltä Cattolica' erhalten haben. Der ,Stürmer', Hitlers berüchtigtes Hetzblatt, widmet dem Jüdischen Ritualmord' im Jahr 1936 eine Sonderausgabe, die Juden zeigt, wie sie christlichen Kindern das Blut

aussaugen — daneben ausführliche Zitate aus besagter Zeitschrift.“

Dieser kirchliche Antisemitismus ist nach. 1945 in keiner Weise gebrochen. Lapide zitiert die „Civiltä Cattolica' von 1948, die, wie damals nahezu die ganze vatikanische Politik proarabisch und antijüdisch, das tausendjährige Motiv „die Juden vergiften die Brunnen“ wieder aufnimmt: Die Juden vergiften die Brunnen der Araber mit Bazillen und Bakterien (264). Schon 1922 hatte der „Osservatore Romano“ zur Bil-

dung einer „katholischen Internationale“ gegen das „bolschewistische Judentum im Heiligen Lande“ aufgerufen (254). 1949 erklärt das offizielle Bulletin des französischen Katholizismus „La Documentation catholique“: „Der Zionismus ist ein neuer Nazismus.“* „Inmitten semitischer Unordnung und dem arroganten Uberschwang triumphierender Rache werden Schocktrüppen und Mörder ohne Skrupel geschaffen.“ „Nur feste und entschlossene Opposition kann Israel aus seinem Delirium wecken und die Errichtung toleranter gegenseitiger Beziehungen ermöglichen. Unserer Ansicht nach ist es lediglich christliche Liebe, den Wahnsinnigen in seiner Wut zu binden“ (269).

Untersuchungen in Frankreich, Brasilien, USA, zeigen, daß 1952 der kirchliche Antisemitismus in Katechismus, Predigt, in zweitausend-undachtzig untersuchten Büchern, sieben Jahre nach Auschwitz, blüht wie eh und je. Israel existiert 1958 nicht im päpstlichen Jahrbuch (287 f. bzw. 284). Das wahrhaft mörderische Buch „Verschwörung gegen die Kirche“, das allen Vätern des Zweiten Vatikanischen Konzils überreicht wird, wird durch vatikanische Kreise subventioniert (334 f.).

Das „Judenschema“ des Zweiten Vatikanischen Konzils ist zu dürftig und kommt viel zu spät: Immerhin — „Wie viele Kinder Israels hätten gerettet werden können, wenn dieses Dekret im Jahre 1935 statt 1965 promulgiert worden wäre?“ (339).

Lapide sieht den engen Zusammenhang eines kirchlichen Antisemitismus mit den Ereignissen von 1933 bis 1945 in Deutschland und Polen: Polen erschien nicht zuletzt durch seinen kirchlichen Antisemitismus als geeigneter Ort für die Endlösung. „Alles, was Kardinal Sapieha, der Erzbischof von Krakau, über diese Angelegenheit Hans Frank, dem deutschen Generalgouverneur zu sagen hatte, war eine Beschwerde über die sittliche Korruption, die die Ausmordung der Juden unter den jungen Polen hervorrufe, die das Gemetzel ausführen mußten: ,Ich werde mich nicht näher über eine so furchtbare Tatsache auslassen, wie es die Verwendung betrunkener Jungen vom Polnischen Baudienst für i die Vernichtung der Juden ist', lautete der entsetzlich zweideutige Satz in seinem Protest vom 8. November 1942“ (149).

„Der geistige Köllektivzustand des deutschen Katholizismus“ (217 ff.) erleichtert „den erfolgreichen Versuch der deutschen Kirche, mit der antisemitischen Flut zu schwimmen.“ Hierüber ließe sich ein eigenes Schwarzbuch schreiben (219). Der Geist der deutschen Kirchenpresse gleicht 1965 dem von damals... (220).

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