Judenbuch_Scheffstraße - © Foto: Österr. Staatsarchiv/FHKA AHK VDA Urbare 1067B, fol 109a

600 Jahre Wiener Gesera: Judenvernichtung lang vor der Schoa

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Vor 600 Jahren befahl Albrecht V. die Vertreibung der Juden aus Wien und dem Herzogtum unter der Enns, 200 wurden vor der Stadt verbrannt. Die Wiener Gesera 1420/21 erinnert.

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Vor 600 Jahren befahl Albrecht V. die Vertreibung der Juden aus Wien und dem Herzogtum unter der Enns, 200 wurden vor der Stadt verbrannt. Die Wiener Gesera 1420/21 erinnert.

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„So erhob sich 1421 die Flamme des Hasses, wütete durch die ganze Stadt und sühnte die furchtbaren Verbrechen der Hebräerhunde. (Sic flamma assurgens totam furibunda per urbem 1421 Hebraeum purgat crimina saeva canum.)“ Dieser hasserfüllte Satz findet sich nicht etwa in einem mittelalterlichen judenfeindlichen Traktat, der nur Gelehrten zugänglich ist. Er ist Teil der Inschrift eines spätgotischen Reliefs am Haus Jordangasse 2/ Judenplatz 2 im 1. Wiener Gemeindebezirk (Abb. unten).

Einem unwissenden Passanten erschließt er sich allerdings nicht – die Tafel hängt in großer Höhe, das Relief zeigt ohne Bezug zum Textinhalt die Taufe Jesu im Jordan und das mittellateinische Versmaß ist nur Spezialisten geläufig. Um das Jahr 1500 vom Besitzer des Hauses, dem christlichen Bürger Georg Jordan, angebracht, hängt sie aber doch im öffentlichen Raum der Stadt Wien, am Judenplatz, und ist eines der wenigen Zeugnisse für die sogenannte Wiener Gesera (hebr.: Verhängnis), die Vertreibung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung von Wien und Niederösterreich zwischen Mai 1420 und 12. März 1421.

Die Aufklärungsarbeit von Thomas Frankl, Sohn des Malers, Grafikers und Auschwitz-Überlebenden Adolf Frankl, der im selben Haus die Galerie „Art Forum“ betrieb und Informationsblätter bereitstellte, wurde mit der Schließung der Galerie im Oktober 2017 eingestellt.

Kein Ghetto

Nachweislich seit dem Ende des 12. Jahrhunderts lebten Jüdinnen und Juden in Wien und bereits 1196 berichten die Quellen von einem Gewaltereignis: Ortsfremde Ritter, eventuell versprengte Kreuzfahrer, ermordeten den herzoglichen Münzmeister Schlom und 15 Personen seines Haushalts. Trotz dieses brutalen Beginns war das jüdische Leben in Wien nicht von Verfolgungen geprägt.

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Analog zu den Berufsgruppen lebte die jüdische Bevölkerung in einem eigenen Viertel am und um den heutigen Judenplatz mit allen für die Religionsausübung nötigen Einrichtungen, in enger Nachbarschaft mit den Christen und keineswegs in einem Ghetto (Abb. unten). Die zwischen Nachbarn üblichen Konflikte wie Geruchs- und Lärmbelästigung wurden in fairen Prozessen vor dem Wiener Stadtgericht gelöst. Von den Pogromen infolge von Beschuldigungen der Hostienschändung in Niederösterreich 1305 und 1338 blieb die Wiener Gemeinde verschont. Auch während der Pestpogrome 1348/49, die einen großen Teil der deutschen jüdischen Gemeinden auslöschten, war der Schutz der Habsburger Landesfürsten wirksam. Im Gegenteil, Wien wurde gemeinsam mit der (Wiener) Neustadt und Krems zu einem Zentrum der jüdischen Gelehrsamkeit, das für den Wiederaufbau der jüdischen Gemeinden in Deutschland eine exzellent ausgebildete Generation von Rabbinern hervorbrachte.

Die Wiener Gesera ist im Kontext einer umfassenden politischen, religiösen, finanziellen und auch persönlichen Krise zu sehen. Seit 1409 erschütterte das päpstliche Schisma die Kirche. Mit der Verbrennung von Jan Hus am Konzil von Konstanz 1415 hatten sich seine Anhänger auch militärisch radikalisiert, zu ihrer Niederwerfung ließ Papst Martin V. am 17. März 1420 einen Kreuzzug ausrufen. König Sigismund von Luxemburg machte die versprochene Heirat seiner Tochter Elisabeth mit Herzog Albrecht V. von dessen führender Unterstützung im Kampf gegen die Hussiten abhängig. Sowohl die Kriegskosten als auch die Verpflichtungen im Verlobungsvertrag brachten den erst 23-jährigen Albrecht unter enormen finanziellen Druck.

Die Steine der zerstörten Synagoge wurden für ein neues Gebäude der Universität verwendet.

Am 23. Mai 1420 ließ der Herzog die jüdische Bevölkerung des Herzogtums unter der Enns (heute Wien und Teile Niederösterreichs) gefangen nehmen, ihre Besitztümer beschlagnahmen und sie unter Todesdrohung zur Taufe nötigen. Einen Monat später setzte man etwa 800 mittellose Jüdinnen und Juden in ruderlosen Booten auf der Donau aus. Die meisten fanden Aufnahme in Ungarn, viele gelangten auch nach Mähren und Böhmen. Nach der Rückkehr Albrechts V. aus dem ersten, gescheiterten Hussitenkreuzzug wurden die weiterhin gefangenen wohlhabenden Männer und Frauen schwerer Folter ausgesetzt, damit sie die Verstecke ihrer Schätze verraten und die Taufe annehmen sollten, wie sowohl der jiddische Text Winer gesere als auch der Theologe Thomas Ebendorfer berichtet. Seine Chronica Austriae erwähnt auch, dass sich einige ältere Menschen selbst den Tod gegeben hätten, um der Taufe zu entgehen.

Die Winer gesere hingegen schildert in allen Einzelheiten den rituellen Selbstmord le-kiddusch ha-Schem (hebr.: zur Heiligung des göttlichen Namens) einer größeren Gruppe in der Synagoge. Während dieser Text als Faktenbericht nicht verlässlich ist, wird die Verbrennung von mindestens 200 Jüdinnen und Juden am 12. März 1421 auf der Gänseweide (heute Wien 3, Weißgerberlände/Kegelgasse) sowohl durch jüdische als auch christliche Quellen bezeugt. Detailliert und noch heute berührend wird beschrieben, mit welcher Glaubensstärke sich vor allem die Frauen dem Feuertod hingaben und mit welcher Gier die christlichen Schaulustigen in der Asche nach Silber und Gold suchten.

„Kalt organisierter Justizmord“

Laut Winer gesere wurde dieser „kalt organisierte Justizmord“, so der israelische Historiker mit Wiener Wurzeln Michael Toch, mit der Kollaboration der Juden mit dem hussitischen Feind begründet, was allerdings mit Vertreibung und nicht mit Hinrichtung zu ahnden gewesen wäre. Als Rechtfertigung für den Scheiterhaufen, der klassischen Todesstrafe für Ketzer, wurde von Albrecht V. eine angeblich Jahre zurückliegende und erstaunlicher Weise bis dahin nicht bekannte Hostienschändung in Enns nachgereicht. Die Häuser der entvölkerten Judenstadt – darunter auch Judenplatz 2 – wurden verkauft oder an Günstlinge des Herzogs verschenkt. Die Steine der zerstörten Synagoge wurden für ein neues Gebäude der Universität verwendet.

Diese bauliche „Konversion“ kommentierte die katholische Fakultät in ihren Akten zum 22. Dezember 1421 mit höhnischen Worten: Et, ecce mirum, Synagoga veteris legis in scholam virtutum nove legis mirabiliter transmutatur („Und, seht das Wunder, die Synagoge des alten Gesetzes wurde auf wunderbare Weise in eine Schule der Tugenden des neuen Gesetzes umgewandelt“). Der Vertreibung und Ermordung folgte ein „ewiges“ Ansiedlungsverbot, das in Wien etwa 150 Jahre Bestand hatte.

Die Motive Herzog Albrechts V. für diese selbst für das Mittelalter ungewöhnlich grausame Tat wurden und werden in der Fachwelt kontrovers diskutiert. Tatsächlich ist die Wiener Gesera die erste Judenverfolgung in Österreich, die nicht von einem christlichen „Mob“ oder lokalen Interessensgruppen, sondern von einem Landesfürsten initiiert wurde – eine radikale Abkehr der bisherigen Politik. Auch der unbestritten hohe finanzielle Gewinn aus der Gefangennahme und Folter ist als Motiv nicht ganz nachvollziehbar – warum sollte man eine verlässlich sprudelnde Finanzquelle brutal zum Versiegen bringen? Man hätte die bereits mehrmals be­währte Methode der „außerordentlichen Besteuerung“ durch Gefangennahme und Erpressung beibehalten können.

Zwar hatte Albrecht V. durch seine Heirats-­ und Kriegskosten einen besonders hohen Finanz­ bedarf, doch kann wegen der genau für die relevanten Jahre fehlenden Rechnungsbücher der tatsächliche Gewinn aus der Gesera nicht beziffert werden. Es bleibt der Zweifel, ob die finanzielle Notlage eine derart kurzsichtige Handlung begründete.

Ein Gewaltgeschehen ist immer multikausal, und auch hier wirkten, wie eingangs erwähnt, wirtschaftliche, soziale, politische und religiöse Gründe ineinander. Die Zeit der Notwendigkeit hoher Darlehen für den Gewinn und Ausbau politischer Macht war vorbei, jüdische Geldleihe war nicht mehr unentbehrlich. Neue theologische Konzepte, bei denen die Wiener Universität federführend war, hielten Zwangstaufen für eine legitime Möglichkeit, christlichen Glauben und Erkenntnis auch im Nachhinein, ohne vorherige Überzeugung, zu wecken. Und die Hussitenaufstände führten, ein Topos bei derartigen Bedrohungen, zur auch in der Winer gesere erwähnten Beschuldigung der Kollaboration mit dem Feind, welche wiederum die Wiener Universität bereits im Juni 1419 gegen die Juden erhob.

Judentum als „christliche Ketzerei“

Albrechts Politik, beispielhaft in der fundamentalen „Melker Reform“ und der Stärkung der theologischen Fakultät, hatte ein geeintes starkes Christentum zum Ziel, Abspaltungen und Andersgläubige galt es auszumerzen. Seine Aggression richtete sich jedoch nicht prinzipiell gegen „die Juden“ an sich, sondern – mit kollateralem finanziellen Nutzen – gegen Angehörige des jüdischen Glaubens. Offensichtlich sah er das Judentum nicht mehr als eigenständige Religion, sondern gleichsam als christliche Ketzerei, für die bei Nicht­-Widerrufung in Form von Taufe der Scheiterhaufen stand. Dies lässt sich an seiner positiven Haltung gegenüber denjenigen Jüdinnen und Juden ablesen, die ihren „Unglauben“, ihre perfidia, verlassen und sich dem wahren christlichen Glauben zugewandt hatten.

Die Verbrennung von mindestens 200 Jüdinnen und Juden am 12. März 1421 auf der Gänseweide wird sowohl durch jüdische als auch christliche Quellen bezeugt.

Der Herzog tat alles, um diesen Neukristen – bisher sind 22 in den Quellen namentlich identifiziert – einen erfolgreichen Start zu ermöglichen: Er überließ ihnen die Häuser von Ermordeten, er unterstützte die Pflegeeltern und Klöster, die zwangsgetaufte Kinder aufnahmen. An der Wiener Universität intervenierte er zugunsten konvertierter Studenten. Die meisten Neophiti konnten sich rasch in die christliche Gesellschaft integrieren, und wie sich an dem späteren Rektor der Wiener Universität Paul Leubmann von Melk zeigt, waren sogar Spitzenkarrieren möglich. Bereits nach einer Generation ist die jüdische Herkunft nicht mehr in den Quellen nachweisbar.

Dass Kinder zwangsgetauft wurden, aktivierte jüdische Resilienz-­Strategien und kirchliche Grenzziehung: Nach einer Intervention von Juden in Venedig bekräftigte Papst Martin V. in einem Brief an den Herzog das kirchenrechtliche Verbot, Minderjährige gegen den Willen ihrer Eltern zu taufen. Die Suche nach Gedächtnisspuren der Wiener Gesera in christlichen Quellen ergibt nur wenige Funde und auch in jüdischen Quellen erwies sie sich als schwierig. Obwohl eines der grausamsten antijüdischen Ereignisse des Mittelalters, wurde sie nicht in dem Maße tradiert wie etwa die Kreuzzugspogrome oder Pestverfolgungen. Wie lässt sich dies erklären?

Veranstaltung

Vortrag zur Wiener Gesera

Ein Vortrag von Martha Keil über die Wiener Gesera findet am 15. Jänner, 16 Uhr, bei der „Akademie am Dom“ der Theologischen Kurse in Wien statt.

Infos: www.theologischekurse.at

Die Gewalttaten erfolgten in sozialer Hierarchisierung: Während die weniger Begüterten „nur“ vertrieben wurden, vernichtete der Feuertod die Oberschicht, die die materiellen und geistigen Voraussetzungen für die Trägerschaft einer Gedächtniskultur besessen hätten. Doch den nachfolgenden Generationen blieb Österreich als „Blutland“ (Erez ha-Damim) und Wien als „Blutstadt“ (Ir ha-Damim) im Gedächtnis, eine Bezeichnung, die im Buch Ezechiel für das eroberte Jerusalem steht.

Verantwortung damals und heute

Unsere Sicht auf die Ereignisse vor 600 Jahren erfolgt im Bewusstsein der Schoa. Auch wenn die Wiener Gesera kaum bekannt war, wirkten sicher – als ein Faktor von mehreren – die mittelalterlichen religiösen Vorurteile als Nährboden für die rassistische Dimension der Judenfeindschaft, den Antisemitismus. Den durch die „Nürnberger Rassengesetze“ als „jüdisch“ Kategorisierten half jedoch die Annahme der Taufe allenfalls dabei, eine christliche Hilfsorganisation in Anspruch nehmen zu können. Am 12. März 1421 wie ab dem 12. März 1938 lag die Verantwortung bei den politischen Machthabern und ihren Vollstreckern. Die vielen Mitläuferinnen und Mitläufer hätten aber trotz Herrschaft, Diktatur und Gewaltregime eine kleine Möglichkeit der Wahl gehabt: in der Asche nach dem geschmolzenen Schmuck der ermordeten Frauen zu suchen, sich an „arisiertem“ Besitz zu bereichern, bei der Begegnung mit jüdischen Bekannten die Straßenseite zu wechseln – oder zumindest ein kleines Zeichen der Solidarität zu setzen. Den Verbrechen und den Wahlmöglichkeiten, auch wenn sie vor 600 Jahren geschahen, einen Platz im persönlichen und kollektiven Gedächtnis zu bewahren, ist vielleicht ebenfalls ein solches – spätes – Zeichen).

Die Autorin ist Direktorin des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs in St. Pölten.

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Erinnern an 1420/21 wie an 1938/45

Rund um den Jahrestag der Novemberpogrome 1938 gedenken auch heuer verschiedene christliche Organisationen in Kooperation mit der FURCHE dieser Ereignisse wie auch des 600. Jahrestags der Wiener Gesera. Coronabedingt finden heuer nur wenige Veranstaltungen statt.

  • Am 9. November, dem 82. Jahrestag der Novemberpogrome, findet um 19 Uhr in der Wiener Ruprechtskirche (1010 Wien, Ruprechtsplatz) der ökumenische Gottesdienst „Mechaye Hametim – Der die Toten auferweckt“ statt. Regina Polak, Vorständin des Instuts für Prakt. Theologie an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Wien wird dabei die Worte des Gedenkens sprechen. Danach folgt ein Schweigegang zum Schoa-Mahnmal am Judenplatz, wo sich bis 1421 die mittelalterliche Synagoge befand. Wegen der begrenzten Plätze in der Kirche ist eine Anmeldung per E-Mail unter st.ruprecht@aon.at unbedingt notwendig. Infos: www.ruprechtskirche.at
  • Am 11. November um 19 Uhr diskutieren im Albert-Schweitzer-Haus (1090 Wien, Schwarzspanierstraße 13) die Philosophin Charlotte Heinrich, der Judaist Armin Lange und Giulia Silberberger von „Der goldene Aluhut“ zu „Trügerische Sicherheit: Sinn und Unsinn von Verschwörungstheorien“. Infos: www.evang-akademie.at
  • Am 16. November um 20 Uhr stellt FURCHE-Redakteur Otto Friedrich den Film „Liebe war es nie“ über die Beziehung einer jüdischen KZ-Gefangenen mit einem SS-Offizier und deren Folgen Jahre danach vor. Nach dem Film: Gespräch mit dem Produzenten Kurt Langbein. Votivkino (1090 Wien, Währinger Str. 12) Infos & Karten: www.votivkino.at

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