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Späte Bilanz

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Spät, aber doch beginnt Österreich, eine alte Verpflichtung gegenüber sich selbst einzulösen. Drei Jahrzehnte sind wir uns die große Ubersicht über unseren eigenen Beitrag zu unserer Befreiung selbst schuldig geblieben. Nun wurde sie mit zwei Bänden einer dreibändigen Dokumentation über „Widerstand und Verfolgung in Wien 1934 bis 1945“ in Angriff genommen. Der erste Band niit dem Material über die Jahre 1934 bis 1938 soll folgen. Ebenso Dokumentationen über Widerstand und Verfolgung in den anderen Bundesländern (voraussichtlich jeweils in zwei Bänden). Die entsprechenden Kommissionen zur Bearbeitung des Materials sind dabei, sich zu formieren. Es ist ein auf Jahre angelegtes Unternehmen. Der Fonds für wissenschaftliche Forschung ermöglicht es — die Herausgeber selbst verdienen aber nichts daran. Sie arbeiten ehrenamtlich.

“Man sollte eine gestraffte, gekürzte, neu kommentierte Ausgabe dieser ersten beiden Bände sofort in Taschenbuchform für den Geschichtsunterricht an österreichischen Schulen herausbringen. Man sollte dies nicht nur tun — wir stehen nicht an, m sagen: Man muß es tun, es ist eine Notwendigkeit. Mit dem Unterricht in Zeitgeschichte liegt es in Österreich ohnehin noch immer sehr im argen. Und wir kennen kein anderes Werk, das anschaulicher, eingängiger wäre — gerade für Jugendliche zwischen, sagen wir, 14 und 18 Jahren.

Denn hier liegt nicht die hundertste Publikation „über“ dieses Thema vor, sondern eine Epoche dokumentiert sich selbst. Kurzen, gedrängten Darstellungen der einzelnen, Widerstand leistenden oder verfolgten Gruppen folgen, aneinandergereiht, Dokumente, Gerichtsprotokolle, Anklageschriften, Urteile, Verlautbarungen, Auszüge aus Gestapo-Tage-; büchern, geheime Meldungen „Nach oben“ über die Lage in Wien.

Genau solche Unterlagen braucht der Geschichtsunterricht. Gerade dort, wo emotionell aufgeladene Themen zur Diskussion stehen. Wo oft genug der „Lehrstoff“ in Konflikt mit dem daheim Gehörten gerät, nicht selten auch die Lehrkräfte selbst in Konflikte bringt. Dokumente sprechen aber vor allem eine mißtrauische Jugend an, die sich selbst ein • Bild machen will. Auch die besten Ausführungen eines bemühten Geschichtsprofessors — was sind sie gegen unmittelbare Zeugnisse, wie etwa die folgende Stelle aus dem Tagebuch der Gestapo Wien Nr. 7 vom Oktober 1942 (Band 3, Seite 318):

„Am 21. 10. 1942 wurde der Jude Hugo Israel Schatz, Steindrucker, 2. 1. 1879 in Budapest geboren, Deutsche Reichsangehörigkeit, mosaisch, verheiratet, Wien 2, Floßgasse 9, wohnhaft, festgenommen. Schatz ist zur Zeit als Erdarbeiter in Engerau tätig. Er hat während der Arbeit seine Arbeitsblüse ohne Judenstern getragen. Gegen ihn wird Schutzhaft beantragt.“

Der Lehrer müßte nur noch dazu-sagen, daß ein Österreicher eben automatisch Reichsangehöriger war, daß sich jeder Jude „Israel“ nennen mußte und daß die „Schutzhaft“ für den Erde schaufelnden, 63 Jahre alten Steindrucker, der beim Schaufeln keinen Judenstern getragen hatte, gleichbedeutend mit dem Todesurteil war.

Oder: „Am 24. 9. 1943 wurde der Jude Friedrich Israel Aufwerber, Oberlehrer i. P., .18. 7. 1872 Weißenkirchen geboren, konfessionslos, verheiratet, Wien 2, Praterstern 42. wohnhaft, festgenommen. Der Genannte, der in kinderloser Mischehe lebt, unterhielt mit deutschblütigen Personen freundschaftlichen Verkehr.1 Er war vom Jahre 1910 bis 1934 Mitglied1 der Sozialdemokratischen Partei und sozialdemokratischer Bezirksrat Er war außerdem Obmann des Ortsschulrates. Gegen ihn wird Schutzhaft beantragt.“

Und so weiter. Schutzhaft wegen „anmaßenden Benehmens Altparteigenossen gegenüber“. Schutzhaft, Tod, wegen Rauchens am Arbeitsplatz „trotz Ermahnung“. Der 24 Jahre alte Georg Israel Lichternstern wird festgenommen, „da er von einem Anschlagkasten des .Stürmers' die Aufschrift: ,1m Falle einer Bespuckung wird der nächste Jude es ablecken müssen', heruntergerissen hat.“ Sofortige Überstellung in das Sammellager in Wien 2, Kleine Sperlgasse 2 a, wo die Transporte zu den Gaskammern zusammengestellt werden, für einen alten Juden, „weil er in einem überfüllten Stadtbahnzug einen Sitzplatz einnahm, während arische Frauen stehen mußten. Der Jude erregte durch sein Verhalten öffentliches Ärgernis.“ Dasselbe für eine Frau, die „ohne behördliche Genehmigung Wien 5 verlassen und sich nach Mariazell begeben“ hatte.

Und falls ein skeptischer junger Mensch von heute, und Skepsis ist sein gutes Recht, Zweifel daran haben sollte, daß Schutzhaft Vergasung bedeutete, müßte ihn der Lehrer ja nur auf die Eintragung auf Seite 319 des dritten Bandes hinweisen, wo zwei Frauen, die „nach Abschluß des Abstammungsverf ahrens, in dem sie als Jüdinnen erklärt wurden, erst nach zwei Tagen den zusätzlichen Vornamen ,Sara' angenommen haben“, besondere Milde widerfuhr. Sie wurden für drei Wochen festgenommen, jedoch: „Von einem Antrag auf Inschutznahme wurde mit Rücksicht darauf, daß Kinder aus den Mischehen vorhanden sind, Abstand genommen.“

In die Schulbuchausgabe des genannten Werkes müßte unbedingt auch folgende Stelle (Band 3, Seite 509) aus dem Tagebuch der Gestapo Wien Nr. 5: „Am 14.^. 1942 wurde der deutschblütige Fabriksdirektor Udo Pucher, 8. 1. 1913 Shanghai geboren, Deutscher Reichsangehöriger, ev. AB., verheiratet,'Wien 19, Peter-Jordan-Straße 17 wohnhaft, wegen judenfreundlichen Verhaltens festgenommen. An die im Betriebe des P. beschäftigten Juden wurden unberechtigterweise — jedoch ohne Wissen des P. — Urlaubsgelder ausbezahlt. Als dies im Betrieb bekannt wurde, ließ P. durch Angestellte seines Betriebes die entsprechenden Eintragungen auf den Karteikarten der Juden abändern, so daß nichts mehr über die gezahlten Urlaubsgelder ersichtlich war. Auf Drängen des Betriebsratsobmanraes veranlaßte P., daß den Juden die bezahlten Gelder in kleinen Teilbeträgen wieder abgezogen wurden, sagte aber gleichzeitig den Juden auf ihre Vorstellungen hin zu, ihnen die abgezogenen Gelder aus seiner Tasche zurückzuerstatten, was er auch tat.“

Dieser Mann konnte sich damals, wie man zu sagen pflegte, „herausreden“ — Unerschrockenheit und Geistesgegenwart haben viele Menschen in Gestapo-Verhören gerettet. Andere waren weniger glücklich. Seite 3493, aus einem „Urteil im Namen des Deutschen Volkes“: „Der Angeklagte Ludwig Rumpelecker hat in Wien und Niederdonau seit Herbst 1941 bis Anfang August 1943 fortgesetzt absichtlich Auslandssender abgehört und die von ihnen gebrachten zersetzenden Nachrichten weiterverbreitet, weiters am 5. 8.1943 öffentlich durch defäitistische Äußerungen den Willen des deutschen Volkes zur wehrhaften Selbstbehauptung zu zersetzen gesucht. Er wird deshalb zum Tode und lebenslangem Ehrverlust (!) sowie zum Ersatz der Verfahrenskosten verurteilt. Die bei dem Angeklagten sichergestellten beiden Rundfunkgeräte werden eingezogen.“

Zwei Bände, über eintausend Seiten Widerstand und Verfolgung. Einzelfälle runden sich zum Bild einer Epoche. Menschliche Tragödien in wenigen Zeilen — und menschliche Erbärmlichkeit: „Der Reichsleiter und Reichsstatthalter von Wien, Baidur von Sehirach, hat aus der Sammlung Gomperz ein Bild von Lukas Cranach .Maria mit dem Kind* zum Schätzpreis von 30.000 RM und zwei Kacheln im Gesamtpreis von 500 RM käuflich erworben und bereits übernommen. Ich bitte, ihm nach beiliegendem Muster eine Rechnung zu übersenden. Weiters bitte ich, dem Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD, SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei Huber, nach beiliegendem Muster eine Rechnung zuzuleiten. Ich bitte, diese Rechnung mir persönlich zu ubersenden.“

Zahlreiche Menschen haben am Zustandekommen dieses Werkes mitgewirkt. Dr. Wolfgang Neugebauer, der Auswahl und Zusammenstellung besorgte, schrieb die Kapitel über den Widerstand der Arbeiterbewe-wegung (Sozialisten, Kommunisten, Widerstand auf betrieblicher Ebene, sonstige Gruppen) und über überparteiliche und sonstige Gruppen. Professor Dr. Hefbert Steiner fungierte als wissenschaftlicher Berater, Univ.-Prof. Prälat Dr. Franz Loidl schrieb über Verfolgung und Widerstand der katholischen Kirche, Univ.-Prof. Hofrat Dr. Walter Goldinger über katholisch-konservativen und legiti-mistischen Widerstand, Pfarrer Richard Wasicky über die evangelische Kirche, Dr. Jonny Moser über die Verfolgung der Juden, Dr. Selma Steinmetz übet die Zigeuner, Dr. Manfred Rauchensteiner über den militärischen Widerstand. Als Herausgeber zeichnet das Dokumen-tätiöhsärchiv des österreichischen Widerstandes, das Werk erschien im Österreichischen Bundesveflag.

Es ist gewichtig, schwer, und naturgemäß nicht in riesiger Auflage gedruckt. Es wäre schade und des Themas unwürdig, wenn es bei dieser wohl nur für Bibliotheken und besonders interessierte Leser bestimmten Ausgabe bliebe.

Der zweite Band des vielzitierteh „Rot-weiß-rot-Buches“, in dem dieser unser Beitrag zur eigenen Befreiung bilanziert werden sollte, ist bis heute nicht erschienen. Sicher auch, weil Jahre vergehen mußten, ehe man das vorhandene Material überblicken konnte. Aber nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil ja, russische Besatzung hin, Staatsvertrag her, das nationale Wählerpotential sehr bald nicht mehr vor den Kopf gestoßen werden durfte. Als wir dann den Staatsvertrag hatten, ließ das offizielle Österreich den „eigenen Beitrag“ fallen wie eine heiße Kartoffel. Die Wähler des „Verbandes der Unabhängigen“ und wie die Mutationsstufen von braunlastiger „Unabhängigkeit“ zu braunlastiger „Freiheitlichkeit“ geheißen haben mögen, durften ja nicht verprellt werden. Und schon gar nicht, in beiden Parteien, die „Ehemaligen“ in den eigenen Reihen.

Bis heute hat sich niemand mit der Frage beschäftigt, warum die Großparteien eigentlich die Rücksicht auf Gegner und Opfer des NS-Regimes nie als wahltaktische Notwendigkeit ernstgenommen haben. Die Bilanz von Widerstand und Verfolgung in Österreich weist für unser Land einen höheren Blutzoll als in manchen von Hitler Überfallenen Ländern (vor allem des Nordens) aus. Die Todesopfer sind aber nur die Spitze eines Eisberges. Während sich der überfüllte, brüllende Heldenplatz des März 1938 unserem nationalen Bewußtsein als Trauma eingeprägt hat, nahmen wir das Ausmaß der Hitlergegnerschaft nie so richtig zur Kenntnis.

Dabei wurden in den Tagen nach Hitlers Einmarsch mehr als ein volles' Prozent der österreichischen Gesamtbevölkerung verhaftet. Ein großer Teil von ihnen wurde früher oder später, wenn auch oft nur vorübergehend, wieder entlassen. Im Endeffekt aber wurden 1,2 Prozent der österreichischen Gesamtbevölkerung in Konzentrationslagern oder Hinrichtungsräumen ermordet.

Daß der echte, politisch motivierte Widerstand keine Sache einer verschwindenden Minderheit war, zeigt die Aufschlüsselung der Todesopfer in rassisch und aus anderen Gründen Verfolgte. Zwischen 1938 und 1945 wurden 51.500 jüdische und 35.300 nicht jüdische Österreicher ermordet. Die nichtjüdischen Todesopfer des Widerstandes machen nicht weniger als ein halbes Prozent der gesamten österreichischen Vorkriegsbevölkerung aus.

16.493 starben in Konzentrationslagern. 2700 wurden von Gerichten zum Tode verurteilt und hingerichtet. 9687 starben in den Zellen und Folterkellern der Gestapo. 6420 Österreicher starben ohne Urteil in

Gefängnissen und Zuchthäusern oder wurden in anderen, besetzten Ländern, in die sie geflohen waren* ergriffen und ermordet.

Bei -35.000 (nichtjüdischen) Todesopfern sollte wohl der Beweis als erbracht gelten, daß der harte Kern der österreichischen Hitlergegnerschaft eine Gruppe von zumindest hundert-tausenden Menschen dargestellt haben muß. Auf jeden Toten kamen ja viele, die inhaftiert, verhört, verurteilt wurden, aber mit dem Leben davonkamen, und auf jeden Eingesperrten kamen einige Sympathisanten, die nicht „auffällig geworden“ waren, aber Juden halfen, unter Lebensgefahr „Feindsender“ hörten, das Gehörte weitererzählten und so weiter (damals lauter äußerst lebensgefährliche Tätigkeiten, die erheblichen Mut erforderten).

Es ist eine österreichische Tragödie, daß die Großparteien immer nur nach Stimmen der „Ehemaligen“ geschielt und die Hitlergegner und Patrioten als quantite negllgeable abgetan haben. Einer der Gründe dafür ist sicher die versprochene und dreir ßig Jahre verschlampte. Bilanz unseres eigenen Beitrages zur Befreiung.

WIDERSTAND UND VERFOLGUNG IN WIEN 1934 BIS 1645. Eine Dokumentation. Band 2 (488 Seiten) und Band 3 (556 Seiten). Mit Bildteilen. Österreichischer Bunäes'Oer-lag, Wien 1975.

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