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Justiz in Not

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In sėdįs Sitzungen — es waren nicht mehr —, unmittelbar nach den ereignisreichen Februartagen dieses Jahres, hat die Verfassungsgebende Nationalversammlung der Tschechoslowakei nicht weniger ah 26, vorwiegend bedeutsame Gesetze behandelt: das Theatergesetz, die Neuregelung der Mobilisierung von Arbeitskräften, eine Novelle zwm Betriebsrätegesetz, die zweite Bodenreform, das Flurbereinigungsgesetz, das Gesetz über die Landwirtschaftssteuer, den Gewerbekredit, die Verstaatlichung der Natio- naibank, die Überführung der Arbeiter der öffentlichen Verwaltung in ein öffentlich- rechtliches Dienstverhältnis — um nur einige zu nennen.

Der neue kommunistische Justizminiscer Dr. Alexej Čepička, der in der letzten Regierung das Innenhandeilsministerium leitete, hat in einer Pressekonferenz die großen Programmpunkte seines Ministeriums dargelegt: die Reinigung des Juristen- Standes, die Wiedereinsetzung der Volksgerichte und das Wiederaufrollen der Kollaboranteaprozesse und schließlieh eine vollständige Erneuerung der gesamten Rechtsordnung.

Der Ankündigung folgten die Maßnahmen auf dem Fuß: die Reinigung wurde sogleich von den örtlichen Aktionsausschüssen in Angriff genommen; so wurden zum Beispiel allein beim Kreisgericht in Leitmeritz, das erst 1945 völlig neu besetzt worden war, fast sämtliche Richter und Staatsanwälte entlassen. „Die Erwartungen”, so führte hierüber Minister Čepička aus, „daß die Kreise, in deren Händen die Ausübung der Justiz vor 1938 lag, sich ehrlich um die Einfügung in die neue Volksdemokratie bemühen werden, haben sich nicht erfüllt. Im Gegenteil, es sind alle Gewohnheiten der ersten Republik wieder in Erscheinung getreten, Einfluß von Besitz und Geld, falsche Zeugen, Unterstützung der Reaktion …”

Mit besonderer Schärfe wenden sich die Maßnahmen gegen die Rechts- anwälte, die in Zukunft nicht mehr „Verbrecher verteidigen und vor Gericht schützen” dürfen; so forderte der Aktionsausschuß in Proßnitz in Mähren die Bevölkerung auf, alle Advokaten zu melden, die bei der Vertei düng von Deutschen und Kollaboranten hervorgetreten sind. Diese Maßnahmen wenden sich nicht nur gegen einzelne Rechtsanwälte. Die Rechtsanwaltskanzleien, die — wie der Juftizminister erklärte — „bisher der Sitz der Reaktion waren, sollen in öffentlich- rechtliche Einrichtungen verwandelt und das ganze Staatsgebiet mit Rechtsberatungsstellen überzogen werden, damit auch der Arme zu seinem Recht kommt”.

Eine unabsehbare Arbeit bringt die Wiederaufrichtung der Volksgerichte mit sich, deren Tätigkeit in Böhmen, Mähren und Schlesien am 4. Mai vorigen Jahres und in der Slowakei erst heuer beendet war. Nicht nur all die tausende Fälle, die bis zu jenem Zeitpunkt unerledigt waren, sollen nunmehr vor diesen neuen Volksgerichten behandelt werden, es sollen auch alle jene Urteile überprüft werden, die mit dem „Rechtsempfinden des Volkes” in Widerspruch 6tehen, also vor allem die Prozesse gegen die Mitglieder der Protektoratsregierung und gegen die Protektoratsjournalisten neu aufgerollt werden.

Aus diesen Nachrichten könnte man schließen, daß die bisherigen, von Čepičkas Vorgänger- ergriffenen Maßnahmen gegen die Deutschen und Kollaboranten nur unvollkommen und milde gewesen wären. Der frühere Justizminister, der volkssozialistische Dr. D r t i n a, einst Sekretär des Staatspräsidenten T. G. Masaryk, der später durch seine Rundfunkreden über den Londoner Sender an die Bevölkerung des Protektorats bekannt wurde und kurz nach seiner Demission schwer verletzt im Garten seiner Villa aufgefunden wurde, hat in seinem abschließenden Bericht alles andere als einen belanglosen Rechenschaftsbericht über die Tätigkeit der Volksgerichte gegeben:

Auf Grund der Retributionsdekrete des Staatspräsidenten Dr. Benes waren in den böhmischen Ländern 24 außerordentliche Volksgerichte ins Leben gerufen worden, denen unter maßgebender Mitwirkung des Laienelements — die Senate bestanden aus einem Berufs- und vier Laienrichtern — die Aburteilung der zwischen dem 21. Mai 1938 und dem 5. Mai 1945 begangenen und nach diesem Gesetz rückwirkend für strafbar erklärten Handlungen oblag. Es waren insgesamt 132.549 Strafanträge eingegangen, also gegen rund 12 Prozent der Bevölkerung. Über 713 Personen wurde d’ie Todesstrafe verhängt, davon waren 475 Deutsche und 238 Tschechen, 471 Personen wurden zu lebenslänglichem Kerker verurteilt, 19.888 erhielten Freiheitsstrafen in der Gesamtdauer von 206.334 Jahren, durchschnittlich also mehr als zehn Jahre für jeden Verurteilten, das ist d a s Doppelte der im Gesetz vorgesehenen Mindeststrafe. In 40.534 Fällen war mangels an Beweisen eine weitere Behandlung durch die Volksgerichte unmöglich, doch wurden diese Fälle überwiegend den Bezirks- Nationalausschüssen zur weiteren Behandlung abgegeben. Bei Einstellung ihrer Tätigkeit traten die Volksgerichte die unerledigten Fälle den ordentlichen Gerichten zur weiteren Behandlung ab.

In der Slowakei betrug die Zahl derin diesem Verfahren zum Tod Verurteilten 31, die der eingelangten Anzeigen 33.362. Allerdings wichen die in der Slowakei zur Anwendung gelangenden Bestimmungen nicht unwesentlich von denen für die böhmischen Länder ab. Auf einen Unterschied wurde die Weltöffentlichkeit durch den Tiso-Prozeß aufmerksam: während in der Slowakei die verhängte Todesstrafe erst nach 48 Stunden zu vollstrecken war, mußte in den böhmischen Ländern das gefällte Todesurteil schon vollstreckt werden, wenn nicht in der Frist von zwei Stunden die Mitteilung einlangte daß der Staatspräsident von seinem verfassungsmäßigen Begnadigungsrecht Gebrauch gemacht habe. Diese Frist konnte vom Gericht höchstens um eine weitere Stunde, also auf insgesamt drei Stunden, verlängert werden. Gewissenhafte Verteidiger ließen daher am Ausgang des Verhandlungssaales einen Boten mit dem vorbereiteten Text des telegraphischen Gnadengesuches warten, der sofort den Saal verließ und zum nächsten Postamt eilte, sobald der Vorsitzende das Wort aussprach: „… wird zum Tode verurteilt …” Erfahrungsgemäß reichte damals die Frist von zwei oder drei Stunden nicht einmal zur Beförderung des Telegramms aus der Provinzstadt nach Prag und der Rückantwort aus, um so weniger zu einer Behandlung des Gnadengesuches durch den Staatspräsidenten.

Es kann nidit wundemehmen, daß bei der kurzen zur Verfügung stehenden Zeit und der unglaublichen Arbeitsfülle die Gerichte nicht immer einwandfrei arbeiten konnten und häufigen Angriffen von allen Seiten ausgesetzt waren, zumal die Verfahrensvorschriften keinerlei Rechtsmittel vorsahen und jedes Urteil endgültig war. Selbst Präsident Bene? sah sich veranlaßt, in seiner Ansprache an die Vertreter des Verbandes befreiter politischer Häftlinge zu sagen:

„Zweifellos sind Fehler begangen worden … Fast allgemein wird eine gewisse Ungerechtigkeit angesichts der ungleichmäßigen Urteile empfanden. Es fehlt ein allgemeiner, bestimmter, möglichst genauer und gleicher Maßstab .,. Aber ich muß aufrichtig hinzufügen, daß ich auf noch mehr Ungerechtigkeit gefaßt war und mit noch mehr Fehlern gerechnet habe.”

Es haben sich mutige Stimmen gefunden, die nach Strenge gegen jene riefen, welche die Zeit nach der Befreiung zu strafbaren Handlungen mißbraucht haben — „nazistische Handlungen in die tschechoslowakische Trikolore gehüllt”, wie sich der Militärprokurator Oberstleutnant Dr. S u 1 ä k ausgedrückt hat. Trotzdem konnte das Gesetz Nr. 115 aus dem Jahre 1946 erlassen werden, wonach an und für sich strafbare Handlungen straffrei sind, wenn sie vor dem 28,. Oktober 1945 begangen wurden und die Wiedererlangung der Staat- liehen Selbständigkeit oder die V ergeltung von Handlun gen der Deutschen bezweckt haben. Nach diesem Gesetz, von dem die Prager Zeitschrift „Masaryks Volk” feststellen muß, daß es „einzig in seiner Art in der ganzen zivilisierten Welt” dasteht, wurden zum Beispiel in Pilsen drei Polizisten freigesprochen, obwohl sie nachweislich Gefangene fast zu Tode gequält hatten. Sofern die Tat nicht gerade zur eigenen Bereicherung oder zu einem anderen persönlichen Vorteil erfolgt ist, wird sie in dem Gesetze — und wäre es das schwerste Verbrechen seLbst gegen völlig Unschuldige — . ausdrücklich für nicht rechtswidrig und straffrei erklärt.

Der Wendepunkt in der Justiz der Tschechoslowakei, die bis 193S in den alt- erprobten und bewährten Bahnen österreichischen Rechtsdenkens und Rechtsempfindens sich bewegte, liegt nicht erst in die Februartage 1948, er fällt bereits in die Maitage 1945.

Wie die nationalsozialistische These „Recht ist, was dem Deutschen Volke nützt” den ganzen, in Jahrhunderten von den größten Denkern und Rechtsgelehrten aufgerichteten Bau zum Einsturz brachte, so geschah es mit verblüffender Parallelität zehn Jahre später in Prag. Schon damals erklärte der allmächtige Gewerkschaftsführer Zapotocky: „Das Volk ist die einzige Quelle der Macht in unserem Staate, also auch die einzige Quelle der Gerichtsbarkeit. Lassen wir also das Volk entscheiden — die politischen Parteien sind für die Urteile verantwortlich.” Und Ministerpräsident Gottwald äußerte sich so: „Der Richter muß auf Grund der Gesetze urteilen unter Berücksichtigung der Meinung des Volkes und des Standpunktes der Regierung. Wird so Recht gesprochen,

dann kann es zu keiner Meinungsverschiedenheit kommen.”

Jetzt vollzieht sich der zweite Abschnitt des eingeleiteten Prozesses.

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