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Schuldig—schon vor dem Urteil?

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Der Justizirrtum ist meist ein multikausales Ereigniis. Zu den Faktoren, die häufig zum Zustandekommen eines Fehlurteiles zuungunsten des Angeklagten beitragen, zählen Schlampereien bei der polizeilichen Ermittlungsarbeit, eine mangelhafte, weil voreingenommene und einspurige Voruntersuchung, zählen Zeugen, die ihre Unsicherheit, beispielsweise beim Wiedererkennen einer Person, überspielen, Sachverständige, die sich mitunter wie Erfüllungsgehilfen der Staatsanwaltschaft verhalten, und Geschworene, die nicht ihren Verstand, sondern Gefühle sprechen lassen: „Er wird es schon gewesen sein!“

Dabei spielt der Eindruck, den ein Angeklagter macht, eine riesige Rolle. Oft eine größere als alle Indizien, die für seine Schuld oder Unschuld sprechen. Niemand gerät beispielsweise so leicht unter falschen Verdacht und so schwer wieder heraus wie ein womöglich mehrmals Vorbestrafter.

Verdachtsmomente, die für eine Anklageerhebung, Schuldindizien, die für die Verurteilung eines unbescholtenen, angesehenen Staatsbürgers nie und nimmer ausreichen würden, werden sehr oft für völlig ausreichend befunden, vorbestrafte oder unbeliebte Mitmenschen hinter Schloß und Riegel zu bringen, wie dm berühmten, klassischen „Fall von Eldagsen“, der sich 1854 ereignete und seither in mancherlei Abwandlungen und in vielen Ländern (nur mit anderen Namen und leicht abgeänderten Begleitumständen) wiederholt hat.

Wie so oft wurden im kleinen Lands'tädtchen Eldagsen im Hannoverschen nach dem Mord an der Frau und der Magd des Steuereinnehmers Hartmann die — laut Akten — „übel beleumundeten Subjekte“ Ziegenmeyer und Busse deshalb der Tat bezichtigt, weil sie ihnen jeder zutraute, und darüber versäumt, anderen Spuren nachzugehen. Eine Witwe Haller stellt „imit Bibel und Erbschlüssel fest“, daß die beiden die Täter sind, und schnell findet sich auch ein Zeuge, der sie zur Tatzeit vor Hartmanns Haus gesehen haben will. Der an schneller Beförderung interessierte Hilfspolizist Wild sondiert beim Bürgermeister: „Wenn nun jemand wäre, der Busse und Ziegenmeyer gesehen hätte?“

Später rückt der Hilfspolizist sogar mit der Mitteilung heraus, er habe Ziegemmeyer in der auf den Mord folgenden Nacht belauscht und gehört, wie er zu seiner Frau gesagt habe: „Ich habe das Mädchen totgemacht und Busse die Frau.“ Der Hilfspolizist hat einen guten Leumund, die Beschuldigten haben einen schlechten, damit ist ihr Schicksal besiegelt. Die beiden haben ein fast lückenloses Alibi, aber das zählt nicht — wie so oft, wenn der Leumund schlecht ist.

Unter den Geschworenen befinden sich drei Juristen, ihr Sprecher ist ein ehemaliger Staatsanwalt. Das Urteil lautet auf Tod für beide Angeklagten. Ziegenmeyer erhängt sich in der Zelle, Russe wird zu lebenslanger Kettenstrafe begnadigt. Zie-genmeyera Haus wird versteigert, die Familie verelendet, die Kinder betteln — niemand gibt ihnen etwas. Nur den Polizeibeamten Hartmann plagen Zweifel. Neun Monate später gelingt ihm — nach einem neuen, sehr ähnlichen Verbrechen — die restlose Aufklärung des Falles. Die'Täter sind identisch.

Und wie so oft sperrt sich die Justiz gegen die volle Rehabilitierung des Busse. Man weist ihm einen kleinen Einsteigediebstahl nach — wie schlüssig, ist heute nicht mehr feststellbar. Er bekommt zwei Jahre und wird sofort begnadigt — damit hat sich die Staatskasse die Haftentschädigung erspart.

Im Falle Eldagsen begann die Aufklärung des Blutvierbrechens in den Häusern aller Ortsbewohner, die nicht in die Kirche gingen, die tranken, die es zu nichts brachten. Heute setzt man bei den „einschlägig Vorbestraften“ an, was ein völlig legitimes Verfahren ist — wenn die Verdachtsmomente, die gegen einen der in diesem Netz Hängengebliebenen sprechen, genau so kritisch geprüft werden, als würden sie sich gegen einen nicht Vorbestraften richten. In der Praxis aber haben sich viele Prozesse gegen „einschlägig Vorbestrafte“ als „vereinfachtes Verfahren“ erwiesen. Aber auch in Fällen auf Leben und Tod begnügte man sich in solchen Fällen oft mit einer Beweiskette, in der viele Glieder fehlten.

Besonders gefährlich sind die „psychologischen Indizien“, etwa das „verdächtige Verhalten“ nach der Tat, ja sogar das Erröten während des Verhörs wurde oft als Indiz dafür gewertet, daß der Angeklagte log.

So wurde in der Zwischenkriegszeit während eines Streifenganges' der miteinander verfeindeten bayrischen Zollassis'tenten Streit und Baier letzterer von einem Unbekannten erschossen. Streit zeigt keine Gemütsbewegung, im Gegenteil, er weist auf die Leiche und sagt, „so geht es einem, wenn man mit Kollegen so schofel ist“, er sieht dem Amtsarzt bei der Obduktion zu und verhält sich, so der Amtsarzt später als Zeuge, „auffällig“, weil er „keine seelische Erregung“, sondern „vollkommene Ruhe und große Wißbegierde“ erkennen läßt. Streit wurde verurteilt, weil ihn jeder für schuldig hielt. Der Mörder war ein österreichischer Schmuggler namens Hal-ler.

Ebenso ging es Karl Harter in Groß-Siegersbaft, wo die Krämerin Anna Kranzinger erschlagen und beraubt worden war. Das übel beleumundete Nachbarsehepaar Gietzin-ger sowie der Liebhaber der Frau, Karl Harter, werden verhaftet. Giet-ziniger belastet seine Frau: „Sie wird schon wissen drum, sie sollen sie nur hernehmen!“

Das Gericht hat überhaupt keine Beweise. Das Protokoll des Untersuchungsrichters ist eine Sammlung von Meinungen der Befragten — und diese öffentliche Dorfmeinung wendet sich vor allem gegen Harter. „Harter“, so einer der Zeugen, „kam mir gleich früh verdächtig vor, es standen vor Ankunft der Gerichtskommission ungefähr zehn Leute vor dem Haus der Kranzinger und bedauerten sie. Auf einmal kam Harter, drückte seine Mütze fest in den Kopf und ging, scheu und höhnisch blickend, an uns, ohne zu grüßen, vorüber. Derselbe sah auffallend bleich aus, und fiel mir das Benehmen auf.“

Karl Harter starb hinter Gittern. Die Anna Kranzinger war von einem Mann namens Matthias Kaufmann erschlagen worden.

Sehr oft führt der Leistungsdruck (oder die Erfolgssucht) der untersuchenden Polizeibeamten zu jenen Fehlern bei der Ermittlung, die sich später, während der Hauptverhandlung, oft kaum mehr korrigieren lassen. Vor allem zu Zeiten, da es um die öffentliche Sicherheit schlecht bestellt ist, wenn nur eine geringe Zahl der Verbrechen aufgeklärt werden kann, sinkt, wenn man so sagen darf, die Reizschwelle für Verdächtigungen; Nachkriegszeiten produzierten regelmäßig Häufungen von Justizirrtümern. Es genügt dann oft, eine oberflächliche Übereinstimmung mit einem der gängigen Täter-Stereotype, ein Verhalten, das der Rollenerwartung entspricht, die die Umwelt von einem „Verdächtigen“ hat, und der Nachweis eines Gelegenheitsverhältnisses, um ein Fehlurteil zu produzieren. In Österreich kamen nach 1945 auf diese Weise mehrere spektakuläre Fälle zustande. In Linz der Fall der unschuldig verurteilten VÖEST-Arbeiter Josef Auer und Hubert Ranneth, die 1947 wegen Raubmordes zu lebenslangem Kerker verurteilt wurden. Der Gerichtsmediziner Professor Breitenecker konnte 15 Jahre später nur noch feststellen, daß man ihnen eine Tatwaffe unterschoben hatte, mit der die Tat auf keinen Fall verübt worden war. Außerdem hatte ihnen der Polizeiarzt eine „Gefängnisspritze“ verabreicht.

Auch das Geständnis des Korneu-burgers Erich Rebitzer, der 17 Jahre unschuldig im Kerker verbrachte, wurde von übereifrigen Palizei-beamten zustande gebracht. Sie erpreßten ihn mit der Drohung, wenn er nicht gestehe, werde seiner Mütter die „hänfene Krawatte“ umgelegt. Der „Mord in der Fochler-mühle“, den Rebitzer begangen haben sollte, war in Wirklichkeit ein erweiterter Selbstmord.

In vielen Fällen erwies sich das Wachsen der Voreingenommenheit gegen einen Verdächtigen als irreversibler Prozeß. Dabei scheint oft ein eigenartiger massenpsychologischer Mechanismus beteiligt, der dazu führt, daß der Abscheu, die Empörung, das Erschrecken über eine aufsehenerregende Untat auf denjenigen übertragen wird, der als erster mit ihr in Verbindung gebracht wird, und daß diese Identifizierung so stark ist, daß dabei jede Objektivität der weiteren Untersuchung verlorengeht.

Vor allem in Zeiten, in denen die Anschlagbretter voll sind von den Steckbriefen Gesuchter, und in Ländern, die keine unserem Lasserschen Artikel entsprechende Einschränkung der Berichterstattung kennen, wird die öffentliche Empörung gegen den Verdächtigen zur Lawine, bis jedes Geschworenengericht nur noch eine „Hanging Jury“ sein kann, wie sehr man auch nach „unvoreingenommenen“ Geschworenen gesucht haben mag.

Ein berühmtes Beispiel dafür ist der kanadische Fall des Steven Truscott, der 1959 mit 14 Jahren wegen Mordes an seiner Mitschülerin Lynrs Harper zum Tod verurteilt wurde. Steven Truscott wurde zunächst nur deshalb verdächtigt, weil er der letzte gewesen war, der das Mädchen lebend gesehen hatte. Da ihn die Polizisten — es war die bequemste Lösung — für den Täter hielten, wurden andere Möglichkeiten erst gar nicht verfolgt, Spuren nicht gesichert, wichtige medizinische Proben unterlassen, und die Zeitungen stempelten — unter dem Einfluß der polizeilichen Informationen — den Burschen vor dem Prozeß zum überführten Mörder. Auch der Vorsitzende ließ keinen Zweifel daran, daß er den Angeklagten für schuldig hielt. Das Urteil war — allen Ungereimtheiten der Anklage zum Trotz — nur noch eine Formalität. Steven Truscott büßte für eine Tat, die er nicht begangen haben kann, von seinem 15. bis zu seinem 23. Jahr.

Die Urteile werden von Geschworenen gesprochen — aber am Zustandekommen eines Verhandlungsklimas, in dem solche Fehlurteile heranreifen, sind Berufsrichter, Sachverständige, Staatsanwälte selten unbeteiligt. Und es ist eine große, eine allzugroße Seltenheit, daß ein Mann wie der bundesdeutsche Generals'taatsanwalt Buchholz (der mittlerweile verstorben ist) als Zuschauer eines Prozesses aufspringt und seinen Untergebenen, den Staatsanwalt Hellge, der die Anklage vertritt und sich über die Strafprozeßordnung hinwegsetzt, indem er aus dem Schweigen der Angeklagten ein Schuldindiz zu drechseln versucht, zur Ordnung ruft. Der Eklat ereignete sich in der dritten Verhandlung gegen die zuvor zweimal verurteilte Eva Maria Mariotti. Normalerweise werden derlei Übergriffe nicht einmal bemerkt. Generalstaatsanwalt Buchholz hat sich mit diesem seinem Eingreifen auch in der deutschen Richterschaft nur wenige Freunde, aber viele erbitterte Feinde gemacht.

Hingegen gilt noch immer, was Max Alsberg schon vor dem Ersten Weltkrieg schrieb: „Keine Mühewaltung ist den Polizeibehörden zu groß, wenn es gilt, im Auftrage der Staatsanwaltschaft tätig zu werden. ... Kein Polizeibeamter begibt sich auf die Suche, wenn es gilt, einen dem Angeklagten günstigen Zeugen zu ermitteln.“

Dem Gefängnisdirektor Steigerthal, der den wegen Raubmordes verurteilten „Lebenslänglichen“ Hermann Kämpf für unschuldig hielt, gelang seinerzeit dessen Rehabilitierung. Das Gericht hatte den von Kämpf genannten Entlastungszeugen Haake für eine Erfindung des Angeklagten gehalten. Haake berichtete dem Gefängnlsdirektor, er sei während des Prozesses sogar zur Polizei vorgeladen worden, wo man ihm erklärt habe, er werde zwar als Zeuge gesucht, man habe aber keine Veranlassung, ihn hinzuschicken.

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