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Regnorum fundamentum

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Österreich steht, wie die jüngste Entwicklung zeigt, am Vorabend eines neuen Abschnittes seiner politischen Entwicklung. Die Ergebnisse der Pariser Außenministerkonferenz, die bevorstehenden Wahlen, die Berechtigung hunderttausender Mitbürger, die im Jahre 1945 von der politischen Willensbildung ausgeschlosssen waren, daran teilzunehmen, setzen dies außer allen Zweifel. In den letzten Jahrzehnten — wir wissen es alle — sind aus den verschiedensten Richtungen gewaltige Stürm über unser Land hinweggebraust und immer wieder haben sie am Gebäude unseres Staates gerüttelt und schienen es zuweilen ganz zum Einsturz ZU bringen. Zum erstenmal hat es nun den Anschein, daß eine ruhigere Entwicklung, ein Nachlassen des Druckes von außen und damit die Möglichkeit eigener Entfaltung im Innern und weiterer Aufbau unseres Staates in Aussicht steht. Es ist daher nun wohl die Zeit gekommen, in der, unbeeinflußt von persönlichen Ansichten und Wünschen, aber im vollen Bewußtsein der auf uns lastenden schweren Verantwortung, das Fundament überprüft werden muß, auf dem der seit 1945 aufgeführte Neubau unseres Staates ruht, um ins klare zu kommen, ob unbesorgt weitergearbeitet werden kann.

Justitia regnorum fundamentum — wer kennt ihn nicht, diesen obersten Leitsatz aller Staatskunst? Welcher Staatsmann bekennt sich nicht wenigstens in der Theorie und Propaganda immer und immer wieder dazu? Es kommt aber gerade hier keineswegs nur auf das theoretische Bekenntnis an. Dieser Satz hat auch eine sehr greifbare Entsprechung in der Realität, im Alltagsleben der Staaten, und diese heißt für unsere Heimat: Gerechtigkeit ist das Fundament Österreichs. Seine Ecksteine sind Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung; und nicht zuletzt gilt daher auch der Satz: Österreichs Justiz ist das Fundament unseres Staates.

Freilich muß auch der Boden geprüft werden, auf dem das Fundament unseres Staates ruht. Es ist das der Wille und das Vertrauen unseres Volkes zu seinem Staat und zu seinen Einrichtungen. Daß es an Einheit und Verbundenheit des Volkes noch fehlt, daß eine in ihren Anfängen geradezu dilettantische Gesetzgebung die Risse, die der Nationalsozialismus, der Krieg und die Nachkriegszeit unserem Volke beigebracht haben, offen gehalten und die darin schwelende Glut genährt hat, ist seit langem eine Binsenwahrheit. Die Gesetzgebung versucht denn auch seit geraumer Zeit, zu einer Besserung, zu einer Heilung der Schäden zu gelangen. Uber die Verwaltungstätigkeit wäre noch bei anderer Gelegenheit zu sprechen. Hier soll aber einmal eine Betrachtung der österreichischen Justiz gelten.

Wer sich nicht mit dem äußeren Bild einer auf Hochtouren laufenden Maschine, nicht mit offiziellen Statistiken und Berichten begnügt, sondern auf das Urteil horcht, mit dem auf gewisse’ Verhältnisse in unserer Rechtspflege unser Volk antwortet, der wird bald gewahr werden, daß dort ein dunkles, unklares, unbehagliches Gefühl im Fortschreiten begriffen ist, wie sich Mißtrauen einschleicht und das ruhige Vertrauen einer Skepsis gegenüber der Rechtssicherheit und Rechtspflege zu weichen droht. Wir kennen die Tüchtigkeit und Gewissenhaftigkeit der meisten Funktionäre unserer Justiz sehr wohl. Wir wissen aber auch, daß brennende Sorge so manchen unserer Rechtspfleger erfüllt, der sich über seinen Akten und seinen Amtsraum hinaus den freien Blick für Gemeinwohl und staatspolitische Belange bewahrt hat. Gewisse Erscheinungen drängen gebieterisch zu der Erkenntnis, daß so manches geändert werden muß und nicht erst übermorgen, soll nicht unheilbarer Schaden angerichtet werden. Wenn wir im nachfolgenden von konkreten Tatsachen sprechen, so ist es nur, um Beispiele anzuführen, die als Symptom dafür gelten können, an welchem gefährlichen Rande heute die Rechtspflege angelangt ist:

Fall eins: Vor dem Volksgericht wird eine Verhandlung angeordnet. Bereits einige Tage vor dem dafür bestimmten Tag wissen die Angehörigen, daß der Vorsitzende die Strafe genannt hat, die er zu verhängen gedenke; sie machen davon einem für den Fall maßgebenden Justizfunktionär Mitteilung. Tatsächlich verhängt das Volksgericht die schon vorher vom Vorsitzenden angekündigte Strafe, etliche Jahre schweren Kerkers. Müssen sich nicht der Betroffene, 6eine Angehörigen, Bekannten, alle Mitbürger, die davon erfahren, sagen, daß die ganze Verhandlung, das ganze Aufgebot von Staatsanwalt, Richtern, Schöffen, Verhandlung und Verteidigung eine Farce sind?

Ein anderer Fall; Volksgerichtsverhandlung! Nach Vernehmung des Angeklagten und einiger Zeugen Mittagspause. Nach Wiederbeginn der Verhandlung verliest der Vorsitzende ein mitgebrachtes, bereits schriftlich festgelegtes Urteil, ohne daßderStaatsanwalt und der Verteidiger überhaupt plädiert hätten. Das Urteil lautet auf zehn Jahre schweren Kerker.

Ein weiterer Fall: Der Verteidiger meldet den vorstehend geschilderten Vorgang dem Präsidenten des Obersten Gerichtshofes, der nach dem Gesetz die Möglichkeit hat, ein Volksgerichtsurteil überprüfen zu lassen. Eine Überprüfung erfolgt nicht. Vielleicht hält der Präsident des Obersten Gerichtshofes das Urteil an und für sich angemessen; möglich. Aber muß es nicht geradezu unverständlich wirken, daß de? gleiche Richter, der ein Urteil unter einer derartigen Außerachtlassung der Bestimmungen der Strafprozeßordnung fällt, nicht wenigstens vom Volksgericht abgezogen wird, sondern weiter über Fälle richten darf, bei denen es unter Umständen auch zu Todesurteilen kommen kann, ohne daß auch nur eine Berufung zulässig ist? ‘

Und nun noch ein Fall: Ein V lksgerichtsverfahren soll eingestellt werden, da sich ein strafbares Verhalten des Beschuldigten nicht erweisen läßt.. Die Staatsanwaltschaft muß ihren Vorgesetzten Behörden davon berichten; diese verlangen Ergänzungen, die aber keine Änderung der Sach- und Rechtslage bringen. Die Oberbehörden verlangen neue Ergänzungen, das Spiel wiederholt sich. Schließlich wird der Akt im Justizministerium zurückbehalten und jahrelang die einzig mögliche Erledigung dadurch verhindert.

Noch mehr: Schließlich wird die Einstellung des Verfahrens nach jahrelangem Herumziehen doch gestattet, nachdem zuerst vorsichtig Erkundigungen eingezogen werden, ob nicht wegen dieser Erledigung Presseangriffe zu erwarten seien.

Man glaube nicht, daß sich derart bedenkliche Vorkommnisse nur auf dem Gebiet der politischen Strafjustiz oder auch nur der Strafjustiz ereignen. Ein Beispiel aus dem Bereich der Ziviljustiz soll dies verdeutlichen:

Nicht immer handelt es sich um die Rechtsprechung, sondern auch um unzulässige Auslegung der Gesetze.

„Kriegsverbrecher im Sinne der Abs. 1 und 2 sind auch diejenigen Personen, die während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Österreich, wenn auch nur zeitweise, als Mitglieder der Reichsregierung, Hoheitsträger der NSDAP vom Gauleiter und Gleichgestellten und vom Reichsleiter oder Gleichgestellten aufwärts, Reichsstatthalter, Reichverteidigungskommissäre oder Führer der SS, einschließlich dar. Waffen-SS,-vom Standartenführer aufwärts, tätig waren. Sie sind als Urheber und Rädelsführer dieses Verbrechens mit dem Tode zu bestrafen.

Diese Gcsetzesstelle macht den Gerichten und Staatsanwaltschaften Schwierigkeiten; denn einerseits nimmt sie ausdrücklich auf die Abs. 1 und 2 des gleichen Paragraphen Bezug, die als Begehungszeit des strafbar erklärten Tatbestandes den von den Nationalsozialisten angezettelten Krieg festlegen, andererseits spricht der Abs. 6 aber als Begehungszeit vom Zeitraum der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Österreich. Das NS-Regime hat in Österreich bekanntlich im März 1938 begonnen, der Krieg ist am 1. August 1939 ausgebrochen. Dieser Widerspruch im Gesetzestext kann sich für Personen, die zwar unter § 1, Abs. 6, fallen, aber nur in der Zeit zwischen März 1938 und Kriegsausbruch in einer derartige Stellung tätig waren, günstig geltend machen. Das Justizministerium spricht nun in einem Erlaß aus, Absicht des Gesetzgebers sei es gewesen, mit der oben geschilderten Textierung nichts Geringeres zum Ausdruck zu bringen, als daß für Österreich der Kriegszustand schon im März 1938 begonnen habe. Abgesehen davon, daß dies mit der historischen Wahrheit nicht verein- barlich ist, sind Krieg und Kriegszustand und dergleichen klare völkerrechtliche Begriffe; das Völkerrecht gilt nach Artikel 9 der Verfassung in seinen anerkannten Regeln auch für Österreich; es ist also wohl kaum möglich, daß das Justiz-ministerium in einem Erlaß sich selbst über Begriffe des Völkerrechtes hinwegsetzt.

Diese Vorkommnisse sind nur Exempel aus den letzten beiden Jahren; und vielleicht nicht einmal die ärgsten, die wir nennen können.

Nicht weniger bedenklich ist die gleichzeitige Verwendung hoher Richter für V e r-w altungsaüfgaben. Es geschah doch vor wenigen Wochen vor dem Verfassungsgerichtshof, daß vor diesem zur Vertretung des belangten Justizministeriums, also einer reinen Verwaltungsaufgabe, einer der Präsidenten des Obersten Gerichtshofes auftrat. Mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Trennung der Rechtsprechung und Verwaltung in allen Instanzen war der Vorgang nicht zu vereinbaren. Und auch hier handelt es sich nicht um einen einzelnen Vorgang, sondern um eine tägliche Übung, die einen schweren Mißbrauch darstellt, eine Verletzung des Verfassungsrechtes, das nicht umsonst die strenge Scheidewand zwischen Rechtsprechung und Verwaltung aufgerichtet hat. Da tut allerdings „Reform an Haupt und Gliedern“ not.

Der berühmte alte Spruch am äußeren Tor der Hofburg ist heute wie einst nicht an der gegen die Ringstraße und die vorüberströmende Öffentlichkeit gewendeten Front, sondern an der inneren Stirnwand angebracht, die gegen die Fenster des einstigen Kaiserschlosses gerichtet ist. Die Inn- schrift war ein Aufruf und eine Mahnung, die täglich zu den Mächtigen da drüben in der Burg sprechen sollte, zu den Herrschern eines großen Reiches. Dieses Reich besteht nicht mehr. Aber die Sprache jener Inschrift redet weiter. Auch in diesen kleinen, schwachen Staate — und erst recht in diesem, der ohne das feste Fundament des Rechtes noch weniger als ein anderer bestehen kann — ist er an die Regierenden gerichtet, an sie, die mit der höchsten Verantwortung vor ihrem Volk und vor der Geschichte stehen.

1, Abs. 6, des Kriegsverbrechergesetzes vom 26. Juni 1945 lautet:

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