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Gegen den „Teufel der Verkehrtheit“

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Die organische Entwicklung der Weltwirtschaft des vorigen Jahrhunderts wurde durch die Katastrophen der zwei großen Kriege des nördlichen Erdballes unterbrochen. Seither iöst ein wirtschaftlicher Versuch den anderen mit unheimlich rascher Aufeinanderfolge ab. Ein System jagte förmlich das andere; unbemerkt und unbewußt trat gerade in der europäischen Wirtschaft eine dauernde Revolution an die Stelle natürlicher und ruhig überlegter Entwicklung. Bald suchte man das Heil von der Geldseite her mit Abwertung und Inflation, bald mit minutiösen oder überdimensionierten Planungen.

Reichlich kompendiöse Friedensverträge hatten an der europäischen Wirtschaft kreuz und quer umgebaut, hatten so manches Staatsgebilde ohne Wirtschaftsform geschaffen, Grenzen ohne Geographie wurden mit Zollmauern von ungeahnter Ausdehnung ausgestattet. Vertragliche Rechtsgebilde von ephemärer Dauer, Kontingente, Kartelle garnierten das Trümmerfeld der im vorigen Jahrhundert natürlich, teils sinnvoll drainierten europäischen Wirtschaft innerhalb der Weltwirtschaft. Wirtschaftspolitik, völkerrechtliche und sonstige Jurisprudenz wetteiferten seit dem unglückseligen ersten großen Waffengang in dem undankbaren Karrendienst eines — mehr aus Amtsstuben, denn auf Rädern und von Reedern bewerkstelligten — Güteraustausches. Man vermehrte vielfach die entstandenen geographischen und politischen Hindernisse mit zähen papierenen Schranken und einem kaum mehr entwirrbaren Netz an Verträgen, Klauseln, Paragraphen, Zollpositionen usw.

Im engen Raum eines kleinen, wenn auch wirtschaftlich vielseitigen Gebietes stoßen sich derartige Komplikationen bis zur Un-erträ'glichkeit. Das allgemeine Übel der europäischen zerklüfteten Wirtschaft drängt daher in unserem neuen Österreich um so zwingender zu Wegen der Erkenntnis — und der Selbsterkenntnis: befreien wir uns in allem, was mit der Wirtschaft zusammenhängt, von dem uns schon zur Gewohnheit gewordenen Geist der Komplikation, dem elementaren Hang z papierener Konstruktion und Weitschweifigkeit, verbunden mit Neigung zu Aufschub und einer gewissen Widerspenstigkeit gegen das Einfachere.

Den „Teufel der Verkehrtheit“ nannte Ediar Poe diesen verbreiteten, wenig bewußten psychopathischen Zustand. Vergegenwärtigen wir uns — im Vergleich zur wirtschaftsrechtlichen Gestaltung früherer Epochen — wieviel angewandte Kraft in den Betrieben, wieviel aufgebotener Fleiß in Büros und Ämtern sich heute im internen und zwischenstaatlichen Wirtschaftsverkehr in unzählige kkine, unwirtschaftliche und unprodukrive Verrichtungen verliert. Kraft, Fleiß und Kenntnisse haben sich im Studium und der \nwendung von tausenderlei, von Monat zu Monat veränderlichen Normen, Evidenzen, Statisti-

ken, Interventionen zu reiben, wertvolle Arbeitsstunden für die Anfertigung von Ausweisen für Behörden, Formularien und Fragebogen zu opfern, die schon wegen Umfang und Zahl kaum ernstlich, geschweige denn rasch verarbeitet werden können.

. Es kann kein Zweifel darüber herrschen: Jede Erkenntnis und Beseitigung solcher überflüssiger Arbeit, jede kluge Abklärung des Bodensatzes aus verwaltungstechnischem Gewirr d*r vergangenen Epoche, jeder Vereinfachungsgedanke wird der Förderung der Produktion, des Handels und damit auch des staatlichen Steueraufkommens dienen und noch viel zweckmäßiger zu budgetärer Ersparung führen, als radikaler Beamtenabbau bei unverminderter Uber-lastung, wie sie der angedeutete heutige Zustand der ungezählten Umständlichkeiten, j Sinnlosigkeiten des Alltages mit sich bringt.

Von diesem Ziele müssen mit Rücksicht auf ihren innigen Zusammenhang mit Wirtschaft und “Wohlstand auch Justiz-und Verwaltungsreform geleitet sein. Nach der reichlichen Bescherung mit reichsbehördlichen Gesetzen, Ver- und Anordnungen, Erlässen und Richtlinien, nach der vielfach in Fleisch und Blut übergegangenen Durchsetzung mit nazistischem legislativem- „Gedankengut“, namentlich auf wirtschaftslenkendem oder auf fiskalisti-schem, aber auch auf zivil- und strafrechtlichem Gebiet bedarf es zunächst einer gründlichen Revision der unsystematisch, kasuistisch und unpraktisch gewordenen Gesetzesmaterien, der nicht mehr logisch und zeitgemäß einzuordnenden Normen.

Eine Justizreform, so verheißend ihr Ersparungserfolg auch kalkuliert sein mag, wird nicht nur diesen ihren Zweck verfehlen, sondern auch sehr unpopulär sich auswirken, solange die Zivilgerichte m den zeitraubenden Ehescheidungsprozeduren nach reichs-deutschem Ehegesetz, mit langwierigen, in ihrer rechtlichen Durchsetzung problematischen Wohnungsprozessen und sonst überlastet sind, und solange die ordentlichen Strafgerichte ihre wünschenswerte und verfassungsmäßige Souveränität auf Grund geschriebener und ungeschriebener Normen mit den verschie-dentlichsten Interessenten an Versorgung der Mitmenschen auf Staatskosten zu teilen haben. Die Wirtschaft ist unmittelbar interessiert an möglichst einfacher und kl.irer Handhabung aller Einrichtungen des Handelsregisters, des Gesellschaftsrechtes, an möglichst rascher Durchführung von Rechtsstreitigkeiten, aber nuch an der sogenannten außerstreitigen Be-fassung mit Angelegenheiten von Unternehmungen. Auch das sehr verworren gewordene Gebiet des gewerblichen Rechtsschutzes, Marken- und Patentrecht ver-

dient hier mk Rücksicht auf seine internationale Bedeutung besonderer Erwähnung.

Die gerichtliche Uberprüfungvon Verlassensc haften und Vormundschaften, Generalversammlungsprotokollen usw. darf nicht zu zeitraubenden Problemen und formalistischen Verstiegenheiten führen. Klare, einheitliche Normengebung ist da überall am Platz, bevor am eingelegten Organismus umgebaut wird.

In viel höherem Maß bedürfen fast alle Zweige der staatlichen Verwaltung zunächst einer gründlichen Revision der jetzt täglich in den verschiedentlichsten Ressorts, zum Teil überkreuzend geleisteten, zum Teil bandwurmarrig hintereinander geschalteten Arbeit. Man spricht angesichts der Hypertrophie von Ämtern und Normen, der noch so fühlbaren Geltung der mannigfachen reichsdeutschen Uberkonstruktionen (wie Finanzgesetzgebung, Reichsleistungsgesetz, Marktordnung usw.) samt den einschlägigen Ämtern — mk Recht

von einer „Krise der Verwaltung“ in Österreich, die im Gegensatz zu seinem Ruf als klassisches Land der besten öffentlichen Verwaltung steht. Es darf in einer aufzubauenden Wirtschaft nicht fast zur Regel werden, daß die Ausfertigung eines unbedenklichen Gewerbescheines zehn Monate auf sich warten läßt, daß vor einer selbstverständlichen Erledigung der Gesamtakt zur Stellungnahme, Äußerung oder formalen Erhebung von Behörde zu Behörde wandert, daß so vieles Alltägliche zum Gegenstand von 9itzungen und Gutachten gemacht wird, wo Verantwortungsbewußtsein und sachliche Erfahrung eines Beamten eine prompte Ausfertigung zuläßt. Groteske Erscheinungen, daß ein Akt mit Antrag auf Einreisebewilligung eines unbedenklichen Privatangestellten schließlich 160 Beilagen aufweist, müssen zu den Seltenheiten verwiesen werden können. Sachliche demokra-

tische Verantwortlichkeit wird allerdings vielfach an die Stelle von Beklemmung durch die Politik treten müssen. Es darf in diesem Zusammenhang ein Ausspruch von Viktor Adler zitiert werden:

„Der Kreis dessen, was mit Politik

nichts zu tun hat, kann nicht groß genug

sein; sonst würde das Leben unerträglich.“

Richtig durdidacht ist ja audi die „Politisierung“ der Verwaltung gerade das Gegenteil von Demokratie, nämlich die Inthronisation von gebundener Tendenz, die Überordnung eines parteipolitischen Tagesgebotes über Pflidit- und Verantwortungsgefühl, und über sachliche, im Dienste der staatlichen Allgemeinheit und Gesetzestreue zu fällende Entscheidung.

Bevor an unseren alteingelebten und bewährten österreidiischen Verwaltungsapparat, von den Bezirkshauptmannschaften angefangen, Hand angelegt wird, gibt es zunächst genug an den Methoden, an der praktischen Verwaltungsarbeit zu reformieren, dabei aber auch reformierenden Verhaltens in der laufenden Gesetzgebung nicht zu vergessen.

Im Laufe der von politisdien Einflüssen gehetzten Epochen hat man immer mehr und mehr vergessen, Systematik zu pflegen, und auch eine gewisse Unterscheidung von „Recht“ als überzeitlichem systematischem Begriff — und „Norm“, als Erfordernis des Tages, hochzuhalten, ein Thema, über das sich jüngst die Arbeit eines jüngeren Juristen sehr aufschlußreich und gedanklich klar mk Hinweisen auf internationale Auffassungen .verbreitete *.

Festigkeit, Fairneß und Ruhe werden an Stelle einer unliebsamen Flickgesetzgebung die grundlegenden Voraussetzungen für Justiz und Verwaltungsreform zu bilden haben und damit am besten der Gesundung unserer Wirtschaft und dem Ansehen und dem Kredite unseres Staatswesens dienen.

Alles, was reformierend angepackt wird, wird unter Bedachtnahme auf die großen Aufgaben zu gesdiehen haben, die sich aus der geopolitischen Struktur Österreichs, aus seinen Pflichten, Rechten und Chancen im Donauraum, als Mittler zwischen West und Ost, Süd und Nord, aus seiner Tradition, aus seinen Aktiven an Bodenschätzen, an Naturschönheiten, Heilbädern und Heilstätten, an Kunstsdiätzen und Kunstletstun-gen, aus seinem wissenschaftlichen Ruf ergeben, nicht zu vergessen auch die Tatsache, daß Wien als Zentrum für Kongresse, Messen allen Art und schließlich auch ak Sitz von großen Finanzinstituten seine Berufung verdient.

Alles, was geschieht, muß von diesem Blickpunkt aus wahrgenommen werden. Man wird sich darum besser zunächst von großartigen Reformkonstruktionen zurück-

halten, für welche ja auch die räumlichen und baustofflichen Voraussetzungen fehlen. Arbeitsreform, Vereinfachung, Klarheit, Beseitigung von engstirnigen Doktrinen und kleinlichen fiskalischen Maßnahmen und Bedenken, sind die greifbaren nächstliegenden Ziele jeder Reformabsicht. Mit einem geläuterten und vereinfachten System an Normen, mit knappen und klaren Rechtsignalen, mit verläßlicher Rechtsprechung und Rechtdurchsetzung wird nicht nur Befriedigung und Befriedung der Mensdiheit und höhere Ethik erzielt, sondern auch der Produktion und dem Austausch von Gütern die wünschenswerte, unbehinderte Bahn geebnet.

* Die Delegierung in Theorie und Praxis verschiedener Länder von Dr. Tgna?: Sei.Ü-Hohenvelden, in der Jur.-Zeitung vom 20. Dezember.

Wie töricht ist es, wenn Menschen durch irgendwelche Furcht und Zweifel vor der weiteren Zukunft sich niederdrücken lassen! Wenn Menschen glauben, sie könnten dadurch glücklicher sein, daß sie alles schon im voraus wüßten, was kommen wird und was sie zu tun haben werden! Nicht dieses Wissen macht glücklich, sondern das Tun dessen, was man für jetzt, für diesen Augenblick, als notwendig erkannt hat.

Was wir nun als Aufgabe für unser Leben erkannt haben, das gilt nicht weniger auch für unsere Arbeit an den Mitmenschen. Sorgen wir uns nicht bezüglich der Anfgaben, die uns gestellt sind, weder darum, ob sie zu gering für uns sind, noch darum, ob zuviel von uns verlangt wird! Sorgen wir nur für dieses Stück von Arbeit, das wir augenblicklich zu vollbringen haben! Wenn wir dieses Stück Arbeit recht leisten, dann ist es eine Stufe, auf welcher wieder andere Stufen aufgebaut werden können. Und es werden sich so die Stufen aneinanderreihen, auf denen wir näher, Ja bis hin zu Gott kommen.

Ignaz S e i p • 1: „Vpn der sozialen Liebe“

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