6537450-1946_23_06.jpg
Digital In Arbeit

Unbewußte Krankheitsherde der Gegenwart

Werbung
Werbung
Werbung

Aus der Not eine Tugend zu machen, ist das Privileg der Paarung von Geist und Charakter. Ist das eine oder andere verkümmert, so vervielfältigt sich die Erscheinung, daß man aus der Not alles andere — nur keine Tugend macht. Darum die Beobachtung, daß so weitgehend legislativ und mit Verordnungsgewalt von allen Seiten her Dinge berührt werden, die in normaler Zeit zu jedermanns selbstverständlichem Gemeingut und Lebensmaxime zählten. Die Not offenbart an sich wirklichen Charakter, Mutige und Heilige. Sie fördert den Gemeinsinn und Zusammenschluß, Sie läßt aber in gleichem Maße das Unkraut in die Halme schießen.

Nach dem Erlebnis der grauenhaften Vergangenheit, einer Steigerung von Geist-losigkeit und Untugend in das Maßlose dürfen wir nicht blind bleiben gegenüber den latenten Gefahren, die auch die von verderblichem politischem Geist säubernde Gegenwart in ihrem Alltag birgt:

Es sind dies die uns noch auf Schritt und Tritt begegnenden Sinnlosigkeitender „Steuerung“ „Lenkung“ oder „Planung“ des täglichen Lebens und eine damit in Wechselwirkung stehende Schwunglosigkeit der betroffenen Menschen sowie der gesellschaftlichen Einrichtungen in Verkehr, Amt und Wirtschaft. Durch ein in sieben Jahren nach unseren Regionen verpflanztes künstliches und mißbräuchliches „Tempo“, durch eine falsch verstandene Geschäftigkeit im unentwegten „Anordnen“ und „Verordnen“ würde eine wirklich durchdachte und gewachsene Ordnung nur gehemmt. Neben dem Chaos noch geltender Kriegsgesetze (zum Beispiel Reichsleistungsgesetz), älterer noch gehandhabter Normen des Dritten Reichs und so mancher juridischer Dilemmen aus dem Zwischenreich von Vergangenheit und Gegenwart prallen uns von Tag zu Tag neue Maßregeln entgegen, die durchaus zu begrüßen wären, wenn sie sich nicht von vornherein als Stück- und Flickwerk und kurzlebige Provisorien erkennen ließen. Mehr als für jede andere gedankliche Arbeit gilt für die staatliche Noriru-ngebung das Tayllerand-sche Wort: „Man muß sich Zeit nehmen, kurz zu sein.“

Gerne fügt sich das praktische Leben einer kurzen, klaren, wenn auch strengen Norm. Systemlosigkeit, Unergründlichkeit dagegen, Überflüssigkeit oder Unsicherheit, ob diese oder jene Vorschrift noch gilt oder eine dritte irgendwo in einer anderen Zone gehandhabt ist, züchtet Verständnislosigkeit und unverdiente Entfremdung der Bevölkerung gegenüber Juristik und Beamtentum, verteuert und verzögert die Intention und Anwendung der Gesetzgebung. Eine Normengebung, der für den praktischen Gebrauch die nötige Flüssigkeit mangelt, zeitigt planlose und einseitige Selbsthilfe und Schleichwege, züchtet gewissenlose und unbefugte Rat-geberei und verursacht stufenweisen Abbau der Erkenntnis und Achtung des Wertes wissenschaftlicher Arbeit im Staatsund Rechtsleben. Ihre minder sichtbare, aber deshalb um so gefährlichere Folge ist die Hemmung des Wirtschaftslebens, eine Folge, die gerade in den primitivsten Ansätzen einer katastrophal verarmten Wirtschaft als ganz besonders bedenklich empfunden werden muß. Verwaltungstechnische Überflüssigkeiten, bürokratische Überspitztheiten — um deren Beispiele auch heute nach Ablauf eines Jahres, seit unser Lr.nd von Preußengeist ' und kriegswirtschaftlichem Terror befreit worden ist, niemand verlegen sein wird —, hemmen die so unentbehrliche Privatinitiative. Sie ersticken die Triebkraft des einzelnen, der, von Amt zu Amt verwiesen, wertvolle Zeit verwarten muß, sich in einer Wirrnis von gedruckten oder behaupteten Vorschriften nicht zurechtfinden kann,dabei auf die gleiche Unsicherheit von Amtsstellen oder Gegensätzlichkeit derselben stößt, um schließlich ein ersprießliches wirtschaftliches oder kulturelles Ziel aufzugeben. — Demoralisation und Stumpfheit sind die Folgen!

Nicht zu vergessen der untragbaren, unmittelbaren Kosten eines überspitzten staatlichen Kontrollapparates und der mittelbaren Belastung der Wirtschaft.

Zeit, Mühe und Spesen, überflüssige Evidenzen und sonstiger formaler Arbeit der Beibringung von langatmigen Formularen und Bescheinigungen tollster Art ist vielfach ein kaum mehr verantwortlicher Kalkulationsfaktor der Gestehungskosten.

Nicht umsonst hatte man schon vor mehr als zwei Jahrzehnten, bald nach dem ersten Weltkrieg, in der Erkenntnis der Ausartung der rechtlichen Normengebung und der Kriegsbürokratie zu deren Abhilfe in England eine Adv.sory Council of business-men gebildet, in Würdigung* der Wichtigkeit dieser Aufgabe sogar unter Vorsitz des Premierministers.

Nur der äußere Umfang der. Staats- und Bundesgesetzblätter eines der Nachkriegsjahre gegenüber einem dünnen Band des alten österreichischen Reichsgesetz- und Verordnungsblattes kennzeichnet das Wachstum diesbezüglicher Produktion, von der Hyper-throphie reichsdeutscher Gesetze, An- und Verordnungen ganz zu schweigen.

Zur Zeit, als der Satz „Justitia regnorum fundamentum“ in die Steine unseres alten Burgtores gemeißelt wurde, war auch Gesetz-und Verwaltungsnörm lapidar, kompakt und stet. Man hatte streng „Recht“ und „Norm“ unterschieden. Recht als die säkulare Satzung, abgeleitet aus zwingender Moral und Religiosität und allen sozialen Grundsätzen, die für das kulturelle Zusammenleben der menschlichen Gesellschaft einmal unentbehrlich sind, Verordnungen, und Erlässe andererseits als zeitgemäße Richtlinien für rechtliche und administrative Bedürfnisse der staatlichen und privaten Wirtschaft, der Finanzverwaltung und des täglichen Verkehrs. Und die nur selten verschobene Stetigkeit des Rechtes, die Knappheit der Normen, „der dünne Band“ genügte lange genug, ein großes Reich — trotz vielerlei Gegensätzen und verschiedentlichsten Lebensbedingungen — einheitlich zu lenken und in einer heute geradezu verwunderlichen Ordnung zu halten.

Die Quantität geht auf legislativem Gebiete mehr als auf irgendeinem anderen auf Kosten der Qualität. In diesem Sinn darf die bisherige Zurückhaltung unseres jungen Parlamentes und die gute juridis'ch durchdachte und korrekt stilisierte Arbeit besonders begrüßt, gleichzeitig aber vor einer Verlockung zu übereilten g e s e t z e s t e c h n i s c h e n Vorlagen gewarnt werden. Es sei in diesem Zusammenhang von einem jüngst lautgewordenen Projekt einer wirtschaftlich und praktisch schwer bedenklichen W i e-dereinführung alter österreichischer Stempel- und Gebührenvorschriften gesprochen, und zwar jener Vorschriften, die mit der im •Jahre 1943 abgeschafften reichsdeutschen Urkundensteuer mefcr oder weniger ident waren. Nichts erhöht die Rechtssicherheit wirksamer, nichts unterstützt die geschäftliche und rechtliche Moral besser als eine ordentliche, urkundliche Festlegung. Nichts aber unterbindet diesen wünschenswerten Rechtsschutz und die geschäftliche Verkehrssicherheit verderblicher als eine fiskalische Verfolgung jeglichen geschriebenen Wortes im täglichen Rechts- und Geschäftsverkehr. Welche Komplikationen die Flucht vor dem stempelpflichtigen Wort, die berüchtigten „bedingt gebührenfreien Gedenkprotokolle“, Aktennotizen usw. herbeigeführt haben, zu welchen moralischen Verstiegenheiten, wie Vertragsreil en ins „gebührenfreie Ausland“, Auslandsgri n-dungen usw., dieser Zustand der Erfassung jeder Urkunde verführt hat, das weiß ebenso der praktische Jurist, Notar und Anwalt, der Geschäftsmann als auch, aus einer Unzahl unsichtiger Prozesse, der Zivil- und Strafrichter.

Der hier möglicherweise vorkalkulierte Posten eines schwierigen Staatsbudgets darf über diese zweifellos viel fachen Nachteile einer solchen sinnwidrigen und lähmenden Wiedereinführung nicht hinwegtäuschen. Denn im Wirtschafts- wie im Staatsleben bedeutet jeder unverhältnismäßige Aufwand von Zeit und Geld für geistige Arbeit eine sehr beachtenswerte Beschwernis. Vertrags freiheit dagegen wird das Auslandsgeschäft i n unser Land hereinziehen.

Mit Absicht werden hier noch besteherde und für jedermann täglich fühlbare Sinnlosigkeiten aus der Kriegszeit oder Einführungen, welche in einem lange bedrückten, nun befreiten Land' die so nötige Schwungkraft lähmen, nicht im einzelnen erwähnt. „Minima non curat praetor“, läßt sich auf viele, wenn auch nicht auf alle diese Erscheinungen anwenden. In ihrer Summe aber führen sie jedenfalls zu einer Lähmung, wenn nicht Resignation oder Trägheit. Aber sie werden von selbst “verschwinden, wenn nur einmal der Geist zu einer weisen Zurückhaltung in amtlicher Normengebung, zu Ordnung, Rationalisierung und Musterung der Kriegsbürokratie, ihrer Pragraphen, Ge- und Verbote geweckt ist, Ressortbedenklichkeit einem universelleren Geist der allgemeinen Wirtschaftsförderung Platz macht, wenn man erkennt, wie prächtig man ohne allzuviel Anschüttung auf dem Boden des bestehenden Rechts mit Erkenntnis seiner Fruchtbarkeit und kluger Jätung auskommen kann. So wie Komplikationen und Krieg nahestehende Begriffe auf der negativen Seite der Mensch-heitsentwicklung sind, so stehen auf ihrer positiven Seite, der des Kulturanstiegs, des Fortschritts und Friedens: die Begriffe Genialität und Freiheit. Und letztere nicht zuletzt im Sinn von Befreiung von Umständlichkeiten, von Schwung- und Sinnlosigkeit auch im Alltag!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung