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Die nackte Welle

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„Jedermann ist es verboten, ein Verhalten zu setzen, von dem er schon nach seinem natürlichen, für jedermann leicht erkennbaren Folgen einzusehen vermag, daß es geeignet ist, die Gejahr einer Verwahrlosung oder sonstigen Entwicklungsschädigung von Kindern oder Jugendlichen herbeizuführen.“ (Wiener Jugendschutzgesetz, 1, Abs. 2.)

Die vorgesehenen und mit Strafsanktionen für Zuwiderhandeln aufgestellten Normen in Sachen des Jugendschutzes und das tatsächliche Verhältnis der ex offo Verantwortlichen, noch mehr aber der großen Öffentlichkeit, sind keineswegs immer aufeinander abgestimmt.

Erwachsene zeigen in ihrer Presse und bei dem von ihnen gesteuerten Informationsdargebot nicht selten eine aufdringliche Toleranz, die sich darin ausweist, daß den jungen Menschen eine Sexfixierung, die unvermeidbar zu einer „Entwicklungsschädigung“ etwa im Sinne des zitierten Gesetzes führen muß, nicht nur als zumutbar, sondern als Verhaltensnorm vorgestellt, wenn nicht vorgesahirieben wird. Die Pompadour ist vielfach Leitbild der ,Society“ geworden.

In Dänemark ist man Im vergangenen Jahr noch weiter gegangen und hat sogar Erläuterungen über die Empfängnisverhütung für Schulmädchen in das Programm des Schulfunks aufgenommen — es fehlt nur noch die Aufnahme als Lehrgegenstand in den offiziellen Lehrplan. In der Mehrheit der ausländischen Bildpresse und in ihren für die „Eingeborenen“ in Österreich bestimmten Ausgaben wird heute dem Sexuellen eine publizistische Hervorhebung zuteil, die allmählich die Wirkung einer gesellschaftlichen Kontrolle hat. Die groteske Prostituiertenmode des Halbbikini erfuhr im letzten Sommer eine publizistische und gesellschaftliche Würdigung, die große politische Ereignisse völlig in den Schatten stellte und sich durch Wochen auf dem Rang von Weltnachriohten stabilisierte.

Auf der ersten Seite vieler Zeitungen, also auf der „Verpackung“, wird jedenfalls das Sexuelle als vorherrschende Lebens-, wenn nicht Kulturäußerung erklärt. Auf der nächsten Seite wird freilich gespielte Entrüstung darüber geäußert, wenn junge Menschen (und puerile Erwachsene) die letzte Konsequenz aus ihren reich und attraktiv servierten Anboten ziehen und diese in einer Weise annehmen und in ostentatives Verhalten übersetzen, daß sie schließlich mit dem Strafgesetzbuch in Widerspruch kommen. Die Jugend etabliert schließlich ihr Verhalten oft in der Grenzzone des Sexualverbrechens, weil die Apathie der beamteten „Moralschützer“ (um einen Terminus der Boulevardpresse zu übernehmen) sie vermuten läßt, es sei einfach alles erlaubt.

Die letzte Konsequenz aus einer mehr als doppelzüngigen Haltung der Gesellschaft gegenüber dem Propagieren sexueller und sonstiger Freizügigkeit muß wieder eben diese Gesellschaft tragen, auf die im Notfall, wenn es zur Zahlung der „Rechnung“ kommt, Regreß genommen wird. Das ist bei sexueller Perversion ebenso wie etwa beim Alkoholexzeß:

• Von den Insassen der Heilanstalt „Am Steinhof“ sind 63 Prozent Trinker.Die amtlich bekanntgewordenen Alkoholexzesse Jugendlicher sind in den letzten Jahren um 500 Prozent gestiegen. Kein Wunder bei einem registrierten, das heißt steuerlich einbekannten Alkoholkonsum von acht Milliarden Schilling (1962).

• Oskar Lachner schildert uns („Soziale Sicherheit“, Wien 1964), welchen Umfang die Auswirkung der „geänderten Lebensbedingungen“ auf die sittlich-soziale Lage der Kinder hat: In den USA hat es 1960 nicht weniger als 5000 Mädchen unter 15 Jahren gegeben, die ein Kind erwarteten. In der Bundesrepublik Deutschland gab es 1959 nicht weniger als 63.680 Sittlichkeitsdelikte (gegenüber 1958 plus 9,3 Prozent); in St. Pauli (Hamburg) werden ständig 200 bis 300 Mädchen zwischen 14 und 15 Jahren als Strip-tease-Girls verwendet; in Hamburg wurden im Jahr 1962 685 Kinder (unter 14 Jahren) vergewaltigt.

Das sind Auszüge aus einer uns allen zur Einlösung präsentierten Rechnung, deren Endsumme man nicht mit „Prüderie“ und mit dem Hinweis auf ein Allzuviel an „Tabus“ in ihrem Bedeutungsgewicht herabsetzen kann.

Die Disziplinieruing der sexuellen Perversion durch die Gesellschaft kann nicht in der Weise erfolgen,daß man lediglich Symptomkuren praktiziert und einfach wie ein Standardrisiiko die wirtschaftlichen Folgen eines Entartungsverhaltens auf die Allgemeinheit überwälzt, die dann für ihre „Toleranz“ teuer zahlen muß.

In erster Linie bedarf es einer Änderung des unmittelbaren sozialen und sittlichen Milieus der Jugendlichen, das heißt einer Reparatur des Elternhauses, die nur von diesem selbst unter Mithilfe der Erziehungseinrichtungen der Gesellschaft vorgenommen werden kann. Die jungen Menschen reflektieren nun einmal im sittlichen Aufwuchs weitgehend die Lebens- und noch mehr die Erlebensbedingungen des Elternhauses und (im Dorf) auch in der Nachbarschaft. Der Gesetzgeber selbst ist in einer freiheitlichen Gesellschaft angesichts der Art, wie sich die Menschen in der Intimsphäre der Familie seinen Einflüssen entziehen können, vielfach machtlos und muß dulden, daß Bedingungen entstehen, die seinen eigenen Normen widersprechen. Die Behörden können sich dann lediglich in der Grenzsituation des Exzesses als Richter und Ankläger engagieren.

Was sollen die Behörden tun, wenn heute Mädchen von 17 Jahren unter den Augen, wenn nicht bei Förderung seitens ihrer Eltern, Lebensgemeinschaften eingehen dürfen, wenn Eltern eine Literatur konsumieren, die allem widerspricht, was den Sinn des behördlichen Jugendschutzes ausmacht, und dies vor ihren Kindern, wenn Eltern, enthemmt durch Alkoholgenuß, eine Konversation führen, die keine Schranken mehr kennt, die man höhnisch und nur um die Kenntnis von Fremdwörtern zu demonstrieren, „Tabus“ nennt?

Warum soll dann das Kind die Last der Eigenverantwortung und einer Strafe tragen, allein weil es nachvollzogen hat, was Ihm seine Erzieher, die es nach göttlichem Gebot „ehren“ soll, vorgeführt haben?

Dagegen kann der Staat, besser, können die mit der Durchführung der m. E. durchaus geeigneten Gesetze zum Schutz der Jugend betrauten Organe, die Behörden und die beamteten Erzieher einen wesentlichen Beitrag leisten, soweit es um die Gestaltung der Umweltbedingungen für die Jugend geht: Durch eine korrekte Anwendung der ohnedies bestehenden und keineswegs unzureichenden Gesetze.

Die auf öffentlichen Plätzen prangenden Plakate haben einen Grad attraktiver Wirkung auf Jugendliche und Kinder erreicht, die bereits die Qualität eines Annahmegebots hat. Von einem Verbot der plakatierten Obszönitäten ist so gut wie keine Rede, da die Polizei offenkundig den Befehl hat, Blindheit zu markieren. Wieweit das Geschäft („Profit“) dahintersteht und Geschäftemacher die Behörden unter Druck setzen, kann vermutet, aber nicht belegt werden.

Die pansexualistische Welle hat unser Land erreicht. Höhnisch proklamiert das ein Teil der Presse. Jedes Dorf, jeder Einödhof liegt im Bereich der Sexofferte. Die Behörden spielen die „Machtlosen“. Kein Wunder. Mit Sex wird Geschäft gemacht. Die großen Herren der sexetikettierten Produktion haben gute soziale und andere Positionen und halten sie bei jedem politischen Klimawechsel, besteht doch ihre Handbibliothek zu diesem Zweck aus einem guten Sortiment von Mitgliedsbüchern, deren Wert über jenen der Wiegendrucke oft hinausgeht.

Westliche Kultur wird vielfach als durch Sex repräsentiert erklärt. Bürgerliche Zeitungen glauben, Anzeichen einer Verwestlichung der östlichen Kultur im Eindringen der Sexfixierung der Jugend zu sehen, in der Ablösung der Ideenproduktion die bisher nach Marx von den Produktionsverhältnissen ausgegangen ist, durch die Sexbezüge — wie Freud es uns dargestellt hat. Vielen können sich die Zeichen innerer Freiheit im Osten einfach nur durch das Registrieren von Sexorgien anzeigen, die beifällig registriert werden.

Normadressat des Jugendschutzes sind in erster Linie die geborenen und die beamteten (die „gekorenen“) Erzieher, tatsächlich aber die Gesellschaft als Ganzes. Mehr noch: Wir alle sind angesprochen, für jeden jungen Menschen, der die Chance hat oder auf der anderen Seite in Gefahr kommt, von uns beeinflußt zu werden.

Wenn die Exekutionsorgane der Gesellschaft bei Vollzug ihres Auftrages versagen, entsteht ein elementarer Erziehungsnotstand. Es ist leicht, mit den schnodderigen Phrasen von „Moralschützern“ jene Personen, die sich in die Angelegenheit des Jugendschutzes engagieren, ab-zutun und lächerlich zu machen — darauf zielt man. Lösungen bieten jedenfalls die zynischen Glossen einer nur auf Profitmaximierung bedachten Presse keine, um so mehr, als für eben diese Presse das Sexgeschäft sehr profitabel ist. Jugendschutz aber ist für viele eine latente Geschäftsstörung.

Es wäre nun Zeit, da Beweismaterial in einem ausreichenden Umfang vorliegt, zu bedenken:

Die sittliche und kulturelle Abwegigkeit des Verhaltens, das den Jungen von gewinnsüchtigen Erwachsenen aufgezwungen wird, hat sich derart verdichtet, daß man, ohne sich einer Übertreibung schuldig zu machen, von einer Gefährdung der Substanz unserer Gesellschaft sprechen kann. Wer meint, die Qualität einer Gesellschaft weise sich nur in ihrem Sozialprodukt, in der Zahl der Staubsauger oder im Papiergewicht des Bücherkonsums aus, der irrt.

Mit Recht hat der lutherische Bischof Dr. Bengt Jonzon (Schweden) kürzlich festgestellt, daß die „neue Sexmoral“ nichts anderes sei als das, Was man früher schlicht und einfach Unmoral genannt habe. Un-Moral aber führt über den sexuellen Bereich hinaus in das Feld gesellschaftlichen Gesamtverhaltens und zur sozialen Desintegration.

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