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Nochmals Proporz

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Vor einigen Wochen veröffentlichte die „Furche“ an leitender Stelle einen Aufsatz*, der eine der meistbesprochenen und meistumstrittenen Institutionen unseres öffentlichen Lebens zum Gegenstand hatte — den sogenannten Proporz. Dem Autor des betreffenden Aritkels war es vor allem darum zu tun, gewisse Vorurteile oder Fehlmeinungen, die in der Diskussion um den Proporz zur Geltung gekommen sind, zu korrigieren; so zum Beispiel die weitverbreitete, obwohl ja schon durch die hervorragenden Leistungen unserer verstaatlichten Industrie widerlegte Ansicht, daß die vielen in dieser Industrie beschäftigten Fachleute ihre Anstellung durchwegs dem „richtigen“ Parteibuch und nicht ihrem fachlichen Können verdanken. Auch hat er mit bemerkenswerter Offenheit und Objektivität an Hand einiger Beispiele auf die grotesken Folgen hingewiesen, die sich aus der Starre des auf Jahre hinaus vertraglich festgelegten „Proporzschlüssels“ ergeben, wenn für einen zu besetzenden Posten keine Anwärter der „richtigen“ parteipolitischen Färbung greifbar sind. Und ebenso hat er die Verschleuderung öffentlicher Mittel nicht unerwähnt gelassen, die eintreten muß, wenn — solche Fälle, meint er, seien allerdings nicht häufig — hochdotierte und verantwortungsvolle Stellungen Leuten zugewiesen werden, die keine andere Qualifikation aufzuweisen haben als das parteipolitisch „richtige“ Bekenntnis. Grundsätzlich aber erhebt der Autor gegen den Proporz, wie er sich bei uns eingebürgert hat, keine Einwendung; er betrachtet ihn nicht nur als eine nun einmal gegebene und so gut wie unabänderliche politische Realität, sondern als eine gültige, aus dem Recht der politischen Parteien erwachsene Einrichtung, die, um restlos bejaht werden zu können, bloß von einigen wenigen Auswüchsen zu befreien wäre. Das-ist eine Auffassung, gegen die sich mehr als ein Argument ins Treffen führen läßt.

Es gibt kaum ein anderes Wort, das in unserer Zeit so häufig gebraucht und so verschiedentlich gedeutet oder auch mißdeutet wird wie das Wort Demokratie. Jabei wird aber fast immer übersehen, worin der Kern des demokratischen Prinzips und sein eigentlicher Wert besteht. Vieles, was man als demokratische Errungenschaften zu bezeichnen pflegt, wie Rechtssicherheit, Gleichheit vor dem Gesetz, Meinungs- und Koalitionsfreiheit und vieles andere mehr, wurde tatsächlich schon im „vordemokratischen“ Zeitalter, unter Formen des staatlichen Lebens, denen heute gern das Attribut „reaktionär“ beigelegt wird, verwirklicht. Was die Demokratie aber mit Recht für sich allein in Anspruch nehmen kann, ist, daß sie das bisnun einzige System darstellt, welches es dem Volke ermöglicht, sich einer mißliebig gewordenen oder als unerträglich empfundenen Regierung ohne gewaltsame Revolution zu entledigen und sie auf dem gleichen friedlichen Wege durch eine andere, der Kontrolle einer gewählten Volksvertretung unterstehenden Regierung zu ersetzen. Für das Gemeinwesen ist das ein Gewinn, der nicht durch eine zu weitgehende und in seinem Wesen gar nicht begründete Interpretation des demokratischen Prinzips geschmälert oder gar zu teuer bezahlt werden sollte. Woran ein jedes Volk, gleich unter welcher Staats- oder Regierungsform, ein elementares Interesse hat, ist eine gewissenhafte, zuverlässig funktionierende und in jeder Hinsicht unbestechliche Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten. Diesem Erfordernis kann nur durch die parteipolitische Unabhängigkeit der Justiz und der politischen Administration voll entsprochen werden. Von einer solchen Unabhängigkeit ist in einer Despotie natürlich keine Rede. Der Despot oder die despotisch herrschende Gruppe muß als erstes bestrebt sein, alle Zweige der Verwaltung möglichst lückenlos mit Parteigängern zu besetzen, die, im Gegensatz zum unparteilichen Berufsbeamten, nicht die Verpflichtung gegenüber dem Staate und dem Volksganzen, sondern die Erhaltung des bestehenden Machtsystems und den Willen des Machthabers als oberstes Gebot betrachten. Die braune wie die rote Diktatur hat das wohl zur Genüge gezeigt. Wenn anderseits die österreichische Monarchie die anerkannt beste Verwaltung unter allen Staaten Europas hatte, so war dies einem Berufsbeamtenstand zu verdanken, dessen Stolz in seinem verantwortungsbewußten Patriotismus und der sorgfältigsten Pflichterfüllung auf streng überparteilicher und übernationaler Ebene lag. Und wenn die Französische Republik noch nicht in völliges Chaos geraten ist, so ist das vor allem einem vorzüglich ausgebildeten Berufsbeamtentum zuzuschreiben, dem der Dienst am Vaterland als die entscheidende Richtschnur gilt.

Es ist selbstverständlich und dem Sinn der Demokratie sicherlich nicht widersprechend, wenn eine Partei, die durch das Votum der Wähler zur Uebernahme der Regierung oder zum Mitregieren in einer Koalition berufen wurde, die gewonnene Position nicht nur zu erhalten, sondern auszubauen sucht; und es wäre ebenso unbillig wie unrealistisch gedacht, wollte man ihr einen Vorwurf daraus machen, wenn sie ihre Macht und ihren Einfluß auch dazu verwendet, um Anhängern, die ihr besonders wertvoll erscheinen, persönliche Vorteile zukommen zu lassen, sofern dies ohne Schaden für die Allgemeinheit geschehen kann. Auf diesem einschränkenden Satz aber liegt der Schwerpunkt. Der Autor des erwähnten Artikels hat durchaus recht, wenn er sagt, daß es Protektion und daraus sich ergebende Fehlbesetzungen wichtiger Posten auch in früherer Zeit gegeben hat; wozu allerdings zu bemerken wäre, daß es nicht selten nur einer vielleicht Anstoß erregenden Protektion zu danken war, wenn statt eines Versagers, dem das betreffende Amt auf Grund des

Schematismus zugefallen wäre, der bestgeeignete Mann zum Zuge kam. Jedenfalls ist es weit weniger undemokratisch, wenn einzelne, ob mit Recht oder Unrecht, zum Nachteil einzelner bevorzugt werden, als wenn die weitesten Bezirke des öffentlichen Lebens parteipolitische Reservate geworden sind, zu denen „Andersgläubige“ grundsätzlich keinen Zutritt haben. Und gerade das ist es, was den Proporz österreichischer Prägung charakterisiert.

Das Bild, das sich heute dem gelernten Oesterreicher bietet, ist, daß die beiden Regierungsparteien „ihre“ Ministerien und vielleicht mehr noch alle von diesen Ministerien irgendwie abhängigen Körperschaften, Institutionen un'd Organisationen als ihre private Domäne betrachten, zu deren Nutzgenuß, von einem Mitspracherecht bei der Führung ganz zu schweigen, soweit als möglich nur die Anhänger der eigenen Partei zuzulassen sind. Wie wenig man sich auf diesen parteipolitischen Jagdgründen um die Beachtung des sonst so gepriesenen Proporzes und nicht selten selbst um die elementarsten Forderungen der Gerechtigkeit kümmert, dafür bedarf es wohl keiner weiteren Erläuterung.

Zu erwähnen wäre nur noch eine in der Oeffentlichkeit leider viel zu wenig beachtete Eigentümlichkeit des Systems, das sich da breitgemacht hat. In ihrem Bemühen, die imaginäre „dritte Kraft“ auf ihre Seite zu bringen, zeigen-beide Regierungsparteien eine beunruhigende Bereitwilligkeit, verantwortungsvolle Posten selbst in Dienstzweigen, in denen unbedingte Staatstreue die erste Voraussetzung einer Anstellung sein müßte, lieber Leuten anzuvertrauen, deren patriotische Verläßlichkeit, gelinde gesagt, zweifelhaft ist, als bestimmt treuen Oesterreichern, die nur den Fehler haben, daß sie der Partei des Koalitionspartners zuzuzählen sind.

Es wäre sinnlos, sich übertriebenen Hoffnungen hinzugeben und zu erwarten, daß unsere beiden großen Parteien sich dazu entschließen könnten, mit all den schweren Uebelständen aufzuräumen, die eine willkürliche und letzten Endes wesentlich undemokratische Auslegung des Proporzgedankens gezeitigt hat. Aber vielleicht werden sie eines Tages doch erkennen, welche Gefahr für den inneren Frieden die Ver-politisierung aller Zweige unseres Staatsapparates bedeutet; eine Gefahr, die besonders dannaktuell zu werden droht, wenn der doch mögliche Fall eintritt, daß die Koalition sich auflöst und eine der heutigen Regierungsparteien sich mit der Rolle der Opposition begnügen muß. Es ist nicht nur eine Lebensfrage für den Staat und die Gesanjtheit des Volkes, es liegt im wohlverstandenen Interesse der politischen Parteien selbst, daß zumal der Richter, der Beamte der Justiz- oder der Zivilverwaltung, der Exekutive wie der Offizier des Bundesheeres sich nicht einer politischen Partei, sondern allein und ausschließlich dem Staate verpflichtet fühlt; ob ein Minister dieser oder jener Couleur seine Ernennung oder Beförderung unterschrieben hat, und unbeschadet seiner persönlichen parteipolitischen Einstellung, der Diener des Staates darf nie in einem Zweifel darüber sein, daß seine Treue und seine Loyalität einzig und ungeteilt dem österreichischen Staate, dem österreichischen Vaterland gehören. Denn niemand kann zwei Herren dienen, und es wäre hoch an der Zeit, daß sich die Führer unserer großen Parteien dessen bewußt würden.

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