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Politik im Wandel

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Wenn man nach der schrittweisen Erringung demokratischer Einrichtungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach dem wesentlichen Inhalt der Politik gefragt hätte, so wären zweifellos vor allem der Kampf um die Demokratisierung des Wahlrechts, die Fragen des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche, insbesondere hinsichtlich Ehe- und Schulgesetzgebung, sowie ähnliches aufgezählt worden. Wenn man anderseits in unserer Zeit den „Mann von der Straße“ nach den Hauptinhalten und Kernproblemen der österreichischen Politik während der letzten Jahre bis in die Gegenwart fragen würde, bekäme man wohl an erster Stelle den Wiederaufbau, die Anstrengungen um die wirtschaftliche Entwicklung, die soziale Sicherheit, die Auseinandersetzungen um den gerechten Anteil am Sozialprodukt, allenfalls auch noch die Probleme der wirtschaftlichen Integration genannt. Jedenfalls würden Fragen der materiellen Selbstbehauptung der Gesellschaften im Vordergrund stehen.

Diese Erscheinung ist natürlich nicht, nur für Österreich typisch. Überall spricht man davon, daß sich nicht nur die Wirtschaft einem ständigen Prozeß der Vermachtung und Verpolitisierung gegenübersieht, sondern daß auch die Politik in zunehmendem Maße sozusagen eine Verwirtschaftlichung erfährt. Natürlich mußte dies in den Staaten, die von den Zerstörungen des letzten Krieges am meisten betroffen waren, auch am stärksten zum Ausdruck kommen. Gilt doch immer noch der Satz: „Primum vivere, deinde phi- losophari“ (erst leben, dann philosophieren).

Nun scheint sich aber für aufmerksame Beobachter schon seit einiger Zeit eine gewisse Wandlung anzubahnen: Nicht zuletzt wird dies bei den gegenwärtig stattflndenden Budgetberatungen in unserem Nationalrat deutlich: Da erklärte beispielsweise der Justizminister, ein umfangreiches Gesetzgebungsprogramm vorzuhaben: Familienrechtsreform, das sogenannte Antikorruptionsgesetz, Strafgesetznovelle und Strafprozeßnovelle zur Wahrung des Fernmeldegeheimnisses, ein österreichisches Aktiengesetz und eine Genossenschaftsnovelle, um nur die wichtigsten Vorhaben für die nächste Zeit aufzuzählen; es ist bekannt, daß zu den Fernzielen des Justizressorts ein völlig neues Strafgesetz, eine geänderte Strafprozeßordnung und ein neues Strafvollzugsgesetz zählen. Vom Bundesminister für Inneres wurden vor einiger Zeit eine Wahlrechtsreform und jüngst die „Demokratisierung der Bezirksverwaltung“, also zwei wichtige Fragen unserer staatlichen Organisation, zur Debatte gestellt. Nicht vergessen werden darf, daß der Bundesminister für Unterricht ja schon seit, einiger Zeit an einem großen Reformwerk arbeitet, das er für die Grundschulen sowie für die mittleren und höheren Lehranstalten im vergangenen Jahr erfolgreich abschließen konnte, während freilich die Hochschulreform über das Organisationsgesetz hinaus bis jetzt nicht gediehen ist.

Angesichts der aufgezählten Tatsachen scheint es keine Übertreibung, von einem gewissen Wandel der Politik zu sprechen. Daneben werden freilich Fragen wie zum Beispiel die wirtschaftliche Integration, die Organisation der verstaatlichten Betriebe, die Dynamisierung der Renten und andere nicht an Interesse für die breite Öffentlichkeit verlieren. Es wäre aber auch zuwenig, sich einfach nur darüber zu freuen, daß in unserer Innenpolitik neben den materiellen nunmehr auch im verstärkten Maße ideelle Inhalte zum Wort kommen. Nicht früh genug können die Konsequenzen ins Auge gefaßt werden, die sich aus solchem Wandel für uns alle ergeben.

Eine Folge von größter Tragweite — ihr ins Auge zu sehen, muß man den Mut haben — ist die Tatsache, daß mit diesem Wandel politischer Inhalte zwangsläufig eine verstärkte Anwendung weltanschaulicher Maßstäbe verbunden sein wird. Es ist schon nur bedingt richtig, von einer Versachlichung der Wirtschafts- und Sozialpolitik zu sprechen, wie dies insbesondere anläßlich der Errichtung des neuen Beirates der Paritätischen Kommission in letzter Zeit der Fall war. Es gibt kaum eine politische Maßnahme, die nicht am Menschenbild orientiert ist, und das Bild vom Menschen, von seiner Zweckbestimmung und dem Sinn seines Lebens, wurzelt schließlich immer in einer Weltanschauung. Aber es ist richtig, daß dieser weltanschauliche Nährboden bei konkreten wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen bisweilen stärker in den Hintergrund treten kann. Bei der Frage der Familienrechtsreform wird dies schon schwerer möglich sein, selbst wenn man versucht, diese in Einzelteile, wie zum Beispiel eine Neuordnung des gesetzlichen Erbrechtes der Ehegatten und des ehelichen Güterstandes, eine Änderung der Rechtsstellung des unehelichen Kindes usw., aufzuspalten.

Eine weitere Konsequenz betrifft das Tempo der Erledigung. In der Zeit des Wiederaufbaues, der Ersetzung reichsdeutscher Rechtsvorschriften durch österreichische mußte die Gesetzgebungsmaschine notgedrungen auf Hochtouren laufen. Es war auch zu vertreten, dringende wirtschaftspolitische Maßnahmen mit der gebotenen Eile zu behandeln. Es muß aber ebenso verstanden werden, daß Grundsatzfragen in ganz anderer Weise ihre Erledigung finden. Auch das manchmal gebrauchte Schlagwort, in Österreich werde derzeit lediglich verwaltet und nicht regiert, kann leicht irrigen Auffassungen Vorschub leisten. In einem geordneten Staatswesen, das sich zu den Prinzipien rechtsstaatlicher Demokratie bekennt, hat die Regierung hauptsächlich die Gesetze zu vollziehen,

also zu verwalten. Nun ist freilich keine Rechtsordnung so perfekt, daß alle Regierungsmaßnahmen aus den geltenden Gesetzen abgeleitet werden und die gesetzgeberische Funktionen sozusagen ruhen könnten. Jede freie Demokratie, auch die bestgefügte, hat ihre ungelösten Probleme. Aber es wäre ein Irrtum, unter normalen Umständen die Qualität eines Parlaments oder einer Regierungskoalition ausschließlich nach der Anzahl gesetzgeberischer Akte beurteilen zu Wollen.

Damit ist nun auch das Wort „Koalition“ gefallen, die zwar immer schon, aber .kaum jemals mit solcher Intensität erörtert wurde, wie in der jüngsten Zeit, seit sie nämlich zu zerbrechen droht. In diesem Zusammenhang muß klar gesagt werden: Es ist eine fundamentale Einrichtung jeder Demokratie, daß Normen von grundsätzlicher Bedeutung — nämlich die Verfassung bzw. die Verfassungsgesetze — einer qualifizierten Mehrheit bedürfen. Verantwortungsbewußten Politikern muß ebenso einsichtig sein, daß gesellschaftspolitische Maßnahmen von tiefgreifender Wirkung nicht gegen den Willen einer starken Minorität durchgesetzt werden dürfen, auch wenn dies rein formal möglich wäre, will man nicht die politische Stabilität überhaupt aufs Spiel setzen. Die Demokratie ist ja bekanntlich dort am besten fundiert, wo die gesellschaftliche Ordnung praktisch überhaupt nicht zur Diskussion steht und die partelpoliti-

schen Gegensätze nicht einen solchen Tiefgang aufweisen, also zum Beispiel in den Vereinigten Staaten von Amerika.

Die aufgezählten Gesetzgebungsprogramme sind also das schlechteste Exerzierfeld für den sogenannten „koalitionsfreien Raum“, aber noch weniger geeignet, als Absprungbasis für eine kleine Koalition zu dienen. Will man fundamentale Fragen der Staats- und Gesellschaftspolitik in Angriff nehmen, dann muß man sich auch um die entsprechenden Mehrheiten bemühen; mit knappen Mehrheiten hat man sich nach demokratischen Spielregeln mehr auf das bloße Verwalten zu beschränken, um nicht gegen den Willen eines großen Teiles des Volkes zu regieren.

Ein letztes Wort darf im Zusammenhang mit dem aufgezeigten Wandel der politischen Inhalte an die Träger katholischer Aktivität in unserem Lande gerichtet werden: Wenn der Katholizismus eine gesellschaftspolitische Funktion ausüben und eine solche Stärke darstellen will, dann wird er gerade den in letzter Zeit angekündigten gesetzgeberischen Initiativen besonderes Augenmerk zuwenden müssen. Hier scheinen sich direkte gesellschaftspolitische Entscheidungen anzubahnen, und nicht mehr der Umweg über materielle Verteilungsfragen eingeschlagen zu werden. Hier wird die Behandlung von Fragen der Fundamente unserer Staats- und Gesellschaftsordnung angekündigt.

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