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Bewundert viel — und viel gescholten

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Kritik an unserem Parlament ist populär. Kritische Worte, wie Gesetzgebungsmaschinerie, Gesetzesinflation, Klubzwang und andere sind feste Begriffe des politischen Sprachgebrauchs geworden. Im Laufe von bald zehn Jahren wurden sie so oft gebraucht, daß wir vielfach geneigt sind, sie kritiklos hinzunehmen und dem Nationalrat alle guten Qualitäten abzusprechen. Betrachten wir einmal die Vorgänge auf der parlamentarischen Bühne von der anderen Seite.

Der Besucher einer Nationalratssitzung stellt vielfach mit Mißvergnügen fest, daß die Vorlagen von den Ausschüssen fix und fertig serviert und sie meist in der vorliegenden Form beschlossen werden, ungeachtet etwaiger dagegen vorgebrachter Bedenken. Es mag richtig sein, Debatten mit Zusatz- und Abänderungs-anträgen und die schließliche Abänderung der Gesetzentwürfe geben der parlamentarischen Tätigkeit ein stärkeres Kolorit. Aber ist dies wirklich auch die zweckmäßigere und ergiebigere Methode? Nicht umsonst hat sich im ' laufe von hundert Jahren die Verhandlungstechnik geändert, nicht umsonst hat sich seit den Tagen des verfassunggebenden Reichstages und seit den Tagen Kudlichs das Schwergewicht der Detaiiberatungen in die Ausschüsse verlagert. Dafür spricht: Ins Detail gehende Beratungen lassen sich besser und mit Aussicht auf Erfolg vielfach nur im kleinen Kreis führen. Jeder Verein hat sich heute diese Erkenntnis angeeignet und kommt mit der fertig ausgearbeiteten Resolution in die Hauptversammlung. Detailberatungen im Plenum würden zu Marathonsitzungen führen. Erinnern wir uns — schon einmal lautete die Kritik: Quatschbude. Ein Gesetz erfaßt oftmals große Bereiche des Lebens, strahlt fächerförmig seine Wirkung aus — ist es da sehr wahrscheinlich, daß man diese vielfältigen Wirkungen im Augenblick rasch übersehen und die Tragweite im letzten Moment vorgenommener Aenderungen ermessen oder allfällige finanzielle Belastungen des Staates überprüfen kann? Wie bestechend ist doch oft ein Vorschlag — \und wie schlagend das Gegenargument! Nicht grundlos verhandelt man gerade bei wichtigen diplomatischen Konferenzen zeitweise in Camera caritatis. Der Redner vor dem großen Forum macht unwillkürlich einen Seitenblick auf das Publikum, er denkt an die Wirkung seiner Worte, der Diskussionsredner im kleinen Rahmen an die Auswirkung seiner Vorschläge. Und schließlich erfordert die Aen-derung eines Paragraphen vielfach die Aende-rung einer Reihe von Bezeichnungen und Bestimmungen. Nicht immer aber ist dies sofort offensichtlich, und Antinomien sonder Zahl wären an der Tagesordnung. Berücksichtigt man alle diese Aspekte, dann liegt der Schluß nahe: Die im Laufe von Jahrzehnten ausgebildete Verhandlungstechnik, Vorlagen von Ausschüssen plenumreif machen zu lassen und in der Vollversammlung im wesentlichen eine grundsätzliche Debatte über den Gegenstand abzuführen und die Beschlüsse zu fassen, bietet zumindest viele Vorteile.

Wenn heute jemandem eine Bestimmung eines alten Gesetzes nicht paßt, dann erklärt er unwidersprochen: Kein Wunder, wenn, ein achtzig Jahre altes Gesetz heute noch gehandhabt wird. Wenn jemand dagegen mit einem neuen Gesetz unzufrieden ist, argumentiert er, ebenso unwidersprochen: Was waren das doch einstmals für Gesetze, auch wenn sie hundert Jahre alt sind, sind sie heute noch gut und brauchbar. An der Qualität früherer Gesetze soll nicht gezweifelt werden. Aber eines ist sicher: Die Verhältnisse haben sich doch gründlich geändert. Und auch jene Gesetze, die heute noch als Musterbeispiele einer guten Gesetzgebung hingestellt werden, sind oft nicht mehr zur Gänze up to date, sie entsprechen vielfach nicht — und können es nicht — den modernen soziologischen, sozialen, wirtschaftlichen, technischen und medizinischen Erkenntnissen. Wenn sie dennoch als Vorbilder hingestellt werden und ihre Handhabung befriedigt, so. vielfach nur deswegen, weil sich auf einer gesunden Basis eine einheitliche, zeitgemäße Handhabung herausgebildet hat. Sie sind durch die Gerichts- und Verwaltungspraxis adaptiert worden. Denken wir nur daran, daß die französischen Zollbeamten zur Durchsetzung ihrer Gehaltsforderüngen einen aktiven Streik durchführten, indem sie die einschlägigen alten Bestimmungen strikte anwandten und so den Grenzverkehr beinahe lahmlegten, und erinnern wir uns, daß die österreichischen Richter ihrer Forderung auf Verbesserung des Gehaltsschemas dadurch Nachdruck verliehen, daß sie ankündigten, sie würden die Bestimmungen der Strafprozeßordnung wörtlich anwenden, was auf die Rechtsprechung eine lähmende Wirkung ausgeübt hätte.

Einer der schwersten und immer wiederkehrenden Vorwürfe betrifft den Klubzwang, die von den Parteien den Abgeordneten auferlegte Verpflichtung, bei Abstimmungen ihre Stimme gemäß den Beschlüssen ihrer Fraktion abzugeben. Gewiß, der Klubzwang ist keine Institution der Verfassung, im Gegenteil, sie statuiert das freie Mandat. Er hat sich vielmehr in der Praxis herausgebildet und ist ein Kind der Parteien. Dementsprechend unterliegt er heftigster Kritik — sofern er in Oesterreich ausgeübt wird. England wird gerne als das klassische Land der Demokratie bezeichnet, sein Parlament als mustergültig, obwohl der Klubzwang vielleicht nirgends so konsequent praktiziert wird wie gerade in England. Ja, bei Behandlung wichtiger Materien treten sogar die sogenannten Einpeitscher in Aktion, um nur ja möglichst ämtliche Abgeordnete ihrer Fraktion zur Stimmabgabe — natürlich in der vom Klub festgelegten Richtung — zu bringen. Man nennt das dann englische Disziplin. Und umgekehrt: Vielleicht in keinem Parlament besitzt der Abgeordnete so viel individuellen Spielraum wie in der französischen Nationalversammlung. Und vielleicht kein Parlament wird so glossiert wie gerade das französische, das immer wieder Regierungskrisen auslöst und das Land oftmals gerade in den entscheidendsten Stunden seiner Geschichte seiner Regierung entblößt bzw. sie aktionsunfähig macht. Und dann: Speziell bei Nationalratswahlen werden de facto Parteien gewählt. Neben traditionellen Erwägungen spielen bei der Wahl die Parteiprogramme und die Stellungnahme der wahlwerbenden Gruppen zu aktuellen Fragen eine maßgebende Rolle. So finden Extratouren von Abgeordneten beim Wähler wenig Gegenliebe, und kein „wilder“ Abgeordneter wurde bisher wiedergewählt. Will eine Partei ihre Forderungen durchsetzen oder zumindest eine teilweise Berücksichtigung ihrer Wünsche erreichen, dann muß sie ihre ganze Kraft in die Waagschale werfen. So ist es naheliegend, daß sie sich eine einheitliche Linie erarbeitet. Sprechen wir es ruhig aus: Würde sie das nicht, würde jeder ihrer Mandatare nach eigenem Gutdünken votieren, sie würde bald mit dem Beiwort „disziplinloser Haufen“ behaftet sein. Der Wähler würde irre werden, und sie hätte wenig Chancen, die nächste Wahl glücklich zu überstehen. Soll ein Staat gedeihen, braucht er eine stabile Regierung. Diese aber braucht in einer parlamentarischen Demokratie eine stabile parlamentarische Grundlage. Mit Zufallsmehrheiten läßt sich improvisieren, aber nicht auf die Dauer regieren.

Ein besonders verhätscheltes Kind der Kritik ist das Kompromiß, auch parlamentarischer Kuhhandel genannt. Nun, die Ansichten der Menschen sind nicht gleich, ihre Interessen laufen nicht immer parallel. So gibt es im Prinzip zwei Möglichkeiten: Man sucht einen gemeinsam gangbaren Weg, oder der Stärkere durchhaut den gordischen Knoten und diktiert das Geschehen. Denn von Kompromißlosigkeit zu Revolution, Krieg und Diktatur ist oft nur ein Schritt. Wer würde heute die Erkenntnis bezweifeln: Weder die Herrschaft der Begüterten noch die Diktatur des Proletariats mehren das Gemeinwohl. Und bekömmlicher als Straßenkämpfe sind tragbare, ehrliche Kompromisse. So ist es nur folgerichtig, daß aus Klassengegnern Sozialpartner wurden. Keiner hat ein Monopol, so wird wohl keiner den erhofften Gewinn erzielen, es wird aber auch keiner den ursprünglichen vom anderen geforderten Preis bezahlen. So besehen verliert selbst das vielgeschmähte Kompromiß das Odium der Unterwürfigkeit oder des Packeins und wird zu einem Interessenausgleich, ohne den eine Gemeinschaft in Frieden nicht leben kann.

Unser Parlament gilt als „Gesetzgebungsmaschinerie“, man spricht von Gesetzesinflation. Rund 1000 Gesetze — so sagt die Kritik — wurden seit 1945 erlassen. Mit der Statistik kann man bekanntlich alles beweisen — sofern man die Zahlen nimmt, ohne sie auf ihren Gehalt zu untersuchen. Betrachten wir, was sich hinter dieser Zahl verbirgt: Ein Teil der Gesetzesbeschlüsse diente der Aufhebung oder Ersetzung reichsdeutscher Vorschriften, ein Teil war durch Krieg und Nachkriegsfolgen erforderlich geworden — denken wir nur an die zumindest für eine gewisse Zeit unbedingt notwendige Bewirtschaftung, an die Kriegsopferversorgung, an die diversen Ueberleitungsgesetze usw; hierzu kamen Novellen, die vielfach kein neues Recht schufen, sondern lediglich die Geltungsdauer bestehender Gesetze verlängerten. Viele Gesetze machte der sich ändernde Geldwert erforderlich, Gehälter und Renten mußten geändert werden. Die Verzerrung des Wirtschaftsgefüges war doch so kraß, daß .nur schrittweise eine solide Basis geschaffen werden konnte. Eine elastische Anpassung ist oftmals wesentlich wichtiger als starres Festhalten an einer einmal getroffenen Regelung. Gesetze entstehen ja nicht beiläufig, sondern weil die Notwendigkeit besteht, ein Lebensgebiet, einen Lebensbereich zu ordnen. Die Steuerzahler hätten wenig Verständnis dafür gehabt, wenn die Steuern in der vor zehn Jahren bestandenen Höhe aufrechterhalten geblieben wären, die Rentner und ebenso die Beamten hätten wenig Verständnis dafür gehabt, wenn nicht immer ihre Renten und ihre Gehälter in Verfolg der Geldentwertung neu festgelegt worden wären. Und hätte hier der Nationalrat nicht prompt reagiert, es wäre ihm der Vorwurf nicht erspart geblieben, der schon früher einmal erhoben worden war, der Vorwurf von der Schwerfälligkeit der Gesetzgebung.

Die Erste Republik wurde nicht zuletzt dadurch erschüttert, daß man ihre Lebensfähigkeit bezweifelte. Wenn wir heute unentwegt Zweifel in die Arbeit des Parlamentes setzen, dann laufen wir Gefahr, auch dem neuen Oesterreich die Basis zu entziehen.

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