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Wann schlägt die Stunde der Parlamentsreform?

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Als vor einigen Jahren die Diskussion um die Demokratie-reform in Mode gekommen war, nahm darin die Parlamentsreform einen wichtigen Platz ein. Einen Ausschnitt daraus bildeten jene Vorschläge, die sich mit einer Neugestaltung der Regeln der Geschäftsordnung des Nationalrates befaßten. Um die Demokratiereform ist es seither merklich stiller geworden. Sie ist von der Tagesordnung der Reformen veschwunden, und damit auch die Parlamentsreform. Wohl begann im Jänner 1972 ein Komitee zur Geschäftsordnungsreform des Nationalrates, dem Vertreter aller drei parlamentarischen Fraktionen angehören, tätig zu werden; Ergebnisse seiner Arbeit sind bisher nicht sichtbar geworden.

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Als vor einigen Jahren die Diskussion um die Demokratie-reform in Mode gekommen war, nahm darin die Parlamentsreform einen wichtigen Platz ein. Einen Ausschnitt daraus bildeten jene Vorschläge, die sich mit einer Neugestaltung der Regeln der Geschäftsordnung des Nationalrates befaßten. Um die Demokratiereform ist es seither merklich stiller geworden. Sie ist von der Tagesordnung der Reformen veschwunden, und damit auch die Parlamentsreform. Wohl begann im Jänner 1972 ein Komitee zur Geschäftsordnungsreform des Nationalrates, dem Vertreter aller drei parlamentarischen Fraktionen angehören, tätig zu werden; Ergebnisse seiner Arbeit sind bisher nicht sichtbar geworden.

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Das Recht des Parlaments, seine innere Ordnung autonom zu regeln, gehört seit jeher zu den der Volksvertretung ausschließlich vorbehaltenen Befugnissen. Die österreichische Bundesverfassung trägt dieser Tatsache dadurch Rechnung, daß bei Beschlußfassungen über das Geschäftsordnungsgesetz des Nationalrates die Mitwirkung des Bundesrates ausgeschlossen ist. Jede gesetzgebende Körperschaft regelt im Rahmen der in der Verfassung verankerten Grundsätze ihre innere Ordnung selbständig. Parlamentarische Geschäftsordnungen sind keine Geschäftsordnungen im üblichen Sinn. In ihnen werden vielmehr über die mehr oder weniger technischen Fragen parlamentarischer Willensbildung hinausgehend die wesentlichen Grundsätze des parlamentarischen Regierungssystems konkretisiert und präzisiert. Die in ihnen enthaltenen institutionellen Möglichkeiten sind für das Funktionieren des Parlamentarismus von großer Bedeutung. Daraus ergibt sich, daß ihre Ausformung und Gestaltung den realen Erfordernissen des politischen Systems angepaßt sein soll.

Spätestens seit dem Ende der großen Koalition herrscht Klarheit darüber, daß die Spielregeln des innerparlamentarischen Entscheidungs-prozesses revisionsbedürftig sind. Die gegenwärtige Legislaturperiode ist bereits die dritte, in der jeweils zwei Oppositionsparteien einer einzigen Partei als Regierungspartei gegenüberstehen. Man sollte annehmen, daß aus den Reihen der Opposition der Ruf nach einer Geschäftsordnungsreform lauter geworden ist und die Initiativen hiefür verstärkt wurden. Was bisher allerdings an Vorschlägen präsentiert wurde, ist eher bescheiden. Waren es in der Zeit der ÖVP-Alleinregierung in erster Linie sozialistische Experten des Parlamentsrechtes wie Broda, Gratz und Fischer, die in Publikationen und Äußerungen auf die Unzulänglichkeit der derzeitigen Geschäftsordnung des Nationalstes zur Entfaltung parlamentarischer Aktivitäten der Opposition hinwiesen, stagniert seither die Diskussion. Die von Christian Broda 1970 etwas euphorisch erfolgte Ankündigung „Die Stunde der Parlamentsreform ist gekommen" (Gesammelte Aufsätze zum Thema Parlaments-reform, erschienen im Europa-Verlag) hatte, sieht man von der Konstituierung der oben genannten Beratungskommission und einem im Oktober 1970 eingebrachten Initiativantrag der SPÖ ab, bisher wenig Resonanz. Vor allem die ÖVP scheint dieses Thema von der Prioritätenliste ihrer politischen Nahziele verbannt zu haben. Die Indolenz der großen Oppositionspartei in diesen Belangen wurzelt offnbar in der allgemeinen Nachlässigkeit, mit der diese Partei der Strategie und den Stilfragen parlamentarischer Oppositionspolitik überhaupt gegenübersteht.

Eine überfällige Reform

Eigenartigerweise wurde das Problem einer Geschäftsordnungsreform vom österreichischen Nationalrat seit Bestehen der Republik noch nie in eine grundsätzliche Diskussion gezogen. Wesentliche Grundzüge der Geschäftsordnung gehen auf die von

Kaiser Franz Josef I. im Jahre 1861 erlassene Geschäftsordnung des Reichsrates zurück. Der demokratische Gesetzgeber beschränkte sich mehr oder weniger auf Adaptionen; auch eine — gleichsam als Geschenk zum hundertsten Geburtstag der alten Geschäftsordnung — im Jahre 1961 erfolgte Reform beschränkte sich mehr oder weniger auf Teilerneuerungen (z. B. Einführung der Fragestunde, Verankerung der Präsidialsitzung — bekannt als Präsidialkonferenz) und Korrekturen. Somit weist auch heute noch die Geschäftsführung für den Parlamentarismus des 18. Jahrhunderts typische Strukturen auf: Czerny-Fischer charakterisierten sie in ihrem Kommentar zur Geschäftsordnung des Nationalrates als „Plenargeschäftsord-nung" (ausführliche Regelung des Verfahrens im Plenum, unzureichende Regelung über die Verfahren in Ausschüssen und Unterausschüssen) und als „Legislativgeschäftsordnung" (sie enthält im wesentlichen nur Regelungen des Gesetzgebungsverfahrens; über alles andere, was noch im Nationalrat verhandelt wird, ist weniger gesagt).

Bei aller Wertschätzung für Traditionen, für die Funktionsfähigkeit des Parlaments sind sie — wie Hans Apel meint — problematisch. Sie fordern zur Entrümpelung und in vielen Punkten zur Neukonzeption heraus. Nicht ausreichende, lückenhafte Regelungen (z. B. über die Zusammensetzung der Ausschüsse) bestehen neben unzeitgemäßen Bestimmungen (so etwa, daß Petitionen, über die bis zum Schluß der Gesetzgebungsperiode vom Nationalrat nicht mehr Beschluß gefaßt werden konnte, vom Präsidenten „an die Regierung zur geeigneten Verfügung zu leiten" sind). Neu erkannte Probleme verlangen neue Regelungen (Ausbau des Fragerechtes). Sachgemäß und zielführend wird dies alles nur dann geschehen können, wenn parteitaktische Überlegungen hinter die Bereitschaft zu einer echten Verbesserung der parlamentarischen Spielregeln zurücktreten.

Aus den praktischen Erfahrungen und dem Bedeutungswandel des Parlaments im modernen Staat lassen sich die Leitlinien für eine Erneuerung der Geschäftsordnungsregeln gewinnen. Sie verlangen zunächst Maßnahmen, die einer Verbesserung des Arbeitsstils dienen. Daß die Einteilung der Gesetzgebungsperiode in Sessionen das Relikt einer agrarischen Gesellschaftsstruktur ist, ist heute unbestritten; obendrein würde ihre Beseitigung den durch das nahende Sessionsende jeweils bedingten Engpässen in der parlamentarischen Arbeit und den Monstertagesordnungen der einzelnen Sitzungen entgegenwirken. Eine Verbesserung des Arbeitsstils kann sich allerdings nicht nur auf Einrichtungen beschränken, die eine rasche und ökonomische Behandlung der Aufgaben sichern. Es geht vielmehr darum, den einzelnen Abgeordneten zu verpflichten, seine parlamentarische Arbeit persönlich und verantwortungsvoll wahrzunehmen. Der sein Vorbereitungsmanuskript herunterleiernde Abgeordnete ist ebenso wie das „leere Plenum" dem Image des Hohen Hauses abträglich.

Die Parlamentarier beklagen sich immer wieder über Informationsschwierigkeiten. Ein Ausbau aller jener Institutionen, die eine verstärkte Information des Parlaments und des einzelnen Abgeordneten zum Ziel haben, ist daher ein besonderes Anliegen einer Reform. In erster Linie gehört dazu die Durchführung von Enqueten, die in der derzeitigen Geschäftsordnung nicht vorgesehen sind. Auch die verschiedentlich kritisierte mangelnde Waffengleichheit zwischen Regierungsmitgliedern und Abgeordneten sollte Berücksichtigung finden: dem Recht der Regierungsmitglieder, jederzeit gehört zu werden, müßte das Recht der Abgeordneten, sich in jedem Fall dazu unmittelbar äußern zu können, korrespondieren.

Alle diese Änderungen sind aber — so notwendig sie sind — nicht der harte Kern einer Geschäftsordnungsreform. Ihr Schwerpunkt liegt vielmehr im Ausbau der parlamentarischen Kontrollrechte.

Die Funktion des Parlaments hat sich heute de facto auf Kontrollfunktionen reduziert. In der Gesetzgebung ist es nur noch Notar: die wesentlichen Entscheidungen im Gesetzgebungsverfahren fallen außerhalb des Parlaments, in den Parteien, Verbänden und der Regierung, dem Parlament bleibt hiefür nur noch die Aufgabe, diese Entscheidungen zu ratifizieren. Diese Eigenart unseres politischen Systems muß man zur Kenntnis nehmen. Pelinka hat in seiner bemerkenswerten Untersuchung über das Parlament in „Demokratie und Verfassung in Österreich" (gemeinsam verfaßt mit Welan) darauf hingewiesen, daß das Versagen des Parlaments im Gesetzgebungsverfahren heute faktisch irreparabel sei, daß jedoch das Versagen des Parlaments als Kontrollor insofern reparabel erscheine, als durch institutionelle Reformen das Parlament viel stärker als bisher zum Ort öffentlicher Auseinandersetzung und damit der tatsächlichen Kontrolle werden kann. Der Opposition müssen ausreichende Mittel zur Verfügung gestellt werden, um die eine Einheit bildende Regierung und Mehrheitsfraktion im Parlament zu einer öffentlichen Auseinandersetzung über ihre Politik zu zwingen. Wie dies geschehen kann, wurde in der Diskussion vergangener Jahre mehrfach erörtert: der Bogen der Vorschläge reicht vom Ausbau des Frage- und Interpellationsrechtes (z. B. Einführung einer großen Fragestunde) über Neuregelungen bei der Einsetzung von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen (sie sollen über Antrag einer qualifizierten Minderheit und nicht, wie bisher, nur mit Mehrheitsbeschluß möglich sein) bis zum Recht der parlamentarischen Minderheit, Gesetze beim Verfassungsgerichtshof anzufechten.

Für alle diese konkreten Reform-anliegen gilt ein allgemeiner Grundsatz: Das Parlament hat in der Öffentlichkeit zu agieren; es ist eigentlich nur dort wirklich Parlament, wo es öffentlich handelt. Es ist heute nicht mehr — wie man bis zur Französischen Revolution annahm — ein antidemokratisches Repräsentationsorgan, dessen Unabhängigkeit gerade durch die NichtÖffentlichkeit gesichert werden soll. Der Mandatar ist vielmehr Vollzieher des Wählerwillens; der Wähler hat oft nur in der Öffentlichkeit des parlamentarischen Geschehens seine einzige Chance, seinen Abgeordneten bei der Erfüllung seines Auftrages zu kontrollieren und zu bewerten. Darüber hinaus muß man sich bewußt sein, daß öffentliche Debatten im Parlament heute nicht mehr den Sinn haben, Mehrheitsentscheidungen herbeizuführen oder zu beeinflussen, sondern den Wähler vielmehr über Regierungs- und Oppositionspolitik aufzuklären, ihm die Gründe und die Rechtfertigung hiefür zu liefern. Das Parlament muß systemgerecht „zum Fenster hinaus" reden (Thomas Ellwein). Dieses Öffentlichkeitsprinzip als Leitbild für eine Geschäftsordnungsreform kann nicht oft genug hervorgehoben werden. Es sollte dazu führen, daß heute auch die Ausschußarbeit des Parlaments mit gewissen Einschränkungen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Die leidige Problematik der parlamentarischen Berichterstattung sollte keine mehr sein, der Grundsatz der parlamentarischen Öffentlichkeit erfordert die Gewährleistung der freien Berichterstattung; begründete Einschränkungen sollen der Präsidial-konferenz vorbehalten bleiben.

Inwieweit die geschilderten Leitlinien für die Arbeit des Geschäftsordnungskomitees maßgeblich sein werden, kann im Augenblick nicht gesagt werden. Alle drei Parteien haben Vorschläge für eine Reform vorgelegt.

Nach den Vorstellungen der FPÖ solle man Regelungen treffen, mit denen man „im nächsten Jahrzehnt halbwegs das Auslangen finden" kann („Neue Front", vom 29. Jänner 1972). Die Vorschläge dieser Partei sind verständlicherweise auf kleine Fraktionen zugeschnitten. Eine Reihe von Rechten soll danach jedem Klub — für dessen Zustandekommen die Geschäftsordnung derzeit fünf Abgeordnete verlangt — zustehen, wie beispielsweise die Vertretung in Ausschüssen, das Antragsrecht und das Recht der dringlichen Anfrage. Die vorgeschlagenen Verbesserungen der Arbeitsbedingungen reichen bis zur „Wohnungsnot" der Abgeordneten — ein Detail daraus: auf eine Unterbringung im Hotel können nur jene Bundesländerabgeordneten verzichten, denen Unterkünfte zur Verfügung stehen, die von Gewerkschaften, Kammern, Bünden und anderen Institutionen zur Verfügung gestellt werden.

Die SPÖ hat den Inhalt ihres seinerzeitigen Initiativantrages aus dem Jahre 1970 als Beratungsgrundlage eingebracht. Er enthält diskutable Vorschläge, wie etwa den Ausbau der Verfahrensregeln für Unterausschüsse, die Möglichkeit der Abhaltung von parlamentarischen Enqueten sowie der Veröffentlichung von Verhandlungsschriften der Ausschüsse, die Erweiterung des Fragerechtes sowie eine klare Regelung über die Zusammensetzung der Ausschüsse (Einführung des bereits jetzt in der Praxis gehandhabten d'Hondt-schen Verfahrens).

Die ÖVP legte schließlich eine Pünktation von Neuerungen vor, in der unter anderem die Abschaffung der Sessionen, die Einsetzung von Unterausschüssen und die Abhaltung von Enqueten auf Antrag einer Minderheit, die Möglichkeit der Öffentlichkeit von Ausschußverhandlungen, der Ausbau des Fragerechtes, die Einführung einer „Großen Besprechung" (Möglichkeit der Erörterung eines wichtigen politischen Themas ohne Vorhandensein einer Vorlage und ohne dringliche Anfrage) sowie der Ausbau des Petitionsrechtes vorgeschlagen werden.

Die von den Fraktionen präsentierten Vorschläge sind zweifellos ein ernstzunehmender Beitrag zu einer Geschäftsordnungsreform. Fraglich ist nur, ob sie ausreichen, eine echte und substantielle Neugestaltung der parlamentarischen Verfahrensregeln herbeizuführen. Viele Probleme blieben unberücksichtigt, wie etwa die Reform der Budgetdebatte, eine Neugestaltung der Befugnisse des Präsidenten u. a. Dabei muß bemerkt werden, daß eine allzu perfektioni-stische Geschäftsordnungsreform auch nicht als Ideal angesehen werden kann. Eine parlamentarische Praxis wird sich immer neben den geschriebenen Regeln entwickeln.

Wie immer man die Dinge sieht, man soll den Wert einer Geschäftsordnungsreform nicht überschätzen. Sie kann und wird die Gefahren, denen sich der Parlamentarismus heute gegenübersieht, nicht beseitigen. Dennoch ist sie notwendig. Der nunmehrige Justizminister Dr. Broda schrieb im Jahre 1970: „Die Parlamentsreform verträgt keinen weiteren Aufschub, und sie benötigt ihn nicht mehr." Dieser Satz gilt heute uneingeschränkt weiter. Die Erfahrungen der parlamentarischen Praxis der letzten Jahre und die Ergebnisse der politikwissenschaftlichen Diskussion haben Material für eine sinnvolle Reform geliefert. Sie wird dann möglich sein, wenn man ihre Probleme nicht nur vom Blickwinkel der politischen Opportunität sieht, sondern auch von ihrer Bedeutung für das Funktionieren des demokratisch-parlamentarischen Systems. Gelingt dies, dann wäre eine Geschäftsordnungsreform gleichzeitig ein wertvolles Bekenntnis zum „Fadr play" in der Demokratie.

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