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„Eine ständige Überbelastung44

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In der „Furche“ vom 16. Dezember 1972 wird unter verschiedenen Aspekten ein und dasselbe Problem, nämlich das des österreichischen Parlamentarismus unserer Zeit, besprochen und kritisiert („Der doppelte Präsident“). Die vor allem in letzter Zeit oft aufgeworfene Frage der Funktion unseres Nationalrates verdient Beachtung. Dies um so mehr, als der unbefangene Staatsbürger vom Parlament immer mehr den Eindruck einer Ja-Sager-Maschine zu den Regierungsvorschlägen gewinnen muß.

Dieser äußere Eindruck ist zwar nicht ganz richtig, aber eben doch weithin vorherrschend, zumal ja der gewöhnliche Staatsbürger keinen Einblick in die parlamentarischen Arbeiten hat, soweit sie sich in den Ausschüssen des Nationalrates abspielen. Dort wird freilich an allen Regierungsvorlagen und allenfalls auch an Initiativanträgen der Abgeordneten selbst viel herumgefeilt und mancher Regierungsentwurf erfährt sachliche sowie formelle Änderungen. Trotzdem bleibt der Eindruck bestehen, daß ein Parlament mit einer Mehrheitspartei, die natürlich die Regierung stellt, im großen und ganzen ebenso ein Vollzugsargan der Beschlüsse der Bundesregierung ist, wie umgekehrt die Bundesregierung im Auftrag ihrer Partei agiert. Die Grenzen zwischen Gesetzgebung und Vollziehung, Regierung und Kontrolle, also der ursprüngliche Sinn des Parlamentarismus, hie Parlament, dort Regierung, wird immer mehr verwässert und man fragt sich, wie dieser keineswegs wünschenswerten Entwicklung Einhalt geboten werden könne. '

Die Antwort auf diese Frage ist schwieriger als man zunächst annehmen könnte. In Demokratien bedürfen die Regierungen des Vertrauens der Mehrheit des Parlaments. Wenn diese Mehrheit von nur einer Partei gestellt wird, sind Regierung und Parlamentsmehrheit in der Regel „eines Sinnes“. Es gibt also unter solchen Bedingungen kaum nennenswerte politische Gegensätze. Dazu kommt, daß in den Parlamenten unserer Zeit — abgesehen vom anglo-amerikanischen Bereich — der Abgeordnete keineswegs gemäß einer von ihm allein getroffenen Entscheidung abstimmt, sondern die Abstimmung — mit und ohne sogenannten Klubzwang — entsprechend einer im Parlamentsklub getroffenen Kollektiventscheidung erfolgt. Es ist bisher viel zuwenig beachtet worden, daß dieses System, das die Bindung zwischen dem Abgeordneten und seinem Wahlkreis immer schwächer werden, ja mitunter ganz untergehen läßt, unvermeidbar ist, wenn, wie in Österreich, das Proporzwahlsystem verfassungsmäßig installiert ist. In einem Staat, dessen Verfassung die Vorlage von Kandidatenlisten vorschreibt, wo die Mandate proporzmäßig vergeben werden, können nur organisierte Parteien ihre Kandidaten in die gesetzgebenden Körperschaften bringen; jeder Versuch eines einzelnen oder einer nicht parteimäßig organisierten Gruppe muß in diesem System scheitern. Wenn es aber die Parteien sind, die ihre Kandidaten aufstellen, dann ist es logisch, daß diese Kandidaten zwar entgegen dem Wortlaut der Verfassung, aber in der Praxis, nur ihrer Partei und nicht mehr ihrem Wahlkreis verantwortlich sind. Das heißt nicht, daß sich die Abgeordneten nicht auch für die Bedürfnisse ihres Wahlkreises einsetzen; das tun sie natürlich, aber die eigentliche politische Verantwortung ist in der Partei, die sie als Kandidaten aufgestellt hat, verankert. Eine Änderung dieses Zustandes ist daher ohne Änderung der Bundesverfassung gar nicht möglich. Erst wenn man sich zum Einer-Wahl-System bekennen würde, wäre das anders. Da dies aber in Österreich sicherlich nicht der Fall sein wird, bleibt es eben bei dem bisherigen Zustand der tatsächlichen Kollektivverantwortung.

Mit diesem System hängt auch das Problem der Ämterkumulierung zusammen. Daß der Regierungsschef auch Parteiobmann sein soll, gilt auch dort, wo das Einer-Wahl-System verankert ist. Daß aber darüber hinaus jeder höhere Parteifunktionär mehr oder minder zwangsläufig mehrere Ämter in seiner Hand vereinigt, ergibt sich wiederum aus der Vormachtstellung der politischen Parteien. Daß dabei die Parteien in der Verfassung gar nicht genannt werden, ändert nichts an der Tatsache, daß die Bundesverfassung auf dem Parteiensystem aufgebaut ist. Man mag nun darüber streiten, ob der Präsident des Gewerkschaftsbundes auch Präsident des Nationalrates sein soll. Sicher ist aber, daß die große Rolle, die die Sozialpartner heute in unserem öffentlichen Leben spielen, es erforderlich macht, daß die Kammerpräsidenten Abgeordnete zum Nationalrat sind, weil Gesetzgebung und Beschlüsse der Sozialpartner natürlich immer wieder eng verzahnt sind. Daß die Kammerpräsidenten auch gleichzeitig hohe Parteifunktionäre sein müssen, ergibt sich von selbst. So entsteht daraus eine ständige Überbelastung der parlamentarisch, kammer- und parteimäßig agierenden Funktionäre, die abzubauen bis heute niemandem gelungen ist und infolge der geschilderten Systematik unseres öffentlichen Lebens wohl auch nicht gelingen kann. Nicht zu Unrecht wurden über Anton Benya, den „doppelten Präsidenten“, auch protokollarische Fragen angeschnitten, etwa, wie sich die äußere Form des Zusammenwirkens der politischen Funktionäre abspielt. Dabei wird immer wieder ein Fehler gemacht, auf den hinzuweisen ist, wenn der Präsident des Nationalrates als „zweiter Mann im Staat“ bezeichnet wird. Nach dem — ungeschriebenen — österreichischen Protokoll, wie es von der Präsidentschaftskanzlei und dem Bundeskanzleramt gehandhabt wird, ist nicht der Präsident des Nationalrats, sondern der Bundeskanzler der „zweite Mann im Staat“. Dies deshalb, weil dieser gemäß Art. 64 der Bundesverfassung den Bundespräsidenten im Verhinderungsfall vertritt. Das Recht bzw. die Pflicht, das Staatsoberhaupt im Verhinderungsfall zu vertreten, das übrigens auch auf den Vizekanzler übergeht, wenn auch der Bundeskanzler verhindert ist, sichert dem Bundeskanzler den protokollarischen Vorrang vor dem Präsidenten des Nationalrates.

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