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Vom Mißtrauen zum Vertrauen

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In der Zweiten Republik gab es bisher keine große Verfassungsdebatte, keine große Verfassungsreform. Der Kampf um die österreichische Verfassung hat in der Ersten Republik stattgefunden. Damals wurde die Verfassung in Streit gestellt; in der Zweiten Republik ist sie außer Streit gestellt. Damals wurde die Verfassungsreform in Permanenz erklärt; in der Zweiten Republik wurde eine grundsätzliche Verfassungsreform nie zur Diskussion gestellt. Beide Großparteien gingen einer großen Debatte, einer großen Reform aus dem Wege. Keine hat ein Verfassungsreformkonzept mit Plan und Ziel erarbeitet. Beide haben anderseits immer wieder, in Hunderten von Einzelfällen, die Form der Verfassungsgesetzgebung strapaziert.

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In der Zweiten Republik gab es bisher keine große Verfassungsdebatte, keine große Verfassungsreform. Der Kampf um die österreichische Verfassung hat in der Ersten Republik stattgefunden. Damals wurde die Verfassung in Streit gestellt; in der Zweiten Republik ist sie außer Streit gestellt. Damals wurde die Verfassungsreform in Permanenz erklärt; in der Zweiten Republik wurde eine grundsätzliche Verfassungsreform nie zur Diskussion gestellt. Beide Großparteien gingen einer großen Debatte, einer großen Reform aus dem Wege. Keine hat ein Verfassungsreformkonzept mit Plan und Ziel erarbeitet. Beide haben anderseits immer wieder, in Hunderten von Einzelfällen, die Form der Verfassungsgesetzgebung strapaziert.

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Dies fand in speziellen Novellen zum Bundesverfassungsgesetz in der Fassung von 1929 (B-VG), in speziellen Verfassungsgesetzen, in Verfassungsbestimmungen in einfachen Gesetzen, in Staatsverträgen in Verfassungsrang, in Verfassungsbestimmungen in Staatsverträgen seinen unübersehbaren und unübersichtlichen Niederschlag. Eine eigentliche Reform fand aber nicht statt. Das meiste war pragmatisches Reagieren auf politische Erfordernisse des Tages. Dieser im einzelnen manchmal recht „leichte“ Umgang mit der Verfassung ist kritisiert worden, nicht zuletzt im Hinblick auf die Entwicklung und Gestalt des Verfassungsrechtes im ganzen. Klecatsky diagnostiziert einen ruinenhaften Charakter der Bundesverfassung. Die Verantwortung dafür tragen die beiden Großparteien, die die politischen Träger der Verfassungsgesetzgebung sind. Anderseits kann man den Großparteien im großen und ganzen Verfassungsrespekt bescheinigen, sowohl für die Ära der Koalitionsregierungen als auch für die Ära der Alleimregierungen. Mehr noch: Die seinerzeit heiß umfehdeten, wild umstrittenen Grundsätze der Verfassung werden heute vom Konsens aller drei politischen Lager getragen. Die in den Strukturprinzipien der Verfassung enthaltenen Strukturfehler fielen in der Staatspraxis nicht störend auf. Man hat sie vergessen, soweit sie überhaupt je bewußt geworden sind. Worin bestehen diese Fehler?

Die Strukturfehler liegen darin, daß bei einem aus zwei Großparteien und einer Kleinpartei bestehenden, „hinkenden“ Dreiparteiensystem, ein die Mehrheits- und Regierungsbildung hemmendes Proportionalsystem nach Schweizer Art mit einem System des Verhältnisses von Parlament und Regierung nach britischem Muster verknüpft ist und diesem parlamentarischen System ein volksgewähltes Staatsoberhaupt nach dem Vorbüd der Weimarer Verfassung aufgesetzt ist. Oder wie Kafka formulierte: „Dieses Wahlsystem ist — wie die Schweiz beweist — nicht in sich schlecht, sondern nur, wenn es mit der Gewaltenkonfusion nach englischem Vorbild gekoppelt ist. Die Verfassung der Eidgenossenschaft und die Verfassung Englands haben jede ihre eigene Logik. Man kann nicht ohne Schaden Elemente beider miteinander mischen. Der grundlegende Fehler der österreichischen Verfassung besteht darin, daß man dies ebensowenig wie den Unterschied zwischen der repräsentativ-demokratischen und der plebiszitär-demokratischen Idee erkannt hat. Es ist ein schwacher Trost, daß die Vierte Französische Republik denselben verfassungspolitischen Fehler aufwies.“ Ähnlich wie seinerzeit in der Weimarer Verfassung sind im österreichischen Regierungssystem Einrichtungen zu einem Ganzen verbunden, die verschiedenen Modellen entstammen. „Diese heterogenen Elemente“, meinten Pelinka und der Verfasser in „Demokratie und Verfassung in Österreich“, „folgen ihren eigenen Gesetzen, den Gesetzen der Systeme, von denen sie herrühren“. Das ist vielleicht zu scharf formuliert. Aber die Möglichkeiten bestehen. Und sie haben sich, insbesondere in der Ära der großen Koalition, zeitweise verwirklicht. Die Regierungsunfähigkeit einerseits, die Oppositionsunfähigkeit anderseits, der Mangel an Effizienz und der Mangel an politischer Kontrolle waren damals evident. Die Strukturfehler wurden nicht behoben.

Aber die politische Praxis und Entwicklung hat diese Fehler, die in der Kombination an sich heterogener Institutionen bestehen, im großen und ganzen überwunden. Die Bundespräsidentschaft ist bisher nicht das „Trojanische Pferd aus Weimar“ geworden, das präsidiale Element ist nicht in Richtung eines Gaullismus oder Pompidouismus fortentwickelt worden. Der Bundespräsident ist das „parlamentarische Staatsoberhaupt“ eines parlamentarischen Regierungssystems geworden. Aber muß es so bleiben? Der Bundeskanzler ist in der Ära der Alleinregierung in Richtung eines britischen Premierministers weiterentwickelt worden. Durch verschiedene, die Verfassung ergänzende Konventionalregeln wurden heterogene Elemente des Regierungssystems „homogenisiert“. Die Weichen wurden alle auf parlamentarisch gestellt. Aber muß es so bleiben? Das parlamentarische Regierungssystem hat sich trotz oder wahrscheinlich gerade wegen der Sozial- oder Wirtschaftspartnerschaft stabilisiert. Die manchmal kritisierte Wirtschafts- oder Sozialpartnerschaft, die nicht in der Verfassung vorgesehen ist, dürfte die in der Verfassung enthaltenen Struktur-defekte des Regierungssystems, seine Funktionsschwächen, ausgleichen. Sie hat eine das Regierungssystem ergänzende, stabilisierende Funktion und erfüllt das Bedürfnis nach Sicherheit. Hinsichtlich des parlamentarisch ausgerichteten Regierungssystems und der Wirtschaftsoder Sozialpartnerschaft haben sich bei den Großparteien Konsens und Vertrauen etabliert. Dissens und Mißtrauen der Ersten Republik sind überwunden. Die Kombination heterogener Elemente im österreichischen Regierungssystem geht ja zu einem großen Teil auf das große politische Mißtrauen zurück, das in der Ersten Republik zwischen den beiden großen Lagern bestand. Dieses Mißtrauen und die Unfähigkeit zu einem fundamentalen politischen Konsens kamen besonders bei dem Versuch zum Ausdruck, einen Grundrechtskatalog aufzustellen. Der Versuch scheiterte und erzeugte jenes Paradoxon Austriacum, daß der Grundrechtskatalog der Dezemberverfassung 1867 in die neuösterreichische Verfassung übernommen wurde, der Grundrechtskatalog jenes Liberalismus, dem seinerzeit Sozialdemokraten und Ohristlichsoziale kaum wohlgesinnt waren. Aus dem seinerzeitigen fundamentalen Mißtrauen zwischen den beiden großen Lagern ist auch der Torsocharakter des B-VG zu erklären, auf den vor allem Erma-cora hinweist, die Tatsache, daß vieles ungeregelt geblieben ist, die Tatsache, daß Lücken, Ubergangsbestimmungen, Provisorien, Promessen das österreichische Verfassungsrecht charakterisieren. Mit dem seinerzeitigen fundamentalen Dissens zwischen den beiden Großparteien hängen auch die äußerlich weitgehend ideologische Indifferenz, das Fehlen weltanschaulicher Aussagen im B-VG und sein streng formaler Charakter zusammen. Man kann auch sonst von einem „Baugesetz des Mißtrauens“ sprechen, das wie ein schwarzroter Faden die Verfassung durchzieht. Dieses „Baugesetz des Mißtrauens“ manifestiert sich nicht nur in der Gestaltung des Regierungssystems auf Bundesebene, sondern insbesondere auch in der Gestaltung des Verhältnisses von Bund und Ländern. Die raffinierte Kompliziertheit und Kasuistik der unitarisch ausgerichteten bundesstaatlichen Kompetenzverteilung widerspiegelt die Machtverhältnisse der beiden Großparteien in der Ersten Republik und ihr pragmatisch-opportunistisches Operieren in Kompetenzfragen. Wie beim Parlamentarismus läßt sich aber auch beim Föderalismus in der Zweiten Republik ein Konsens in allen politischen Lagern feststellen. Auch hier sind zu den eigentlichen Verfassungseinrichtungen neue föderalistische Institutionen und Techniken hinzugetreten.

In der Ersten Republik basierte die Verfassung auf einem Minimalkonsens, das Verfassungsleben ließ immer wieder die grundsätzlichen Kontroversen aufleben. In der Zweiten Republik läßt ein Maximalkonsens hinsichtlich der Verfassung und ein darüber weit hinausgehender Konsens im Verfassungsleben die Verfassungsfrage bisher nicht echt aufleben. Könnte nicht gerade dieser Konsens, diese „Verfassungsruhe“ ein guter Boden für eine Verfassungsreform sein? Im übrigen steht dieser „Verfassungsruhe“ eine „Rechtsun-ruhe“, eine Rechtsreform in Permanenz, gegenüber. Unter und bei diesem „Verfasssungsstillstand“ läuft in Österreich die vielleicht größte Rechtsreform seit dem Absolutismus ab. Noch vor wenigen Jahren bestand das Recht der Zweiten Republik zu einem großen Teil aus Normen, die aus der Monarchie stammten. Dieses alte Recht wurde und wird mehr und mehr durch neues Recht ersetzt. Kein Stein bleibt am anderen. Und viele neue Steine wurden und werden dem Rechtsgebäude hinzugefügt. Auf der einen Seite wächst eine alle Teilbereiche der Gesellschaft umfassende und erfassende Rechtsordnung und ein Gesellschaf tsgestaltungsstaat heran; auf der anderen Seite besteht eine „liberale“, streng formale Verfassung, die sich nur auf Wichtigstes beschränkt und nur für Teilbereiche des politischen Prozesses überhaupt Regelungen vorsieht. Die Gesellschaft wird zunehmend in fast allen Bereichen neu durchnormiert, durchorganisiert, durchrechtlicht. Die Verfassung weiß aber gewissermaßen nichts davon. Die liberale rechtliche „Selbstbeschränkung“ des Staates ist längst mit einem Prozeß der rechtlichen „Selbstorganisation“ der Gesamtgesellschaft verbunden. Das Recht ist zur wichtigsten Sozialordnung und zum wichtigsten sozialen Steuerungs- und Regelungsinstrument geworden. Die anderen Sozialordnungen, wie Moral, Sitte, Brauch, Konventionen usw., haben an Bedeutung verloren: Der Tendenz zur rechtlichen Selbstfesselung der Gesellschaft entspricht eine Tendenz der Selbstentfesselung der Gesellschaft, der „Befreiung“ aus anderen alten Ordnungen des Soziallebens. Durchrechtlichung der Gesellschaft: Das bedeutet zumindest teilweise Abwertung und Entwertung alter Ordnungen in den einzelnen Lebensbereichen; das bedeutet oft auch Organisationsänderungen und Machtverschiebungen in den Sozialbereichen. Verschiedene alte Sozialvormundschaften werden von neuen abgelöst. Unter der Ebene der Staatsverfassung etablieren sich „Subver-fassungen“. Formal sind sie von der Staatsverfassung abgeleitet, inhaltlich ergänzen und beeinflussen sie die Staatsverfassung. Wirtschaftsverfassung, Arbeitsverfassung, Betriebsverfassung, Verbände- und Parteienverfassungen, Medienverfassung usw. Diese Verfassungen sind es, die in der eigentlichen politischen Diskussion stehen. Um die eigentliche politische Verfassung ist es still geworden.

Mit einer Verfassungsreform gewinnt man keine Wahlen mehr. Um so bemerkenswerter ist es, wenn von der großen Oppositionspartei nunmehr eine große Verfassungsreform, von der Regierungspartei eine Bun-desstaatsreform in die politische Diskussion gebracht werden. Kommt es doch zu einer großen Verfassungsdebatte, zu einer großen Verfassungsreform in der Zweiten Republik? Unter diesem Aspekt stellen sich grundsätzliche Fragen.

Vereinfachend kann man sagen, daß eine Verfassung im herkömmlichen Sinn Regelungen über die Staatsorganisation und über die wichtigsten Beziehungen von Bürgern und Staat enthält. Die Regelungen beantworten vor allem die Frage, welche Organe in welcher Weise und innerhalb welcher Grenzen die wichtigsten Rechtsnormen erzeugen und die Staatsmacht ausüben dürfen. Kurz: Die Regelungen sagen, wer wie Recht erzeugen, wer wie Staatsmacht ausüben darf. Die Bestellung, der Aufbau, die Aufgaben und Funktionen der wichtigsten Staatsorgane und die wichtigsten individuellen Grund- und Freiheitsrechte gegenüber den Staatsorganen — das ist der typische Inhalt der Verfassungsregelungen. Die Verfassung enthält jedenfalls die notwendigsten Regelungen über die wichtigsten Ämter des Staates, weist ihnen Zuständigkeiten zu und begrenzt sie. Die Verfassung ist ein Gesetz, das nur unter erschwerten Bedingungen erzeugt und abgeändert werden kann und damit unter besonderer Bestandsgarantie steht. Die in den Oiganisa-tions- und Grundrechtsregelungen der Verfassung niedergelegten politischen Entscheidungen bringen zum Ausdruck, was für den Staat als Rechtsgemeinschaft außer Streit stehen soll, was ihn immer wieder als politische Einheit schaffen soll. Die Regelungen über die Staatsorganisation mögen äußerlich noch so „wertfrei“ formuliert sein; sie implizieren bestimmte Wert- und Zielentscheidungen. Die erhöhte Bestandsgarantie verbunden mit institutionellen Kontrollen bedeutet diesbezüglich eine gewisse Sicherheit.Was soll eine Verfassung? Als Ziel jeder Verfassung sah und sieht man im westlichen Verfassungsverständnis Machtlegitimation, Machtbegrenzung und Machtkontrolle zum Zwecke der Realisierung des Gemeinwohls in Freiheit. Die Verfassung soll Herrschaftsträger einrichten, Macht legitimieren, Kompetenzen zuteilen und begrenzen, Kontrollen vorsehen. „Verfassen“ heißt Gewalten zuteilen und verteilen: Die Staatsleitung soll einerseits „stark“ sein, damit sie das Gemeinwohl verwirklichen und die Freiheit schützen kann; anderseits soll sie nie so stark werden können, daß sie ihre Macht zum Schaden von Gemeinwohl und Freiheit mißbrauchen kann. Karl Loewenstein, der jüngst verstorbene große Verfassungslehrer, stellte die aktuelle Frage: „Nach welchen Kriterien bemißt sich in unserer Zeit der Massengesellschaft, der Wert einer geschriebenen Verfassung?“ Und er gab die Antwort: „Von einer guten' Verfassung wäre dreierlei zu verlangen. Erstens: der politische Prozeß, dessen Einrichtungen und Techniken sie verkörpert, muß so beschaffen sein, daß die Regierung ihre Aufgaben sachgemäß und innerhalb einer angemessenen Frist verwirklichen kann. Zweitens: Die Verantwortlichkeit der Regierung für das, was sie getan oder zu tun unterlassen hat, sollte eindeutig feststellbar sein, mit entsprechenden politischen Belohnungen für positive und Sanktionen für negative Ergebnisse. Drittens: Es muß ein wirksamer Schutz der Rechte und Freiheiten der Bürger gegen Beeinträchtigungen von Seiten der öffentlichen Gewalten wie machtvoller Privatinteressen bestehen.“ Diese pragmatischen Maßstäbe sind auch an unsere Verfassung anzulegen. In allen drei Punkten schneidet sie nicht allzu glänzend ab. Freilich wird man sagen können, daß sie im großen und ganzen auch nicht gerade schlecht abschneidet. Zu diesem „gemischten“ Ergebnis kommt man auch, wenn man die Postulate der Effizienz und der Demokratie an die Verfassung anlegt (die ja in Loewensteins Kriterien enthalten sind).

Eine andere, aber sehr wesentliche Frage ist, ob wir zu unserer Verfassung, die eine „Staatsverfassung“ ist, eine „Gesellschaftsverfassung“ dazu bauen sollen. Die Organisation der einzelnen Gesellschafts- und Lebensbereiche, also deren Verfassung, steht ja derzeit in einem Prozeß umfassender Umstrukturierung, diese „Verfassungen“ stehen in der aktuellen Diskussion. Soll man aus diesem Grund, und um die Staatsverfassung inhaltlich anzureichern, Regelungen über die grundsätzliche Organisation der einzelnen Gesellschaftsbereiche in die Verfassung aufnehmen? Sollen zum Staatsaufbau, zu den Grundlagen der Staatsordnung, zur Staatsorganisation, der Gesellschaftsaufbau, die Grundlagen der Gesellschaftsordnung, die Gesellschaftsorganisation dazukommen? Soll man gar gesellschaftspolitische Programme und Modelle in die Verfassung aufnehmen? Wer alle diese Fragen bejaht, plädiert für den Ubergang vom westlich-liberalen Verfassungsbegriff zum sozialistischen Verfassungsbegriff. Das ist sicher manchem nicht bewußt, der von der Verfassung eine klare und eindeutige Antwort auf jede gesellschaftspolitische Frage haben will. Von unserer sehr formalen, inhaltlich und umfänglich beschränkten „Staatsverfassung“ erwarten viele viel mehr als von einer solchen Verfassung füglich erwartet werden kann. Unsere Verfassung enthält aber vor allem Verfahrensregelungen, die die Herstellung einer funktionsfähigen Staatsorganisation und der wichtigsten Rechtsnormen zum Ziele haben. Sie sagt wenig aus über den Inhalt dieser Rechtsnormen. Die Verfassung ist auch insofern formal, als eine Änderung ihrer Normen ohne formelle Gesetzesänderung kaum möglich ist. Die offiziellen Interpreten der Verfassung verstehen sich meist als Gefangene des Wortlauts. Trotzdem glauben manche, gesellschaftspolitische Aufträge aus ihr ableiten zu können. Sie wird manchmal als gesellschaftspolitischer Wegweiser, ja sogar als gesellschaftspolitisches Programm angesehen. Der deutsche Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis hat die Vorstellung der Verfassung als sozialer und geistiger Eisenbahnfahrplan mit Recht kritisiert. Was er hinsichtlich des Verständnisses des Bonner Grundgesetzes kritisierte, gilt erst recht bei einer weltanschaulich und gesellschaftspolitisch so neutralen, formalen, „liberalen“ Verfassung, wie es die unsere ist. Weltanschauung, Gesellschaftspolitik usw.,

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