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Maßanzug mit Löchern

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Unsere Verfassung wird permanent reformiert. Es sind kleine Reformen am laufenden Band. Aber über große Reformen wird seit Jahrzehnten erfolglos diskutiert. Die politische Kraft für eine Neuordnung war freilich bisher noch nicht vorhanden.

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Unsere Verfassung wird permanent reformiert. Es sind kleine Reformen am laufenden Band. Aber über große Reformen wird seit Jahrzehnten erfolglos diskutiert. Die politische Kraft für eine Neuordnung war freilich bisher noch nicht vorhanden.

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Es gibt in Österreich Leute, die das Verfassungsleben im Zusammenhang mit der Verfassung eines Mannes sehen. Da dieser der Verfassungsminister ist, zu ihm der Verfassungsdienst und die Verfassungsjustiz ressortieren, ist diese Sicht sogar staatsrechtlich legitimiert.

Und da er als Regierungschef und Obmann der stärksten Partei nicht nur mit dem Staatsruder, sondern auch mit dem Parteiruder stürmische Wogen teilen muß und mit beiden auch noch vieles andere tun muß, ist diese Sicht auch politisch verständlich.

Aber unser Konstitutionalismus ist in vielfältiger Weise von „Konstitutionen" abhängig. Die der Mitglieder der Bundesregierung sind bei der Personalisierung der Politik eben die wichtigsten.

Verfassungsreform kann bei diesem personalisierten Verfas-

sungsverständnis leicht mißverstanden werden: Verfassungsreform könnte den Wechsel der Regierung meinen. Bot nicht derselbe Text tatsächlich ein unterschiedliches Bild im „ÖVP-Staat" und im „SPO-Staat"?

Trotzdem ist Verfassungsreform auch etwas anderes. Die Verfassung ist die rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens. In Österreich war und ist sie in erster Linie der fest- und fortgeschriebene Kompromiß der zwei Großparteien. Sie ist zwar durch das lange Tragen ein Anzug geworden, der offenbar allen politischen Kräften paßt; sie ist so etwas wie ein rot-weiß-roter Konsens.

Aber für kritische Betrachter wird sie nicht nur von einem schwarzroten Faden des Mißtrauens durchzogen, sondern sie hat viele Löcher und Lücken. Sie ist insofern auch ein „rot-weiß-roter" Dissens.

Kritiker sehen daher das Charakteristische unserer Verfassung nicht in dem, was sie regelt, sondern in dem, was sie nicht regelt.

Unsere Verfassung ist im übrigen ein aus verschiedenen Teilen zusammengestückeltes Kostüm. Neben dem Bundesverfassungsgesetz und den Landesverfassungen gibt es ja Hunderte Sonderverfassungsgesetze und Verfassungsbestimmungen in einfachen Gesetzen und Staatsverträgen. Dadurch wird das „Anlegen der Verfassung" zu einer besonderen Kunst.

Um wenigstens zu wissen, welche Worte heute den Inhalt der Verfassungsurkunde ausmachen, ist immer wieder eine Wiederverlautbarung diskutiert worden. Seit 25 Jahren erfolglos.

Das eigentliche Hauptstück einer Verfassung, die Grund- und Freiheitsrechte, werden seit 20 Jahren im Hinblick auf eine Reform diskutiert. Die politische Kraft für die Neuordnung war aber bisher nicht vorhanden.

Das Forderungsprogramm der Bundesländer wird immer wieder in den politischen Prozeß eingebracht. Die Diskussion über die Reformen der föderativen Staatsorganisation setzte zu Beginn der achtziger Jahre geradezu mit Wucht ein. Die Bürgerinitiative „Pro Vorarlberg" und die siebzig-prozentige Willenskundgebung der Bevölkerung Vorarlbergs setzte einen Paukenschlag. Die Wirkungen lassen auf sich warten.

Wir haben keine große Reform, sondern kleine Reformen am lau-’ fenden Band. Jedenfalls kommt es in einer Stückarbeit zu einem Stückwerk. Die ständigen kleinen Reformen gehen meist sang- und klanglos über die Bühne.

Vor einiger Zeit ist wieder eine Verfassungsnovelle erlassen worden. Sie behandelt die Herabsetzung der Mindeststimmenanzahl für ein Volksbegehren auf 100.000, Aufhebung der Vermittlungsrolle des Bundeskanzlers im Falle von Einsprüchen des Bundesrates gegen Gesetzesbeschlüsse des Na-

tionalrates, Neuregelung der Wiederverlautbarungskompe-tenz des Bundeskanzlers, Möglichkeit der Ablehnung der Behandlung einer Verfassungsgerichtshofbeschwerde, wenn keine hinreichende Aussicht auf Erfolg besteht, Aufnahme der Regelungen über die Volksanwaltschaft in das Bundesverfassungsgesetz’ und sie regelt auch die verfassungsrechtliche Festlegung der Staatssymbole der Republik Österreich.

Ist sich der Verfassungsgesetzgeber, sind sich also die beiden Großparteien dessen bewußt, daß die Verfassung selbst ein politisches Symbol ist?

Die großen Massenmedien widmen sich dem kaum. Immerhin meldet die Presse mitten im Sommer kurz und bündig, daß SPÖ-Klubobmann Heinz Fischer „an einige wichtige Verfassungsänderungen erinnert, die dieser Tage in Kraft getreten sind". Man muß Fischer wirklich dankbar sein, daß er an Verfassungsänderungen erinnert. Denn welcher Staatsbürger liest schon die Bundesgesetzblätter?

Man konnte im Sommer auch lesen, daß der Bundesrat aus seinem Dornröschenschlaf erlöst werden soll. Aber bekanntlich gibt es für kein anderes Verfassungsorgan so viele Reformvorschläge wie für den Bundesrat, so daß man sagen könnte, je mehr Konzepte, desto weniger Konsequenzen. Vielleicht aber sind das nicht Ausdrucksformen der Resignation, sondern der Diskussion in Österreich.

Die kleine Verfassungsreform am laufenden Band geht weiter. Dem Vernehmen nach soll das Parteiengesetz von der neutralen in die Richtung der wehrhaften Demokratie weiterentwickelt werden. Auch die Wahl des Bundespräsidenten wird jetzt im Dreiparteienkonsens teilweise einer Neuerung unterzogen.

Das Verfassungsrecht ist eine flüssige Rechtsmaterie geworden.

Der Autor, Ordinarius für Rechtslehre und Rektor der Wiener Universität für Bodenkultur, ist Vorsitzender der Rektorenkonferenz.

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