Österreich - © Foto: Pixabay

Die Wiederentdeckung der Verfassung

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80 Jahre - ein Alter, das rechtfertigt, nach der Verfassung der Verfassung zu fragen. Noch dazu wo politische Auseinandersetzungen zunehmend in den Verfassungsgerichtshof getragen werden. Gewinnt dadurch die Verfassung an Bedeutung? Was wollte Hans Kelsen mit seinem Werk erreichen? Warum wurde 1945 auf die Verfassung von 1920 zurückgegriffen? 

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80 Jahre - ein Alter, das rechtfertigt, nach der Verfassung der Verfassung zu fragen. Noch dazu wo politische Auseinandersetzungen zunehmend in den Verfassungsgerichtshof getragen werden. Gewinnt dadurch die Verfassung an Bedeutung? Was wollte Hans Kelsen mit seinem Werk erreichen? Warum wurde 1945 auf die Verfassung von 1920 zurückgegriffen? 

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Die österreichische Verfassung ist, an ihrem 80. Geburtstag, in einer höchst widersprüchlichen, paradoxen Situation: Es gibt gute Argumente dafür, dass die Verfassung der Republik für diese noch nie so wichtig war wie heute; und es gibt ebenso gute Argumente, die von einem entscheidenden Bedeutungsverlust der Verfassung ausgehen. Diese Dialektik findet aber deshalb keine Lösung in Form einer Synthese, weil die beiden Argumente zwar eine Gegenläufigkeit aufzeigen - aber die argumentativ vorgebrachten, sich widersprechenden Entwicklungen laufen unvermittelt, auf verschiedenen, miteinander nicht verbundenen Ebenen ab.

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These: Die Verfassung gewinnt an politischer Bedeutung Das Bundes-Verfassungsgesetz 1920 (B-VG) war ein politischer Kompromiss zwischen Sozialdemokraten und Christlichsozialen. Nicht Hans Kelsen, sondern Otto Bauer und Ignaz Seipel, Jodok Fink und Karl Renner waren die Schöpfer der Verfassung. Kelsen gab dem politisch ausgehandelten, kleinsten gemeinsamen Nenner der Großparteien eine bestimmte juristische Form.

Das B-VG wurde von Anfang an von den Parteien instrumentiert. Die Geschichte der Verfassung und insbesondere die Geschichte der Verfassungsinterpretation reflektiert den österreichischen Parteienstaat. Die Verfassung selbst war das Arsenal, aus dem sich die politischen Akteure - die Parteien - die notwendigen Instrumente holten, um politische Entscheidungen herbeizuführen oder auch zu verhindern.

Die Realität der österreichischen Verfassung, insbesondere seit 1945, wurde von den parteipolitischen Konstellationen bestimmt. Wichtigster Garant für diese Politisierung der Verfassung war der Entpolitisierung der Verfassungsgerichtshöfe. Diese wurde vor allem durch die Politisierung des Zuganges zu diesem Höchstgericht ermöglicht: Damit die direkte Kontrolle der Parteien über die Interpretation der Verfassung möglich war, bedurfte es eines Verfassungsgerichtes, das seine Rolle zurückhaltend, im Sinne des "judicial restraint" ausübte. Um dies wieder zu erreichen, regelten SPÖ und ÖVP in der Zweiten Republik den Zugang zu den 14 Positionen und sechs Ersatzpositionen des Verfassungsgerichtshofes im Sinne eines dauerhaften Proporzes: Jede(n) der Damen und Herren Höchstrichter, durchwegs juristisch hoch qualifiziert, beförderte das Vertrauen der einen oder anderen Partei in den Gerichtshof. So wurde garantiert, dass der VGH- im Rahmen der vorgegebenen Qualitätskriterien - sich bei der Interpretation der Verfassung gegenüber den Intentionen der Politik soweit als möglich zurückhielt.

Das alles geht dem Ende zu. Es ist nicht vorstellbar, dass die seit dem 4. Februar 2000 bestehende Bundesregierung und die sie tragenden Mehrheiten im National- und Bundesrat bei der Nominierung von Mitgliedern des VGH auf die Interessen der SPÖ Rücksicht nehmen werden. Die Folge wird eine Politisierung des VGH sein. Und diese zeichnet sich schon ab, da die SPÖ als Opposition, die über mehr als ein Drittel der Sitze im Nationalrat verfügt, von ihrem Recht intensiv Gebrauch macht, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen vom VGH untersuchen zu lassen. Der Verfassungsgerichtshof wird damit von den Parteien indirekt in eine politischere, stärker intervenierende Rolle gedrängt.

Die Verfassung gewinnt aber auch deshalb an Bedeutung, weil auch andere ungeschriebene Regeln der Konkordanzdemokratie zusammenbrechen. Das wurde schon im Zuge der Regierungsbildung nach der Nationalratswahl 1999 deutlich. Die Konventionalregel, dass der Bundespräsident den Kanzlerkandidaten der mandatsstärksten Partei zunächst mit der Regierungsbildung beauftragt und ihn dann zum Bundeskanzler bestellt, hat ausgedient. Die derzeitige Bundesregierung wird von einem Bundeskanzler geleitet, der nicht der stärksten, sondern der drittstärksten Partei angehört; und der Regierungschef wurde, ohne jemals vom Bundespräsidenten den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten zu haben.

Der Vorgang, der zur Bildung der Regierung Schüssel/Riess-Passer führte, war in Einklang mit der Verfassung - aber er widersprach vollständig der politischen Praxis, die sich aus bestimmten Gründen in den Jahrzehnten der Zweiten Republik über die Verfassung gelegt hatte.

Diese Praxis des breiten Konsenses zwischen den Parteien und den Verbänden ist am Ende. Die Sozialpartnerschaft ist eine Ruine. Die regierende Mehrheit - "speed kills" - ist stolz darauf, die Gesetzgebung möglichst zügig zu gestalten: auf Kosten der Konventionalregeln, die eine breitestmögliche (und daher auch zeitraubende) Einbindung aller wichtigen Interessen ermöglicht hatten.

Antithese: Die Verfassung verliert an politischer Bedeutung Die Verfassung, die durch das Wegschmelzen des Eispanzers der Konventionalregeln nun sichtbar wird, hat freilich eine entscheidende Einschränkung gegen sich: Das Bundes-Verfassungsgesetz vom 1. Oktober 1920 ist nicht mehr die Verfassung eines souveränen Staates. Der Beitritt Österreichs zur Europäischen Union war ein Verzicht auf nationale Souveränität. Der Beitritt war eben deshalb eine Gesamtänderung der Verfassung. Aus diesem Grund musste ja auch der EU-Beitritt durch eine obligatorische Volksabstimmung beschlossen werden.

Damit sind die in Verfassungsrecht gegossenen Inhalte und Regeln des B-VG und der anderen Bundesverfassungsgesetze nur mehr Verfassungsbestimmungen eines Autonomie genießenden Gliedstaates. Im Zweifel hat Europäisches Recht, hat die Europäische Verfassung Vorrang. Diese Europäische Verfassung gibt es zwar nur in Form eines Vertragswerkes. Aber diesem kommt im die Funktion einer bundesstaatlichen Verfassung zu - sie begrenzt den Gestaltungsspielraum der österreichischen Verfassung wie auch aller anderen Verfassungen der Mitgliedstaaten.

Natürlich kann argumentiert werden, dass hinter dem nicht zufälligen Umstand, dass es keine Europäische Verfassung im formalen, sondern nur im funktionalen Sinn gibt, die durchaus lebendige und politisch kräftige Restsouveränität der Mitgliedstaaten steht. Das Vertragswerk, das die Aufgabe einer Europäischen Verfassung erfüllt, ist im Einvernehmen der Mitgliedstaaten entstanden und kann auch nur im Einvernehmen verändert und weiterentwickelt werden.

Es kann also, im gegenwärtigen Stadium der Union, keine Vertrags- und damit keine (faktische) Verfassungsbestimmung geben, die nicht vom ausdrücklichen Willen Österreichs - der Bundesregierung und des Nationalrates - mitgetragen worden wäre.

Das ändert aber nichts daran, dass die faktische Verfassung der EU über der Verfassung Österreichs steht: Der Europäische Gerichtshof kann gegen den Willen Österreichs die Vertragsbestimmungen interpretieren und so implementieren. Die österreichische Souveränität ist damit entscheidend relativiert - und mit ihr die Bedeutung der österreichischen Verfassung.

Was hilft es, wenn diese Verfassung dem Nationalrat (dessen qualifizierter Mehrheit) die Möglichkeit einräumt, eine Agrarmarktordnung zu beschließen - und Österreich gleichzeitig durch das europäische Vertragswerk daran gehindert ist, von der europäischen Agrarpolitik abzuweichen? Was hilft es, wenn die Verfassung dem Nationalrat die Möglichkeit offen lässt, mit einfacher Mehrheit den Transitverkehr zu regulieren - die EU-Bestimmungen aber dieser Möglichkeit sehr enge Grenzen setzt?

Diese Entwicklung macht die Verfassung der Republik Österreich keineswegs bedeutungslos. Auch die Verfassung des Staates Illinois hat ja, trotz der Unterordnung dieses Staates und seiner Verfassung unter die US-Verfassung, für die Politik in Illinois erhebliches Gewicht.

Keine Synthese: Mit den Widersprüchen leben lernen. Der eine Trend, der die Bedeutung der Bundesverfassung als Bestimmungsfaktor österreichischer Politik verstärkt, und der andere Trend, der diese Bedeutung gleichzeitig schwächt, schließen einander nicht nur nicht aus: Diese Trends kommen miteinander auch gar nicht in Berührung. Denn der Bedeutungszuwachs der Verfassung ist primär ein prozeduraler - und der Bedeutungsverlust ist primär ein substantieller.

Im Sinne der Politikbegriffe der englischen Sprache, die eine bessere Differenzierung zulassen: Die österreichische Verfassung verliert im Bereich der "policies": Immer mehr politische Inhalte werden auf europäischer Ebene entschieden. Die Verfassung gewinnt aber gleichzeitig im Bereich von "politics": Immer mehr Kompetenzen werden innerösterreichisch vom Parteien- und Verbändestaat freigegeben.

Die Verfassung gewinnt in der österreichischen Politik an Gewicht als Regelwerk, das definiert, wer unter welchen Bedingungen was zu entscheiden hat. Der übermächtige Parteien- und Verbändestaat hat in dieser formalen, prozeduralen Bedeutung die Verfassung lange Zeit überlagert. Mit der wesentlichen Schwächung des Parteien- und des Verbändestaates wächst der Verfassung nun die Rolle zu, die ihr vom Wortlaut des Bundes-Verfassungsgesetzes eigentlich immer schon zugekommen wäre.

Die Verfassung verliert aber gleichzeitig und unabhängig davon an Gewicht bei der inhaltlichen Bestimmung österreichischer Politik. Landwirtschaftspolitik wird zur Gänze, Wirtschaftspolitik zum Großteil, Sozialpolitik ansatzweise in Europa bestimmt - und nicht in Österreich. Die europäische Kompetenz wird zweifellos zunehmen: Europäische Außen- und Sicherheitspolitik beispielsweise, die derzeit noch außerhalb der Gemeinschaftskompetenz konföderal bestimmt wird, drängt mit einer bestimmten Logik in den Bereich föderaler Zuständigkeit. Und mit der EU-Erweiterung wird der Spielraum für mehrstimmige Entscheidungen ausgeweitet werden. Die Folgen sind weitere Souveränitätsverluste; und damit Verluste für die Möglichkeit, im Rahmen der österreichischen Verfassung - ohne Rücksicht auf die europäische Ebene - Politik zu gestalten.

Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck.

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