Das Provisorium ist geblieben

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Andere Staaten Europas gaben sich nach Diktaturen und Weltkrieg neue Verfassungen. In Österreich setzte man die Weimarer Verfassung auf Wienerisch fort.

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Andere Staaten Europas gaben sich nach Diktaturen und Weltkrieg neue Verfassungen. In Österreich setzte man die Weimarer Verfassung auf Wienerisch fort.

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Am 1. Oktober 2000 feiert das Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG), die rechtliche Grundordnung Österreichs seinen 80. Geburtstag. Am 19. Dezember 2000 feiert es seinen 55. Wiedergeburtstag. Dieser Tag war der erste Zusammentritt des neugewählten Nationalrates und an diesem Tag trat das B-VG wieder in Kraft.

Andere Staaten Europas gaben sich nach Diktaturen und Zweitem Weltkrieg neue Verfassungen. In Frankreich, Deutschland und Italien wurden die seinerzeitigen vorfaschistischen Verfassungen gewogen und zu leicht befunden. Dementsprechend kehrte die Bundesrepublik Deutschland nicht in die Weimarer Verfassung 1919 zurück. Das hätten die Besatzungsmächte auch gar nicht erlaubt. Österreich nannte sich zwar nach der Wortschöpfung Karl Renners Zweite Republik, aber es kehrte in das B-VG 1920 in der Fassung 1929, also in eine Verfassung zurück, die in wesentlichen Elementen der Verfassung des deutschen Reiches 1919 nachgebildet war.

Die Gründe, warum sich andere Staaten nach 1945 neue Verfassungen gaben, lagen auch und gerade in Österreich vor. Aber trotz des unrühmlichen Endes der Demokratie 1933 und der Ersten Republik 1938 setzte man rechtlich nach der Herrschaft des Nationalsozialismus mit der Verfassung dort fort, wo die Demokratie 1933 geendet hatte. Die übrige Rechtsordnung knüpfte an jenen Rechtszustand an, der bis zur Besetzung Österreichs durch das Deutsche Reich 1938 bestanden hatte. Deutsche Rechtsvorschriften wurden durch das Rechts-Überleitungsgesetz 1945 als österreichische in Geltung gesetzt, sofern sie nicht mit dem Bestand eines freien und unabhängigen Staates Österreich, mit den Grundsätzen einer Demokratie oder mit dem Rechtsempfinden des österreichischen Volkes in Widerspruch standen oder nationalsozialistisches Gedankengut enthielten. Damit galten Rechtsvorschriften sehr unterschiedlichen Alters und aus sehr verschiedenen Regimen. Aber es galt eine Bundesverfassung und als Superverfassung die sogenannten Kontrollabkommen.

Trotz Militärdiktatur Unter dem Quasi-Protektorat der vier Besatzungsmächte hatte Österreich zwar nicht einmal eine Semisouveränität. Aber trotz der konstitutionellen Militärdiktatur der vier Alliierten wurde das B-VG von den österreichischen Staatsorganen als definitiv be- und gehandelt. Die Alliierten werteten es noch einige Zeit als einstweilige Verfassung und warteten auf eine neue. Aber der politische Wille von Schwarz und Rot machten mit der alten Verfassung wieder Staat. Manche sprachen von "Rückbruch".

Dieser staatsrechtliche Rückgriff war deshalb fragwürdig, weil das B-VG 1920, Fassung 1929, in wichtigen Bereichen einer Verfassung nachgebildet ist, die das Ende der Demokratie in Deutschland ermöglicht hatte. Ein Proporzwahlsystem a la Schweiz ist mit einem Verhältnis zwischen Parlament und Regierung nach englischem Muster und mit einem volksgewählten Staatspräsidenten mit Regierungsernennung kombiniert. Die politischen Erfahrungen der Ersten Republik Österreich und der Weimarer Republik haben dieses Institutionengefüge zumindest hinsichtlich der Ergebnisse als Fehlkonstruktion erscheinen lassen. Die Deutschen schufen sich neue Verfassungen; in Österreich setzte man die Weimarer Verfassung auf Wienerisch fort. Auch die Sozialisten stimmten einem Verfassungskonzept zu, das sie ursprünglich abgelehnt hatten. Sie rechtfertigten sich mit dem Hinweis, dass sie selbst den Kompromiss von 1929 mit dem Schritt zur Präsidentschaftsrepublik unterstützt hatten. Außerdem sei der Bundesstaat durch die Novelle '29 im Sinne des Zentralismus, also in ihrem Sinne geprägt. Die absolute Mehrheit der ÖVP im Nationalrat und die einstimmige Wahl Renners zum Bundespräsidenten in der ad hoc zuständig gemachten Bundesversammlung mögen das Ihre beigetragen haben. Als der kalte Krieg neue Spannungsverhältnisse brachte, warteten nur mehr die Sowjets und die Kommunisten auf eine neue Verfassung. Aber die alte hatte sich bereits durchgesetzt.

Der Alliierte Rat als zuständiges Organ der konstitutionellen Militärdiktatur hat sie nie formell genehmigt. Er hatte die Staatsregierung aufgefordert, einen sehr genauen Spezial-Entwurf eines Verfassungsgesetzes, welche keine anderen Bestimmungen enthält, als jene, die die unmittelbaren Notwendigkeiten erfordern vorzulegen. Daraufhin teilte die Staatsregierung das Verfassungs-Übergangsgesetz, das kurz vorher von ihr beschlossen worden war, in einen unverzichtbaren Teil - der in einem zweiten Überleitungsgesetz erlassen werden sollte - und in die übrigen Regelungen für den Verfassungsübergang. Sie sollten als Verfassungs-Übergangsgesetz im Nationalrat eingebracht und dort sofort beschlossen werden. Noch am 13. Dezember 1945, zwei Tage nach dem Schreiben des Alliierten Rates beschloss die Staatsregierung das zweite Verfassungs-Überleitungsgesetz; der Nationalrat beschloss am 19. Dezember das Verfassungs-Übergangsgesetz; der Bundesrat beschloss keinen Einspruch zu erheben, der Alliierte Rat stimmte allerdings nicht zu. Noch in einer Sitzung am 25. März 1946 hielt er die Verfassung von 1929 für unannehmbar. Die Westmächte waren aber bereit, sie als Provisorische Verfassung zu akzeptieren. Die österreichische Regierung wurde beauftragt, bis zum 1. Juli 1946 einen neuen definitiven Verfassungsentwurf fertigzustellen. Der Alliierte Rat erwartete den Beschluss einer ständigen Verfassung.

Kommunisten dagegen Die Regierung Figl aber ging im Sinne der Regierung Renner davon aus, dass dem Inkrafttreten der Bundesverfassung vom Alliierten Rat ja bereits durch die Genehmigung der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April, des ersten Verfassungs-Überleitungsgesetzes und der vorläufigen Verfassung zugestimmt worden sei. Die Nichtgenehmigung des vom Nationalrat am 19. Dezember 1945 beschlossenen Verfassungs-Übergangsgesetzes könne praktisch nicht als Ablehnung des B-VG angesehen werden. Dementsprechend stellte Figl in der Sitzung des Nationalrates am 19. April 1946 fest, dass auch ohne Rücksicht auf den Beschluss des Nationalrates vom 19. Dezember 1945 über das Verfassungs-Übergangsgesetz die alte Verfassung schon Bestandteil der geltenden Rechtsordnung sei. "Österreich hat also schon derzeit eine definitive Verfassung, und zwar die Verfassung von 1929." Dieser Feststellung widersprach Ernst Fischer. Man habe zwar für die Verfassungs-Überleitungsgesetze gestimmt, aber keinen Zweifel daran gelassen, "dass wir diese Verfassung als ein Provisorium betrachten, dass wir eine neue wirklich demokratische Verfassung für eine Lebensfrage Österreichs halten."

Adolf Schärf hielt dem entgegen, dass alle Parteien des Nationalrates einhellig auf den Verfassungszustand zurückgegangen seien, der vor der Ausschaltung des Parlaments am 4. März 1933 bestanden habe. Gegen die Stimmen der Kommunisten wurde auf Antrag Schärfs eine Entschließung angenommen, in der die Rechtsauffassung der Bundesregierung gebilligt wurde. Der Bundesrat nahm in der Verfassungsfrage denselben Standpunkt ein wie der Nationalrat. So setzte sich die schwarz-rote Rechtsauffassung durch, obwohl die Kommunisten in der Frage die Auffassung der vier Alliierten besser vertraten. Allerdings bestanden verschiedene Auffassungen. Die Vier waren einhellig für die Schaffung einer neuen definitiven demokratischen Verfassung. Während aber die Westmächte das B-VG immerhin als Provisorium akzeptieren konnten, war die Sowjetunion dagegen. So setzte ein semisouveräner Staat sich unter dem Quasi-Kollektivprotektorat der vier Besatzungsmächte rechtlich durch. Durch den Grundsatz der Kontinuität der österreichischen Staatsperson seit dem Untergang der Habsburger Monarchie trotz mehrerer Verfassungsbrüche sind wir durch diese Verfassung geradezu in die Erste Republik zurückgekehrt. Karl Renner hat die Zweite Republik mit der Verfassung der Ersten in Szene gesetzt und seitdem leben wir in ihr.

Dritte Republik?

Durch den EU-Beitritt wurden wir als Staatsvolk zum ersten Mal nach eigenem politischen Willen ein anderer Staat durch die Gesamtänderung der Bundesverfassung. Wir sind eine Dritte Republik geworden. Aber dieser Begriff konnte sich im Gegensatz zum noch mehr fragwürdigen der Zweiten Republik aus bekannten Gründen nicht durchsetzen. In dieser dritten Republik leben wir politisch unter der Verfassung der Ersten, wir leben aber auch unter der EU-Verfassung. Das haben wir jahrelang nicht gemerkt. Erst die Reaktionen der vierzehn anderen EU-Regierungen machten deutlich, dass sich vieles geändert hat. Sie machten auch deutlich, dass der unberechenbare politische Kern der Verfassung, die Spielregel der Regierungsbildung, seit 1929, gleichgeblieben ist. Das alles ist denk-, frag- und merkwürdig.

Der Autor ist Professor für Verfassungsrecht an der Universität für Bodenkultur in Wien.

BUCHTIPP Austria revisited. Demokratie und Verfassung in Österreich. Von Anton Pelinka und Manfried Welan. WUV Wien 2000, 120 Seiten, brosch., öS 198,- / e 14,39. Erscheint im September 2000.

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