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Der Staat wider Willen

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Rest-Osterreich hatte vor 75 Jahren wenig Chancen. Ein freier Bund mit den Nachbarn erwies sich als Illusion.

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Rest-Osterreich hatte vor 75 Jahren wenig Chancen. Ein freier Bund mit den Nachbarn erwies sich als Illusion.

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Die Endphase des Weltkrieges vor 75 Jahren setzte am 14. September ein - auf dem Balkan kapitulierte Bulgarien. Als sich Kaiser Karl am 16. Oktober in einem Manifest „An meine getreuen österreichischen Völker" wandte, war die Entwicklung längst über ihn hinweggegangen. Ideen, den Völkern der Monarchie unter einer gemeinsamen Krone Autonomie zu gewähren, waren den Sprechern der Völker zu wenig.

Serben, Kroaten und Slowenen, einschließlich Bosnia-ken, bildeten am 6. Oktober einen Nationalrat, tags darauf die Polen in Warschau einen Regentschaftsrat. Am 21. Oktober konstituierte sich im niederösterreichischen Landhaus in Wien die Volksvertretung Deutsch-Österreichs.

Der am 25. Oktober ernannte letzte österreichische Ministerpräsident Heinrich Lammasch, „fand kein Österreich mehr vor. Sein einziges Ziel konnte die friedliche Liquidierung sein" (Manfried Rauchensteiner). Die Meutereien und Desertionen wurden zu Massenerscheinungen - und trotzdem hielten die Truppen noch stand, als die Alliierten am 24. Oktober zur letzten Offensive in den Alpen antraten. Erst nach Tagen brach die Front zusammen.

Am 30. Oktober erreichten die Italiener Vittorio Veneto, tags darauf begannen die Waffenstillstandsverhandlungen in der Villa Giusti bei Padua. Die Bedingungen sahen

die unverzügliche Einstellung der Kampfhandlungen vor -360.000 k.u.k. Soldaten gerieten in italienische Gefangenschaft. Ab 4. November ruhten die Waffen.

„L'Autriche - c'est le re-ste!" Georges Clemenceau, Frankreichs Ministerpräsident, prägte diese Formel erst später während der Verhandlungen in St. Germain. Als sich die deutschsprachigen Abgeordneten des alten Reichsrates am 21. Oktober in der Wiener Herrengasse versammelten, um für „Deutsch-Österreich" eine Nationalversammlung zu bilden, sollte auch für sie das Selbstbestimmungsrecht gelten. Aber die anderen Völker forderten „historische Grenzen" - und die stimmten nicht mit den ethnischen überein. Vor allem nicht in Böhmen, wo dreieinhalb Millionen Deutsche sich als Deutschösterreicher fühlten.

Aber würde dieser „Best" überhaupt lebensfähig sein? Niemand glaubte daran. Bei der Konstitutierung der Nationalversammlung gingen die Meinungen nur darüber auseinander, wie man dieser Lage abhelfen könnte.

Karl Renner bekam den Auftrag des neugegründeten Vollzugsausschusses, ein Organisationsstatut für den neuen Staat auszuarbeiten - und nannte diesen zunächst „Südostdeutschland". „Die Bemü-

hungen, den Namen Österreich' abzutun, die 1938 gelingen werden, kommen 1918/1919 aus dem Bestreben, nicht als verantwortlicher Rechtsnachfolger der Monarchie belastet zu sein." (Hans^. Mikoletzky)

Am 30. Oktober wurde dieses Statut als Provisorische Verfassung in Kraft gesetzt. Der neue Staat nannte sich „Deutsch-Österreich", geführt von einem Staatsrat mit den Präsidenten Franz Ding-hofer (deutschnational), Jodok Fink (christlich-sozial) und Karl Seitz (Sozialdemokrat).

Bis zur Ausrufung der Republik sollte es noch zwölf Tage dauern. In dieser Zeit brach die Front zusammen, schied Österreich-Ungarn aus dem Bündnis mit Deutschland, wurde in Wien-Favoriten die Kommunistische Partei gegründet, die schon am 8. November in einem ersten Flugblatt zur „Erhebung des Volks" aufrief.

Am 4. November war der Waffenstillstand in Kraft getreten, am 7. in München die Revolution ausgebrochen. Am 9. November dankte Kaiser* Wilhelm II. ab, zwei Tage später verzichtete Kaiser Karl auf die Teilnahme an den Staatsgeschäften.

Nun sollte am 12. November feierlich die Republik ausgerufen, der Anschluß an die deutsche Republik verkündet werden. Um 15.55 Uhr verlas Karl Dinghofer von der Rampe des Parlaments die neue Verfassung. „Aber auch Karl Steinhardt ist da, Gründer und Sprecher der Kommunistischen Partei. Er hält einen Gegenentwurf in der Hand und ruft vom Fuß der Pallas Athene Österreich als Räterepublik aus" (Hugo Portisch).

Als die rot-weiß-rote Fahne aufgezogen werden soll, reißen Männer der Roten Garden den weißen Streifen heraus und ziehen die zusammengeknüpften roten Bahnen am Mast empor. Die aus der Rossauerkaserne herbeigerufene Volkswehr bekommt die Lage wieder in den Griff, als ihr Chef, der Unterstaatssekretär Julius Deutsch, den Roten Garden anbietet, sie geschlossen in die Volkswehr einzugliedern.

Der jungen Republik waren keine zwanzig Jahre beschert. Der Friedensvertrag verbot nicht nur die Anschlußklausel der Provisorischen Verfassung, sondern auch das „Deutsch-" im Namen. Die ideologischen Konflikte zwischen Christlich-Sozialen und Sozialdemokraten sprengten bald die Koalition, die Spaltung in „Lager" mündete im Bürgerkrieg, 1927, wieder 1934. Die Hoffnungen, erst im autoritären System, dann im Anschluß an das Reich den Ausweg aus Not und Elend zu finden, erwiesen sich bald als Illusion. Erst der Untergang der Ersten Republik konnte den Keim zur Zweiten legen.

Der Tod des Doppeladlers Österreich-Ungarn und der Erste Weltkrieg. Von Manfried Rauchensteiner. Verlag Styria, Graz 199), 719 Seiten, öS 690.-

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