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Abschied1 vom letzten „Herrenhaus“

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Friedrich Funder schildert in seinen berühmten Memoiren „Vom Gestern ins Heute“ die letzte Sitzung dies Abgeordnetenhauses des österreichischen Reichsrates: sie fand am 4. November 1918 im Hansen- schen Prachtbau am Ring statt, während gleichzeitig im niederösterrei- chischen Landtag in der Herrengasse schon der deutsch-österreichische Nationalrat seine ersten Sitzungen abhielt. Es war der Tag, da durch einen Irrtum der österreichisch-italienischen Waffenstill- standskommission Hunderttausende von Soldaten und Offizieren der k. u. k. Armee im letzten Augenblick noch in Kriegsgefangenschaft gerie ten. Es war der Tag, da im östlichsten Kronland der Monarchie, in der Bukowina, noch die drei offiziellen und die vier inoffiziellen Nationen sowie alle Riten, Katholiken, Unierte, Orthodoxe, Armenier und Juden mit Enthusiasmus den Namenstag des Kaisers feierten. Zu dieser letzten Sitzung waten noch ein paar deutsche, sowie ukrainische, polnische und rumänische Abgeordnete erschienen. Der Vorsitzende und alle Teilnehmer wußten, daß es die letzte Sitzung des Abgeordnetenhauses der jetzt auseihanderfallenden Monarchie sein werde. Aber in der Geschäftsordnung gab es keinen diesbezüglichen Passus. Und so blieb dem Vorsitzenden nichts anderes übrig, als die Sitzung aufzuheben und auf unbestimmte Zeit zu vertagen.

Auch die zweite Kammer des Reichsrates, das Herrenhaus, hatte noch knapp vor dem Zusammenbruch seine letzte Sitzung. Während aber das Abgeordnetenhaus für immer verschwunden war, fand durch ein seltsames Geschick, das Herzmanovsky-Orlando nicht hätte besser erfinden können, das Herrenhaus ein Ausgedingestüberl, wo es noch jahrzehntelang ein verstecktes Dasein führen konnte.

Dieses „Ausgedingstüberl“ befand sich im ersten Wiener Bezirk, in der — wie konnte es anders sein — Habsburgergasse. Der Mann, der dem Herrenhaus eine Zufluchtstätte bereitete, war ein Serbe von der Mi- litärgrenze, selbstverständlich orthodox und schwarz-gelb bis in die Knochen. Mit Verachtung bückte er auf die Serben aus dem Königreich hinab. Er war 1864, also noch zur Zeit, da die Militärgrenze bestanden hatte, geboren worden. Wie fast alle Menschen von der Militärgrenze trug natürlich auch er einen kleinen Adelstitel: Marko plemenit Radojčič, Marko Edler von Radojčič war sein gar nicht bürgerlicher Name. Er be trieb in besagter Habsburgergasse einen Friseurladen. Karl Kraus nennt diesen Laden ln seinen „Letzten Tagen der Menschheit“. Zur

Zeit der Mobilisation hatten Kriegsbegeisterte jenen Laden zertrümmert, da die Masse prinzipiell gegen alle Serben eingestellt war, mochten sie noch so gut kaiserlich sein.

In seinem Geschäft hatte er fast alle Mitglieder des Herrenhauses zu Kunden. Was lag näher, als daß er jetzt eben diesen Mitglieder-Kun- den gestattete, geheim die Rolle dės Herrenhauses in seinem Laden weiterzuspielen. Er selbst betätigte sich als eine Art Vorsitzender oder Speaker, der unter dem Vorwand, die einzelnen Kunden einzuteilen, dem und jenem das Wort erteilte und dem andern wieder abschnitt. Wunderschöne Mahagonikästen waren in diesem Sitzungszimmer des von nun an geheimen Herrenhaussaales auf- gestellt, jeder Kasten barg eine Menge von Schubladen, in denen jeder Kunde seine eigene Bürste und seinen eigenen Kamm aufbewahrte, diese Schubladen waren mit Namensschildern versehen, die eine komplette Liste dieses Herrenhauses ergaben. Da waren einmal die Mitglieder des kaiserlichen Hauses. Dann die vielen Reichsunmittelba ren. Unter ihnen erkannte man ganz deutlich zwei Parteien: die der

„Bergler“ und die der „Steine“. Die erstehen hatten aber nichts mit den Montagnards der französischen Revolution zu tun, sondern waren nur Mitglieder jener Familien, die kraft Erbrecht im Herrenbaus vertreten waren und deren Namen auf „berg“ endeten, wie Hohenberg, Fürstenberg, Starhemberg, Schwarzenberg. Zur Partei der „Steine“ wiederum gehörten jene, deren Namen auf „stein“ endeten, wie Liechtenstein, Dietrichstein, Herberstein.

Auch Männer, deren Vorfahren in der Ära Franz Josephs als Industrielle geadelt worden waren, zählte dieses Haus in seinen Reihen. Dann gab es noch einige „wenige“ bürgerliche Kanaillen (dies ein Ausspruch Hofmannsthals in einem Brief an seine Eltern, in dem er seine Kameraden bei den Einjahrig- Freiwilligen schildert). Nach dem Zweiten Weltkrieg — und dieses Ausgedinge von einem Herrenhaus erlebte auch noch diese Zeit — hatte es sogar ein sozialistisches Mitglied: der langjährige österreichische Außenminister und jetzige Bundeskanzler Dr. Bruno Kreisky wünschte, trotz seiner inneren Verbundenheit zu Karl Marx, nicht dessen martialisches Äußeres nachzuahmen und ließ sich vom Meister zurechtstutzen.

Das Ende des Zweiten Weltkriegs erlebte allerdings Herr Marko Edler von Radojčič nicht mehr. Am 10. September, gerade als er einen seiner ältesten Kunden „schönmachen“ wollte, wurde er das Opfer des Fliegerangriffes, den Wien an diesem Tag erlitt. Während des ganzen Kriegs hatte dieses Herrenhaus dank der Tarnung als Friseurladen sein Dasein weiterführen können. Dieser kleine Laden mit den schönen Mäha- gonikästen und den darauf befestigten Namensschildern gab den Mitgliedern eine Art Geborgenheit: hier wußte jeder, daß unter den Mitgliedern sich kein Spitzel befand, hier konnte man ungestört reden und mitteüen, was BBC gesagt hatte. Hier half man sich gegenseitig durch Verbindungen, durch Lebensmittel, durch sonstige Möglichkeiten. Das Herrenhaus erwies sich als ein ganz aiisgezeichneter Ort österreichischer Resistance. Meister Marko ging mit unerschrockenem Beispiel voran: als einmal ein Mann, den der Volksmund als „Piefke“ bezeichnet, den Laden betrat, versehen mit einer Frisur, die man in Berlin als ,hinten praktisch, vorne elejant“ bezeichnet«, und den Wunsch äußerte, sich die Haare schneiden zu lassen, sagte Meister Marko in seinem ungarisch- serbisch gefärbten Deutsch: ,3itte, sich erst Haare sechs Wochen wachsen zu lassen und dann wiederkommen.“ Einmal wiederum räsonierte er inmitten aller möglichen Mitglieder dieses Herrenhauses: „Ich habe im .Völkischen Beobachter’ gäläsän, daß in Kanada wurde Speckration herabgesetzt. Ich frage: wär hat bei uns jäh einen Speck gesähän? Ich räde nicht von Ässän, ich räde nur vom Sähän.“

Als Meister Marko ein Opfer des Fliegerangriffes geworden war, übernahm sein Kollege und Kompagnon nahtlos seine Rolle. Sein Kompagnon hieß Jaroslav Pikhart und war ein Tscheche aus König- grätz. Er hatte beim 11. Infanterieregiment gedient (meergrüne Egalisierung und gelbe Knöpfe — für alle, die es nicht wissen, die alte Monarchie kannte bei den Egalisierungen neun verschiedene Rot, 6 verschiedene Grün, zwei Grau, drei Gelb usw.). Zuerst in Caslau, dann in Trebinje, weit unten „in der Türkei“. Den Weltkrieg hatte er mitgemacht, natürlich als einer der neunhunderttausend Tschechen und Slowaken, die treu auf österreichischer Seite mitkämpften, und schließlich den Rang eines Feldwebels erlangt. Meister Jaroslav sprach alle .historischen“ Sprachen der Monarchie: Deutsch, Böhmisch, Ungarisch, Polnisch, Kroatisch und natürlich Italienisch. Slowenisch, als nichthistori sche Sprache, war unbekannt. Die Umgangssprache war natürlich die Armeesprache, also Deutsch, aber sonst sprach Meister Jaroslav mit jedem in der betreffenden Regimentssprache. Magyarische Magnaten, die er auf ungarisch begrüßte, wechselten meist sehr schnell’ auf die Armeesprache über, die ihnen geläufiger war als das heimische magyarische Idiom. Meister Ja- roslav kannte fast die ganze Welt, im geographischen wie auch im persönlichen Sinn. In Genua hatte er einen gewissen Uljanow rasiert, der spätester als Lenin Geschichte machte. In Monako mußte er in einem geschlossenen Zimmer Aga Khan die Haare schneiden, damit niemand sähe, wie dieser vor einem Giaur das Haupt entblößte. In seiner Jugend war der Dienst noch sehr hart gewesen: er dauerte täglich von 7 Uhr früh bis 9 Uhr abends. Am Sonntag ebenfalls von sieben Uhr früh bis zwei Uhr nachmittag. Wie eine Erlösung empfand es Meister Jaro, als die Arbeitszeit um 8 Uhr abends endete. Jedermann ließ sich damals rasieren und so ist dieser unmenschlich lange Dienst erklärlich, wenn auch nicht entschuldbar. Die einzige Möglichkeit, sich eine freie Zeit zu verschaffen, war, seinen Dienst aufzukünden und in die Welt zu ziehen.

Meister Jaroslav, dieser letzte Speaker des letzten Herrenhauses, führte noch bis 1964 sein Geschäft weiter. Ladislaus Rosdy lernte ich bei ihm kennen, kaum daß er aus Ungarn geflohen war. Er besaß damals nur eine Hose, aber diese war immer tadellos gebügelt, denn er legte sie jede Nacht unter die Matratze. Er besaß nur zwei /Hemden, aber diese waren immer tadellos weiß — während er eines trug, wusch seine Frau das andere aus. Und Obwohl der gute Ladislaus damals gar kein Geld hatte, hielt er wie alle Ungarn sehr viel auf schöne

Schuhe und trug solche vom teuersten Schuster der Welt, dem k. u. k. Hofschuhmachermeister Scheer, bei dem er immer in den roten Zahlen war. Und neben schönen Schuhen hielt er sehr viel auf eine gute Frisur, die sich immer gleich blieb und deshalb einmal den Zeitgenossen als zu lang, dann wieder als zu kurz erschien. Und so hatte er denn bald dieses Herrenhaus entdeckt und sich nahtlos eingefügt, gleichsam wie ein altungarischer Magnat in den ersten er weiterten Reichsrat. Kail Schwarzenberg, sechster Nachkomme des Siegers von Leipzig, war auch immer in diesem Herrenhaus aneutreffen. Und während Meister Jaro ihm den herabhängenden Tatarenbart stutzte, sprach er mit dem „Ferschten““ natürlich ausschließlich böhmisch.

1964 mußte er das Geschäft aufge- ben. Der Krebs hatte seinen Körper erfaßt. Alle Mitglieder des Herrenhauses zitterten bei dem Gedanken, daß es jetzt endgültig mit der Existenz dieses Ausgedinges zu Ende sein werde. Aber Meister Jaro war schon so alt, daß der Krebs ihm nur wenig anhaben konnte. Er genas wieder und führte, wenn auch verkürzt, in seiner Wohnung die Existenz des Herrenhauses weiter. Im vergangenen Jahr, über 90jährig, mußte er die Arbeit endgültig einstellen. Jedem Mitglied des Herrenhauses gab er Kamm, Bürste sowie das Namensschild zurück Mit dieser kleinen Geste löste er, der letzte Speaker einer einst großen Institution, diese auf. Vor kurzem starb er, fast 92 Jahre alt. Zu seinem Begräbnis versammelten sich nochmals fast alle Mitglieder dieses seltsamen Herrenhauses. Viele erlauchte Namen sah man. Sie alle, die an diesem Begräbnis teilnahmen, nahmen nicht nur von dem Toten, sondern auch endgültig vom letzten Herrenhaus Abschied. „Die Sitzung war geschlossen“.

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