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Ein polnischer Saint-Simon

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Vor einigen Jahren brachte mir der seither verstorbene damalige polnische Gesandte in Wien und spätere Präsident des Obersten Gerichtshofes in Warschau, Kurowski, ein umfängliches Manuskript, das ihm zur Einsicht übergeben worden war. Nach dem Lesen einiger Seiten war ich von dieser Maschinenniederschrift aufs höchste gefesselt. Es handelte sich um die Erinnerungen eines polnischen Edelmannes, der im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts und bis nach der Jahrhundertwende in Wien gelebt und als Kämmerer Zutritt in die Hofkreise, als . galizischer Großgrundbesitzer enge Fühlung mit dem Polenklub im österreichischen Reichsrat besessen hatte. Ohne irgendwelche literarische Verbildung oder Vorbildung berichtete er seine Eindrücke und Erlebnisse farbig, mit naiver Unverfälschtheit und mit außerordentlicher natürlicher Begabung. Vor mir lag eine geschichtliche Quelle allerersten Ranges und ein unbewußtes Kunstwerk dazu: stilistischen Ungelenkheiten, ja manchen Sprachsünden zum Trotz, die der im späten Alter Schreibende, des Polnischen entwöhnt, weil zu vieler Zungen kundig, begangen hatte. Ich verlieh meinem Entzücken Ausdruck, war jedoch sicher, daß unter der Ära Bierut ein derartiges Buch, das von Liebe zum alten Österreich, von Verehrung für Franz Joseph I. überfloß, nicht erscheinen konnte.

Zu meiner angenehmsten Überraschung ist es dennoch vor kurzem in Polen erschienen. In einer viel; tausend Exemplare umfassenden Ausgabe, die binnen kürzester Frist vergriffen war. Das macht der heute in Polen herrschenden geistigen Freiheit ebensoviel Ehre, wie dem Geschmack der dortigen Leserschaft. Bei dieser Feststellung darf es aber nicht sein Bewenden haben. Das Buch muß nachdrücklich der Aufmerksamkeit des österreichischen Publikums und überhaupt der europäischen Historiker empfohlen werden, noch ehe Übertragungen ins Deutsche und in westliche Sprachen vorliegen.

Marian Rosco Bogdanowicz, ein gutmütiger, von kindischer Eitelkeit geplagter, wohlerzogener Kavalier, entstammt einer Schicht, die man in Polen „ziemianstwo“ nennt und die in Galizien unter der Regierung Franz Josephs seit 1867 faktisch das mit weitgehender Autonomie bedachte Land gelenkt und verwaltet hat. Ein paar Magnaten von oben her, einige bürgerliche und ganz selten ein paar aus dem Volk kommende Eindringlinge von unten änderten nichts an diesem Sachverhalt. Die durch Verwandtschaftsbande, gleiche Anschauungen und gleiche Art der Lebensweise zusammengehaltene Schicht, die zu ihrer Hocharistokratie als zum Vorbild, zum tonangebenden Führer aufschaute, war anfangs und lange Zeit gegenüber dem ihr durch die Teilungen Polens verhängten Herrscher aus dem Hause Österreich, gegenüber Wien und allem, was von dorther ausging, feindselig gesinnt; anders als die schon früher dem Kaiserhof geneigten, oft und gerne am Donaustrand weilenden Magnaten. Seit jedoch Galizien seine Selbstverwaltung und das Ziemianstwo dabei den ersten Platz bekommen hatte, wuchs eine neue Generation im Geist der Anhänglichkeit an die Dynastie und der Einordnung in die Gesamtmonarchie heran. Bogdanowicz, 1862 geboren, liefert dafür ein typisches Beispiel. Nach einer in seiner engeren Heimat verbrachten Kindheit und Jugend, die er in mitunter heiteren, manchmal rührenden und stets eindrucksamen Genrebildern abkonterfeit, siedelt er sich 1894 in Wien an, wie er meinte dauernd. Obzwar im Mannesstamm von verhältnismäßig jungem Adel — rund 200 Jahre zuvor hatte die schwerreiche Familie das polnische Indigenat empfangen —, konnte er doch die vorgeschriebenen 16 ritterbürtigen Ahnen nachweisen, die zum Erlangen der Würde eines k. u. k. Kämmerers nötig waren: er war in der Wahl seiner unterschiedlichen Großmütter, Urgroßmütter, Ururgroßmütter genug vorsichtig gewesen; im Weibesstamm klappte alles. Dadurch hatte er das Eintrittsbillett in die Wiener Hofgesellschaft in der Tasche und, obwohl erst 32 Jahre zählend, einen Rang, der ihm den Vortritt vor Generalmajoren, Hofräten oder Landesgerichtspräsidenten gewährte. Herz, was begehrst du mehr?

Bogdanowicz, der Sitte gemäß sofort in die vornehmsten Häuser der Residenz eingeführt, mit der Zulassung zu allen Hoffestlichkeiten beglückt, von allen Angehörigen der ersten Gesellschaft mit dem in dieser aristokratischen Demokratie üblichen Du-wort angeredet — nur ein engster Kreis von höchsten Dignitären, Mediatisierten und Auserkorenen verweigerte ihm derlei äußere Bestätigung zugebilligter Ebenburt —, nimmt nun teil an allen Zeremonien, Bällen, Empfängen, Dejeuners, Diners, Tees, Wettrennen, Kartenpartien, Jagden, die jedes Mitglied der Society den ganzen Tag mit Beschlag belegten. Die, denen das alles nur aus Zeitungsberichten oder durch Erzählungen vertraut war, bewunderten scheu das Treiben der „happy few“ oder sie entrüsteten sich über deren Müßiggang. Doch nur die Eingeweihten, das heißt die Zugehörigen, betrachteten diese wohlgeregelte Daseinsart als zwar angenehme, doch durch Geburt oder Amt bedingte Pflicht, die zu leisten nicht minder sittliches Gebot und Ehrensache war, wie dem Intellektuellen die geistige, dem Bauern und dem Arbeiter die physische Tätigkeit.

Liest man die Schilderungen Bogdanowiczs, dann wird man aber nicht nur die Anschauungen, die logische und moralische Grundlage einer auf völlig von den jetzigen verschiedenen Voraussetzungen beruhenden Sozialordnung begreifen, sondern auch erkennen oder wenigstens erspüren, daß der scheinbare Müßiggang weithin eine andere Form gar emsiger politischer Tätigkeit umschloß, die gemäß den ästhetischen und gesellschaftlichen Regeln jener Zeit sorgsam alles verbarg, was nach Pathos, steifem Ernst, körperlicher Arbeit, Schreibfuchserei aussah. Ja, wir müssen einen Schritt weitermachen und entdecken, daß in mit Absicht spärlich gewählten Momenten Pathos und Ernst, um so stärker ergreifend, zu ihrem Recht kamen, wie etwa bei den von Bogdanowicz meisterlich dargestellten Osterzere-monien am Kaiserhof oder bei Leichenbegängnissen von grandiosem Prunk und nicht minder grandioser Schlichtheit.

Allmählich entschält sich der glänzenden Hülle auch die Vielfalt des politischen Geschehens, das sich unter dem Deckmantel spanischen Hofzeremoniells und charmanter, unsteifer Weltgewandtheit der Maßgebenden vollzog. Bogdanowjcz bezeigt sehr gesunde Ansichten über äußere und innere Politik; er weiß seinen polnischen Patriotismus harmonisch mit dem Bekenntnis zur übervölkischen Habsburgermonarchie zu vereinen. Er breitet vor uns eine Menge von Einzelheiten zur österreichischen Geschichte seines Wiener Dezenniums aus, in das die schicksalhafte, für das Los der Doppelmonarchie so bedeutsame Ministerpräsidentschaft Badenis fiel. Er streut die häufig für das soziale Klima, nicht selten auch für Politik und Wirtschaft bezeichnenden Anekdoten umher. Neben dem nur zu oft durch Schicksalsschläge umdüsterten würdigen Hof Franz Josephs^ neben den unvergeßlichen Gestalten des Kaisers und der bis ins Alter liebreizenden, seltsamen Kaiserin Elisabeth, dem zum Herrscher geborenen und zu Österreichs Unheil vorzeitig dahingemord-ten Thronfolger Erzherzog Franz, dem leichtfertigen, liebenswürdigen Erzherzog Otto und anderen Mitgliedern des Erzhauses, erscheint auch in allen Abstufungen das Wien der lahrhundertwende: erste und zweite Gesellschaft, gebildetes und halbgebildetes Bürgertum, Volk, viel Volk und noch mehr Volk. Köstliche Episoden, wie der Zusammenstoß des „polnischen Grafen“ im Leibfiaker mit einer auf Sonntagsausflug sich begebenden Familie des Kleinbürgertums, der sich hernach in Minne und Wohlgefallen auflöst, bilden ein Gegenstück zu Gemälden von gewaltiger Pracht, wie das der letzten Hoffestlichkeit, zu der Kaiserin Elisabeth erschien, oder der Prozessionen, in denen Franz loseph, das Kaiserhaus und alle hohen Würdenträger mitschritten (diese Heraufbeschwörungen einer noch nahen und dennoch so fernen Vergangenheit halten den Vergleich mit Joseph Roths berühmter Beschreibung im „Radetzkymarsch“ aus und sie übertreffen sie an Exaktheit). Hunderte von entschwundenen Größen der Hofkreise, der Politik werden aufs getreueste umrissen, von der Fürstin Pauline (Metternich) und dem Grafen Hans Wilczek dem Älteren, von Fürst Rudolf Liechtenstein, Fürst Montenuovo und Graf Karl Lanckoronski bis zu Lueger und Koerber, zu den Koryphäen des Polenklubs. Auch Künstler und Wirtschaftspotentaten treten auf. Nur von Wissenschaft und Literatur erfahren wir wenig. Die beharren jenseits der Interessensphären der Kreise, in denen sich Bogdanowicz bewegte.

*

Eine kleine Katastrophe, über die der Autor diskretes Schweigen breitet, hat ihn 1902 aus Wien vertrieben. Er wandte sich nach Paris, wo er dank seiner ausgezeichneten französischen Sprachkenntnisse alsbald Gesellschaftschroniken für den „Gaulois“ schreiben konnte. Er verkehrte in der Seinemetropole der „belle epoque“ wiederum mit den führenden Kreisen, und zwar sowohl dem Fau-bourg als auch der republikanischen Gesellschaft der Politiker, Großindustriellen, Finanzkönige, Schriftsteller und sonstigen Erfolgreichen aus den freien Berufen. Diesem seinem erweiterten Wirkenskreis entsprechend, erzählt . Bogdanowicz auch mehr von der literarisch-künstlerischen Atmosphäre Paris' als von der Wiens. Im Jahre 1907 vertauschte er Paris gegen London, wo er ebenfalls die aristokratischen und die literarischen Sphären beobachtete, mit denen er ständigen Kontakt unterhielt. 1919 kehrte er nach Polen zurück. Zu seinem Verderben. Denn es ging mit Bogdanowicz dort unaufhaltsam abwärts. Beim Ausbruch des zweiten Weltkrieges war er bereits auf die taktvolle Unterstützung hocharistokratischer Freunde angewiesen. Er überdauerte die Besatzungszeit, verlor beim Warschauer Aufstand vom Spätsommer 1944 seine Bibliothek und seine Aufzeichnungen, kam, völlig verarmt, in ein Altersheim, hierauf in ein Kloster und zuletzt wieder in ein Greisenasyl. Dort ist der einst verwöhnte, verhätschelte Kavalier am 24. März 1955, 93jährig, gestorben. Von seiner traurigen Spätzeit ist in den Memoiren nichts zu finden. Sie enden mit dem Jahre 1914. Ihren Kern, ihren unvergänglichen Wert und Reiz finden wir in den die Hälfte der beiden Bände umfassenden, Wien und den Kaiserhof, die österreichische Politik betreffenden Abschnitten. Sie heischen gebieterisch eine deutsche Aussähe.

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