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Verdrängte Vergangenheit

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Auf Tagungen im Inland, so auf den Österreichischen Historikertagen, auf internationalen Konferenzen und bei Zusammenkünften der Geschichtslehrer zweier oder mehrerer Staaten forderten die Pädagogen in den letzten Jahren immer wieder, daß in den Geschichtslehrbüchern alles ausgemerzt werde, was der Verständigung der Völker entgegensteht. Die deutsche UNESCO-Kommission hat schon vor etlichen Jahren in einem Appell an die Eltern, Erzieher und Behörden dieses Verlangen dahingehend erläutert, naß die Schulbücher mit „Takt, Toleranz und Weltoffenheit ein echtes und wahres Bild der Tatsachen und geistigen Bewegung in der Welt geben“ sollten. Die Bemühungen des Inter-tationalen Schulbücherinstituts in Braunschweig gingen und gehen in derselben Richtung. Es soll nun an einem Beispiel untersucht werden, inwieweit diesen durchaus zu begrüßenden Bestrebungen auf österreichischer Seite Rechnung getragen wird. Es handelt sich dabei um eine 1961 erschienene Neubearbeitung des den jüngsten Zeitabschnitt der Weltgeschichte betreffenden vierten Bandes des vom Bundesministerium für Unterricht einzig zugelassenen Lehrbuches für die Oberstufe der Mittelschulen, um einen Lehrbehelf also, der in der 8. Klasse aller österreichischen Mittelschulen verwendet wird und damit für die meisten der Absolventen das letzte Geschichtsbuch ist, das sie gründlich lesen müssen.

Nationaler Chauvinismus ist den österreichischen Geschichtslehrbüchern stets fremd gewesen. Ganz besonders gilt dies von dem vorliegenden Lehrbuch, desgleichen auch von dem ihm vorhergehenden 3. Band. Das nichtdeutsche Ausland wird kaum Anlaß zu

„Allgemeine Geschichte der Neuzeit von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart“ von Dr. Franz H e i 1 t h e r g und Dr. Friedrich K e r g e r. bearbeitet und ergänzt von Dr. Ferdinand Hütnet, 3. Auflage. Verlag HSIder-Fichler-Tempsky, Wien. 310 Seiten. Preis 43.50 S.

einer Klage finden. Das gilt auch für die dem Kreml treuen Bewohner der Sowjetunion, deren Erfolge und Leistungen zwischen den beiden Weltkriegen eingehend gewürdigt werden, während die vom bolschewistischen Regime, namentlich unter Stalin, begangenen Unmenschlichkeiten mit der Bemerkung schonend umschrieben werden, daß linke und rechte Abweichungen zum Teil mit Gewalt beseitigt worden seien. Über den in der Sowjetunion offiziell propagierten Atheismus wird bloß vermerkt, daß sich ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung zu ihm bekennt. Im Abschnitt über den italienischen Faschismus bleiben die zur völligen Italienisierung Südtirols getroffenen brutalen Maßnahmen unerwähnt.

Eine wenig gerechte Beurteilung, ja eine zum Teil die Tatsachen verzerrende Darstellung erfährt in der Neuauflage des Buches, ebenso wie in der alten Ausgabe, eigentlich nur ein Staat: die alte österreichisch-ungarische Monarchie. So wird Kaiser Franz Joseph zum Vorwurf gemacht, daß, auch nachdem er sich habe entschließen müssen, dem Volk Teilnahme am Staatsleben zu gewähren und diese nach und nach zu erweitern, dies nur auf dem Gebiet der Gesetzgebung getan habe, während die Exekutive immer dem Herrscher geblieben sei. In Wirklichkeit übte der Kaiser so wie die Regenten anderer konstitutioneller Monarchien die Regierungsgewalt gemäß den Staatsgrundsätzen durch die dem Parlament verantwortlichen Minister aus. Auch konnten beide Häuser des Reichsrates die Minister interpellieren, die Verwaltungsakte der Regierung überprüfen und ihren Ansichten und Wünschen bezüglich der Verwaltung in Resolutionen Ausdruck geben. Daß sich Kaiser Franz Joseph streng an die 1867 eingeführte Verfassung gehalten hat, wird nicht erwähnt, wohl aber liest man, daß vor allem in den Kreisen des liberalen Bürgertums eine große Unzufriedenheit geherrscht habe. Diese Aussage stellt ebenso eine unzulässige Verallgemeinerung dar wie die weitere Behauptung, daß in Österreich slawische Völker, ferner die Madjaren, Rumänen und Italiener gegen das übernationale Völkerreich angekämpft hätten. Es sollte richtiger beißen, daß Politiker dieser Völker s-uf eine Beherrschung des Staates [Austroslawismus) oder auf eine Lockerung seines Gefüges hinarbeiteten. Die ebenfalls ohne zeitliche Abgrenzung aufgestellte Behauptung, daß infolge Lahmlegung jeder parlamentarischen

Tätigkeit durch Obstruktion die österreichische Regierung „fast regelmäßig“ sich des Rechtes, Notverordnungen zu erlassen, bedienen habe müssen, ist eine arge Übertreibung.

Warum wird ferner in dem kleingedruckten (!) Absatz über das Kriegsgeschehen von 1866 neben Tegetthoff, Moltke und Benedek nicht auch der Sieger von Custozza, Erzherzog Albrecht, genannt? Während das Lehrbuch den Vorteilen, welche die englische Kolonialherrschaft Indien gebracht habe, mehrere Sätze widmet, werden die 30jährige Zivilisationsund Kulturarbeit der Habsburgermonarchie in Bosnien und Herzegowina sowie der dadurch erworbene moralische Anspruch auf die 1908 erfolgte Annexion dieser Provinzen übergangen.

Der Brand des ersten Weltkrieges habe sich, so liest man, „an den nationalen Ansprüchen der Balkanvölker ,an Österreich-Ungarn“ entzündet. Welche Völker außer den Serben sind damit gemeint? Verbindet sich übrigens mit dem Wort „Ansprüche“ nicht zu leicht die Vorstellung von b e-rechtigten Forderungen? Bei Ausbruch dieses Krieges, heißt es weiter, „hat die überwiegende Zahl aller Österreicher sämtlicher Nationalitäten die Pflicht zur Verteidigung des Staates erfüllt, aber keine Nation identifizierte sich mit Österreich“. Daß diese Pflichterfüllung gleichwohl nicht nur bei Kriegsausbruch, sondern vier Jahre hindurch mit größtem Heroismus geschah, wird nicht einmal angedeutet. Die schweren Schlachten gegen die russische Dampfwalze bei Lemberg und in den Karpaten werden mit den kleingedruckten Sätzen abgetan: „Im Osten richtete sich der russische Angriff tatsächlich gegen das österreichische Galizien und die Bukowina. Dadurch konnte der russische Vorstoß gegen Ostpreußen aufgehalten werden.“ Eine ähnliche Verharmlosung des blutigen Geschehens stellt auch die Schilderung des Krieges gegen Italien bis zum Durchbruch bei Flitsch und Tolmein im Herbst 1917 dar; sie erschöpft sich in dem kleingedruckten Satz: „Nach dem Kriegseintritt Italiens richteten sich die Angriffe der italienischen Armee gegen die österreichischen Stellungen in Südtirol und am Abhang des Karstes in der Gegend von Görz (Isonzo-schlachten).“

Die Geschichte der Republik Österreich wird im vierten Band mit der irrigen Angabe eingeleitet, Kaiser Karl habe unter dem Eindruck des militärischen Zusammenbruches den Regierungsgeschäften entsagt. In Wirklichkeit tat er es unter dem massiven Druck von links. Über unser Bundesheer findet sich in diesem Band bezeichnenderweise kein einziges Wort.

Was nützt es, wenn bei Treffen mit Historikern des Auslandes auf ein besseres Verständnis der Vergangenheit Österreichs hingewirkt wird, aber in einem maßgebenden österreichischen Lehrbuch dieses Verständnis vielfach fehlt?

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