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Geschichtsbetrachtung der neueren Zeit von hoher Warte

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Jean Rodolphe de S a 1 i s, aus einer der ältesten und berühmtesten Schweizer Familien stammend, die der Welt schon viele bedeutende Diplomaten, Gelehrte, Generäle geschenkt hat; Professor für neuere Geschichte an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich; Verfasser bekannter Bücher über Sismondi, Giuseppe Motta, Rilkes Schweizer Jahre; während des Krieges Sprecher des bekannten „Berichtes zur Lage“ im Sender Bera-münster; eine Mischung von Diplomat und Gelehrten; Jean Rodolpho de Salis, der somit durch seinen Beruf einerseits, durch seine Zugehörigkeit zur Schweiz anderseits wie kein anderer in der Lage ist, die Geschichte der neuesten Zeit von hoher und objektiver Warte zu betrachten, legt den ersten Band seiner „Weltgeschichte der neuesten Zeit“ vor (Orell Füßli Verlag, Zürich). Dieses Werk ist auf drei Bände berechnet. Der erste, bereits erschienene Band, der gleichsam die Ouvertüre zur heutigen Zeit darstellt, umschließt die Zeit von 1871 bis 1904. Der zweite Band soll das Jahrzehnt vor dem ersten Weltkrieg, den Weltkrieg seihst und das Jahrzehnt nach den Friedensschlüssen darstellen, während der dritte der Darstellung der neuen Weltkrise und deren Entladung im zweiten Weltkrieg vorbehalten ist.

Der vorliegende, sehr stattliche Band (738 Seiten, viele Bildbeigaben) teilt sich in zwei Hälften: die erste ist der deutschen Vormachtstellung zur Zeit Bismarcks, die zweite der Politik der Großmächte im Zeichen des Imperialismus gewidmet. Der erste Teil dieses ersten Bandes behandelt u. a. die nationalstaatliche Einigung Deutschlands und deren Folgen für die Deutschen und die europäische Politik; die Einigung Italiens und die Römische Frage; die Orientalische Frage; Oesterreich-Ungarn; den Streit um Bulgarien; den Beginn der kolonialen Ausbreitung der europäischen Mächte; das republikanische Regime in Frankreich; die irische Frage. Der zweite Teil ist begrenzt durch die großen Ereignisse dieser Epoche, den Pakt zwischen Frankreich und Rußland, Frankreich und England; zeigt das Wirkungsloswerden des Dreikaiserbundes einerseits und des Dreierbundes anderseits; die Jagd nach überseeischem Besitz und die daraus entstehenden Konflikte wie den Burenkrieg, die Faschodakrise, das Abessinienabenteuer, den Boxeraufstand usw.

Dieser erste Band der „Weltgeschichte der neuesten Zeit“ ist ein großartiger Wurf. Besonders beeindruckend für den Leser: die klare Gliederung des Stoffes, die hervorragende Sachkenntnis des Verfassers, die noble Sprache, seine Objektivität, die dem Grundsatz Rankes, der Historiker möge zeigen „wie es denn wirklich gewesen wäre“ weitgehend gerecht wird. Kabinettstücke in der Darstellung sind z. B. vor allem die Betrachtung der bismarckschen Politik mit ihren Fehlgriffen in der Innenpolitik, ihren verheerenden Folgen für die Deutschen, denen jedes politische Denken abgewöhnt wurde; oder die Dreyfus-Affäre, der Burenkrieg, die Einigung Italiens usw.

Nach soviel Lob sei es auch gestattet, einige Einwände zu machen bzw. auf einige Fehler und kleine Irrtümer hinzuweisen. Sie betreffen vor allem die Donaumonarchie, deren Situation der Verfasser nicht nur glänzend, sondern auch bei aller Objektivität, mit einem Unterton menschlicher Wärme und Anteilnahme schildert (vielleicht erklärlich aus der Tatsache, daß eben dieses kaiserliche Oesterreich für viele Mitglieder der Familie Salis eine zweite Heimat wurde). Was wir aber trotzdem einwenden möchten, ist, daß der Verfasser die erhaltenden Kräfte für die Monarchie zu gering einschätzt. Diese erhaltenden Kräfte waren bei allen Völkern der Monarchie vorhanden, insbesondere auch bei den Tschechen, wie es in letzter Zeit u. a. das große Werk von H. Münich „Die Böhmische Tragödie“ zu zeigen vermochte. Kramar und Masaryk waren t. B. bis

zum Ausbruch des Krieges unbedingte Anhänger der Monarchie. Im Weltkrieg selbst fielen auf österreichischer Seite rund 250.000 Tschechen und Slowaken, bei den Legionen dagegen, die auf Seiten der Alliierten kämpften, nur 4500. Wenn der Verfasser auf Seite 611 Hitlers „Mein Kampf“ zitiert, der meint, daß um 1900 der Zerfall der Monarchie bereits allen Einsichtigen klar war, und der Verfasser hinzufügt, daß dieser Ansicht wahrscheinlich auch Eduard Benesch anhing, der damals gerade in Paris studierte, so kann die Dissertation eben dieses Benesch, die er 1908 für das Doktorat der Universität Nancy verfaßte, als Gegenbeweis angeführt werden, denn in dieser tritt Benesch für die Erhaltung der Monarchie ein und sagt auch, daß ein Auseinanderfallen derselben nicht stattfinden werde. Was unseres Erachtens der Verfasser auch nicht berücksichtigt, ist die staatserhaltende Kraft der österreichischen Sozialdemokratie, die nicht umsonst den Namen „k. k. Sozialdemokratie“ führte und die vom Brünner Programm angefangen, alle ihre Kräfte einsetzte, um den Bestand der Monarchie zu sichern, war sie doch durch ihr 1907 eingeführtes allgemeines Wahlrecht Preußen und Rußland weit voraus und stellte sie anderseits einen Wirtschaftskörper dar, dessen Zerstörung — wie es auch eintrat — nur Not und Unglück bringen konnte. So sind die Worte des Führers der Sozialdemokratie, des Tschechen Smeral, zu verstehen, der sich während des Krieges äußerte, daß die Politik Masaryks und Beneschs ein

nationales Unglück, insbesondere auch für die Tschechen sei.

Dies zwei Haupteinwände. Im folgenden sei noch auf einige kleine Fehler hingewiesen, die die Tendenz des Werkes nicht im mindesten ändern, und nur angeführt werden, um bei einer sicher zu erwartenden Neuauflage getilgt werden zu können. So schreibt der Verfasser auf Seite 66, daß das lom-bardo-venezianische Königreich zwar gut verwaltet wurde, aber Adel und Bürgerschaft von allen zivilen, militäriscljen und höfischen Stellen ausgeschaltet war. Dieses Urteil stimmt nicht. Denn es gab zahllose Beamte und Offiziere der Monarchie, die aus diesen Provinzen stammten. Die gefürchtetsten Richter, wie Salvotti, waren dagegen Italiener. Die k. k.. Marine hatte bis 1866 ausschließlich italienische Dienst- und Kommandosprache. In ihr waren Venezianer besonders zahlreich vertreten, die Seeschlacht bei Lissa gegen Italien wurde vielfach nicht nur mit kroatischen, sondern mit venezianischen Matrosen gewonnen.

Auf Seite 128 sagt der Verfasser, daß die Italiener es als tiefe Kränkung betrachteten, daß Kaiser Franz Joseph I. den Besuch des italienischen Königs in Wien im Jahre 1873- nie erwiderte. Auch dies ist unrichtig, denn Franz Joseph erwiderte diesen Besuch bereits zwei Jahre später, allerdings nicht in Rom, was er als katholischer Monarch fünf Jahre nach dem Raub des Kirchenstaates wohl nicht tun konnte, sondern in jenem Venedig, das noch neun Jahre vorher Besitz seiner Monarchie gewesen war.

Auch war es nicht Kaiser Franz Joseph, der als erster Monarch ständig Uniform trug (S. 149); diese Sitte führte bereits Joseph II. ein.

iNicht Maria Theresia verbot den Jesuitenorden (S. 144), sondern derselbe verschwand ms Oesterreich, als er vom Papst aufgehoben worden war. Der Orden kam auch nicht erst nach dem Konkordat von 1855 zurück, sondern bereits 1827.

Die nichtkatholischen Konfessionen konnten sich nicht erst nach Kündigung des Konkordates frei entfalten, sondern wurden bereits 1860 rechtlich gleichgestellt (S. 154).

In der Monarchie gab es nicht nur römisch-katholische und orthodoxe Slawen (S. 134), sondern auch viele griechisch-unierte, wie insbesondere die Ruthenen.

Kroatien besaß nicht ungarische Amtssprache, sondern einschließlich der Landwehr die eigene kroatische (S. 149).

Palacky war nicht Tscheche (S. 135), sondern — ähnlich wie Masaryk — ein Slowake aus der mährischen Slowakei.

Wohl war Conrad von Hötzendorf ein Anhänger des Präventivkrieges gegen Italien, nicht aber der Thronfolger Franz Ferdinand, wie der Verfasser sagt (S. 610), der im Gegenteil immer in diesem Punkt gegen Conrad Stellung nahm.

Papst Pius IX. regierte nicht ein Vierteljahrhundert, sondern 32 Jahre, nämlich von 1846 bis 1878 (S. 65).

Das Garantiegesetz von 1870, das den Papst scheinbar als Souverän behandelte und den bei ihm akkreditierten Gesandten die diplomatische Immun-nität beließ (S. 59), wurde vom gleichen Italien „durchlöchert“, als es 1915 die Vertreter der Donaumonarchie, Deutschlands und Bayerns beim Vatikan auswies.

Dies, wie gesagt, nur einige Mängel des hervorragenden Werkes, die leicht getilgt werden können.

Mit Interesse • kann die Welt und insbesondere der österreichische Leser auf das Erscheinen des zweiten und dritten Bandes warten und nur hoffen, daß diese auch tatsächlich bald greifbar sein werden.

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