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Kindheitserinnerungen eines russischen Dichters

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Der russische Titel dieses Buches lautet „Ljeto Gospodnje“, das heißt „Das Jahr des Herrn“, und das entspricht wohl besser dem Inhalt, der aus Schilderungen jener religiösen Bräuche besteht, wie sie ein Knabe, welcher Glied einer frommen orthodoxen Familie ist, im Laufe des Jahres mit den anderen zusammen durchlebt. Schmeljow war der Sohn eines Kaufmannes, und die Moskauer Kaufmannschaft galt von jeher als Bewahrer alten Brauchtums. Dort wurde ungeheuer viel gegessen, aber auch ungeheuer viel gefastet, und es ist offenbar die Sehnsucht des Emigranten Schmeljow, die uns keine Fischsorte und keine Brotsorte unterschlägt. Alles wird in einem rosigen Lichte gesehen, was vertretbar ist, da es sich um die Erlebnisse des umhegten Lieblingssohnes eines wohlhabenden Vaters handelt, so daß die Welt aus einer wohligen Nestperspektive betrachtet wird. Immerhin dürfte es nicht schaden, sich daneben die Schilderungen der Moskauer Unterwelt von Giljarowski vor Augen *u führen, um nicht der Verwechslung einer goldenen Kindheit mit einem goldenen Zeitalter zu erliegen. Diese Welt ertrinkt sozusagen im religiösen Brauchtum, und es kündigt sich die Gefahr eines Pharisäismus an, der im Fischessen ein gutes Werk sieht und rittlings auf einem Karpfen ins Paradies einreiten möchte. Nichts sei gegen religiöses Brauchtum gesagt; auch wir haben unsere Florianikipfel und Allerheiligenstriezel; es ist gut, wenn religiöses Erinnern das Leben bis in die letzte Faser durchdringt — aber auf einmal kann die Sache dann umschlagen, und das Kipfel wird wichtiger als der Florian.

Vieles in dem Buch ist bloße Aufzählung der

Sehnsucht, aber einiges, zum Beispiel das Apfelkapitel oder auch das von der Wasserweihe, ist dichterisch und kommt zum Leser herüber. Das Werk muß, eben wegen der ungeheuren Menge geschilderter Dinge, nicht leicht zu übersetzen gewesen sein. Man hat sich dadurch zu helfen gesucht, daß man viele Spezialausdrücke unübersetzt ließ, aber sie hinten in einem kleinen Wörterbuch vereinigte. Wenn ich hier ein paar bemerkte Irrtümer anführe, so soll das kein Einwand gegen die Uebersetzung sein, sondern bloß die Korrekturmöglichkeit für eine weitere Auflage bieten. Die Einzahl der „Blini“ genannten Pfannkuchen ist nicht „die Bline“, sondern „der Blin“; ebenso heißt ein bestimmtes Weißbrotgebäck nicht „die Kalatsche“, sondern „der Kaiatsch“. (Merkwürdigerweise gibt es diese Gebäck-beztichnung auch im Böhmischen: in Nestroys „Schlimmen Buben in der Schule“ bringt der Willibald einen „Golatschen“ in die Klasse.) Auch ist die Stadtteilsbezeichnung „Chamowniki“ ein Plurale tantum, also gibt es da keine Einzahl „Chamewni-kow“. Aber das sind Kleinigkeiten, die bei einem 500seitigen Werk schon unterlaufen können.

Trotz vieler dichterischer Einzelheiten ist das Werk wohl doch nicht zu den dauernden zu rechnen; ihm fehlt die eigentliche Handlung, und es schreitet, mit den Jahresfesten, von Zustand zu Zustand fort. Auch erreichen die geschilderten Menschen nicht jenes Leben, das sie uns zu Bekannten werden läßt. Leider kenne ich nicht den russischen Urtext — der kann dabei immer noch ein sprachliches Wunderwerk sein.

Sigismund v. Radecki

Von Moltke zu Hitler

Moltke. Von Eberhard Kessel. K.-F.-Köhler-Verlag, Stuttgart. 807 Seiten. Preis 48 DM

Vor hundert Jahren — 1858 — wurde Moltke zum Chef des Generalstabes bestellt, und er hat sein Amt durch dreißig Jahre in sehr bewegten Zeiten versehen. Da seine Tätigkeit bis in den Dreibund hineinreichte, kann die von Eberhard Kessel, dem der militärwissenschaftlichen Abteilung des Generalstabes des Heeres entstammenden Marburger Professor, verfaßte neue Moltke-Biographie auch in Oesterreich auf großes Interesse rechnen. Obzwar zahlreiche Moltke-Bearbeitungen, unter diesen mehr- und vielbändige Publikationen, vorliegen und die jüngste von Gerhard Ritter gebotene Charakteristik dauernden Wert behalten wird, stellt Kessels Arbeit doch eine willkommene Zusammenfassung dar, die sich noch auf im letzten Kriege großenteils zerstörte Quellen des Archivs des Großen Generalstabes und des Kreisauer Moltke-Archivs stützt. Die fehlende Dokumentation soll in einem Quellenband nachgetragen werden; 'die Bibliographie ist sehr zweckmäßig nach Moltke-Ausgaben, Spezialliteratur, Zeit- und Heeresgeschichte und Zeitgenossen gegliedert, wohl aus Raumgründen geht sie über die preußisch-deutschen Werke nur wenig hinaus.

Die Gestalt des für die gesamte Fachwelt ein Vorbild darstellenden Chefs des Generalstabes zeichnet der Autor in den Hauptlinien sehr einprägsam mit wohltuender Hinweglassung überflüssigen Beiwerkes. Vom Dreigestirn Bismarok-Roon-Moltke treten der Kanzler als die treibende Kraft auch in Moltkes Leben und Roon als der stets hilfsbereite Kriegsminister gebührend hervor, die Darstellung der Entwicklung des Wirkungskreises des Generalstabschefs, des Widerstreites der politischen mit der militärischen Führung sowie des militärischen Führungssystems kann den Anspruch erheben, als abschließend und maßgebend zu gelten. Man kann jetzt klar verfolgen, wie Moltke wiederholt zu unrichtigen politischen Ansichten gelangen mußte, weil ihm der amtliche Einblick in die Politik häufig verwehrt worden ist, und wie sich sein Führungssystem, das den Unterkommandanten weitgehende Selbständigkeit einräumte, erst 1870/71 auswirken konnte, da vorher, auch noch 1866, ein Höchstgrad an Ausbildung und überhaupt ein Maximum an Potential des militärischen Instruments als Voraussetzung fehlten. Eindrucksvoll wirkt in Kessels Schilderung das rein Persönliche des Marschalls: tiefe Bildung und gläubige Weltanschauung, Fleiß und Voraussicht, Wirklichkeitssinn, Ritterlichkeit und Anspruchslosigkeit; den Oesterreicher muß das Fehlen einer grundsätzlichen Feindschaft dem Habsburgerstaat gegenüber sympathisch berühren.

Bei der Großartigkeit der Moltke-Biographie Kessels fallen kleine Irrtümer natürlich unter das Maß. Auf einen sei jedoch ausdrücklich hingewiesen, daß nämlich Bismarck den sogenannten Präventivkrieg „grundsätzlich ablehnte“ (S. 3 52). Der Reichskanzler wollte den Krieg gegen Oesterreich schon im Jänner 1866, bevor sich noch Oesterreich neu bewaffnen könnte, er hat sich im Reichstag am 4. November 1871 eindeutig zum Vorbeugekrieg bekannt und wünschte einen solchen auch 1878. Auch Gerhard Ritter kann an dieser Haltung nicht ganz vorbeisehen. Die dem Werke beigegebenen Skizzen reichen zum Verständnis der militärischen Operationen aus, die Bilder beschränken sich auf die Person Moltkes und auf einige seiner Handzeichnungen. Alles in allem bedeutet die Neuerscheinung auch zur Geschichte Oesterreichs und Oesterreich-Ungarns einen äußerst schätzenswerten Beitrag.

Die Reichsgründung in Versailles. 18. Jänner 1871. Von Gustav Adolf Rein. Janus-Bücher. Band 7. Verlag R. Oldenbourg, München. 93 Seiten. Preis .20 DM.

Generationen von Deutschen haben den Akt der Reichsgründung so gesehen, wie ihn A. Werner in dem historisierenden Gemälde für die Lesebücher und die gute Stube festhielt: ein Akt der nationalen Größe und Einheit, der aus dem Sieg der preußischdeutschen Waffen erwachsen war. Die verdienstvolle Untersuchung von Prof. Rein zeigt, welche Kräfte in Wirklichkeit am Werke waren, um die Gründung de Kaisertums der Hohenzollern .durchzusetzen. Vor allem erweist sich deutlich, daß Bismarck mit den schwersten Widerständen rechnen mußte: einerseits die rein preußische Einstellung seines Königs, der sich erst nach qualvollen Szenen und gelegentlichen Tränenausbrüchen dazu bringen ließ, die Präsidentenstelle mit dem Kaisertitel anzunehmen, und anderseits die starken Bedenken der süddeutschen Staaten gegen das zu erwartende militärische und politische Uebergewicht Preußens. Die Entscheidung fiel durch Bayern, dessen romantischer Herrscher König Ludwig II. nur mühsam zur Zustimmung gebracht werden konnte. Als entscheidender Faktor trat aber auch der preußische Kronprinz in Erscheinung, der ganz anders als sein Vater von einer Erneuerung des Heiligen Römischen Reiches 'träumte, ohne dafür allzu großes Verständnis zu einten. Bismarcks Politik hat letzten Endes die Proklamation vom 18. Jänner 1871 erzwungen. Die zurückhaltende Einstellung des Wiener Hofes, der nach einem Bericht des norddeutschen Gesandten in Wien, von Schweinitz, die Neutralität treuer beobachtete als Belgien, Italien und andere Staaten, ermöglichte die Rückendeckung für Bismarcks kühne Gewaltkonstruktion, die nach der eigenen Meinung des Reichskanzlers ein Aufgehen Preußens in Deutschland zum Ziele haben sollte. Auch kommt nach Reins Untersuchung sehr stark zum Ausdruck, wie wichtig die britische und russische Zurückhaltung, ja das Wohlwollen der beiden Mächte, für die Reichsgründung waren. Zwei Tatsachen, welche die Erben der deutschen Staatsschöpfung von 1871 allzu leicht übersehen haben.

Die Vollmacht des Gewissens. Herausgegeben von der Europäischen Publikation. Verlag Hermann Rinn, München. 572 Seiten. Preis 9.80 DM.

Dieses Sammelwerk hat Gespräche und Diskussionen über den deutschen Widerstand zur Grundlage und umfaßt verschiedene deutsche Aufsätze und Diskussionsbeiträge. Der Präsident der Bundesrepublik, Theodor Heuss, hat nicht nur durch die Einleitung sondern durch seine Gedenkrede zur zehnten Wiederkehr des 20. Juli 1944 einen wichtigen Beitrag und eine klare Stellungnahme abgegeben. Katholische und evangelische Theologen erläutern in mehreren Kapiteln den Standpunkt gegenüber dem Widerstandsrecht. Helmut Krausnick untersucht in einem zentralen Kapitel auf Grund aller erreichbaren Akten und Unterlagen die Vorgeschichte und den Beginn des militärischen Widerstandes gegen Hitler — eine Arbeit, die auch durch künftige Forschungen kaum mehr überholt werden wird. Kurt Sendtner setzt mit seinem Kapitel über die deutsche Militäropposition im ersten Kriegsjahr Krausnicks Studie erfolgreich fort, während Georg Stadtmüller das Schrifttum zur Geschichte der militärischen Widerstandsbewegung 1933 bis 1945 aufzeigt. Das Buch entstand durch die Initiative des Generalmajors a. D. von Witzleben, München, eines Verwandten des hingerichteten Feldmarschalls, und hat die historische Forschung um einen sehr wertvollen Beitrag bereichert.

Deutsche Geschichte der jüngsten Vergangenheit.

Von Hermann Mau und Helmut Krausnick. (Mit einem Nachwort von Peter Rassov.) Gemeinschaftsverlag Rainer Wunderlich, Hermann Leins, Tübingen, und J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart. 207 Seiten.

Der verstorbene Generalsekretär des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, Dr. Hermann Mau, hat das vorliegende Werk begonnen und Helmut Krausnick, der verdienstvolle Schriftleiter der „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte“ vollendete diese Arbeit. In knappen Zügen, unter Verwendung aller vorhandenen Quellen, wird der ungeheure Stoff bewältigt und gleichzeitig eine eindrucksvolle Darstellung geboten. Mau hat in den Eingangskapiteln vor allem den Zerfall der Weimarer Republik in den Jahren 1932 und 1933, die Rolle der Reichswehr und das Ende der Parteien behandelt und den Ereignissen des 30. Juni 1934 und deren Folgen besonder Aufmerksamkeit zuteil werden lassen. Die Vorgeschichte des Kriegsausbruches und der Verlauf des zweiten Weltkrieges wurden gleichfalls noch von Dr. Mau geschrieben, ehe dieser Historiker der jüngeren Generation durch einen tragischen Unfall aus dem Leben schied. Dr. Helmut Krausnick hat dann die drei letzten Abschnitte „Verfolgung, Widerstand und Zusammenbruch“ behandelt und nicht nur ohne Bruch die ursprüngliche Planung vollendet, sondern auch aus dem reichen Bestand seiner Forschungen einen wertvollen Beitrag geleistet. Der große Erfolg des Buches, das bereits mehrmals aufgelegt wurde, zeugt für die solide Arbeit der beiden Verfasser, die mit strenger Wahrhaftigkeit die Geschichte der jüngsten deutschen Vergangenheit nicht zuletzt aus eigenem schmerzvollem Erleben niederschrieben.

Univ.-Doz. Dr. Ludwig Jedlicka

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