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Daseinsverfehlung?

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I.

Knapp nach dem zweiten Weltkrieg erschien ein fast zu schnell wieder vergessenes Buch aus der Feder Ernst Niekischs. Es trug den Titel: „Deutsche Daseinsverfehlung“. Nichts Geringeres wurde darin behauptet, als daß die Hitler-Katastrophe nur der Schlußpunkt einer über Jahrhunderte hin währenden Entwicklung gewesen sei. Für das deutsche Volk könne es also keine Anknüpfung an irgendeine Epoche seiner Vergangenheit, keine Heimkehr in eine vermeintlich bessere Zeit seiner Geschichte geben. Von überall her führten die Wege, manchmal nur verschlungen, zu jenem Endpunkt, der eben die Katastrophe bedeutete. Selbst den Siegermächten schauderte vor einer so heillos verzweifelten Selbstdarstellung der Geschlagenen. Die sowjetdeutschen Machthaber distanzierten sich schnell von diesem Buch, obwohl es in ihrem eigenen Bereich entstanden war. Sie ersetzten es durch eine schnell und zügig verfaßte Schrift des kommunistischen Historikers Abusch, die sich „Der Irrweg der deutschen Geschichte“ nannte. Dort waren wohl alle Fehler der vorkommunistischen Systeme Deutschlands seit dem Mittelalter getreulich verzeichnet, zugleich aber war ihnen eine fortschrittliche Linie durchlaufend entgegengesetzt, die mit den Bauernkriegen begann und im SED-System gipfelte.

Für das Sudetendeutschtum von heute gibt es weder das eine noch das andere Zeugnis. Noch niemand hat gewagt, aus der Schlußkatastrophe heraus auf eine von allem Anfang an verfehlte geschichtliche Existenz zu schließen. Es war aber auch nicht möglich, die dialektische Zweiteilung der sudetendeutschen Geschichte zu entwickeln und solcherart dem „bösen“ jeweils einen „guten“ Sudetendeutschen gegenüberzustellen. Man kann vielmehr im Blick auf alle Epochen der sudetendeutschen Geschichte (die ja diesen früher ungebräuchlichen Beinamen erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts trägt) sagen, daß Größe und Leistung, aber auch Irrweg und Schuld fast stets gemeinsame Sache aller war und daher aueh im Guten,wie im Bösen:1 von allen einbekannt und getragen werden muß. Moderne Historiker wie Emil Franzel, dessen „Sudetendeutsche Geschichte“ (Adam Kraft Verlag, Augsburg 1958) vielleicht die beste und objektivste zur Zeit vorliegende Darstellung ist, weisen allerdings mit Recht darauf hin, daß der Begriff „Sudetendeutschtum" selbst etwas vage ist. Er konstruiert ein durchgängig Gemeinsames, das dem seit Jahrhunderten in den Donauraum tendierenden Südmährer, dem bayrisch-pfälzischen Egerländer, dem immer noch der theresianischen Gemeinsamkeit mit dem größeren Schlesien nachhängenden Nordostböhmen eigen sein soll. Gewiß also entzieht sich das Phänomen Sudetendeutschtum einer völlig deckenden Begriffsprägung. Aber darauf kommt es heute, nach dem praktischen Verlust des Siedlungsraums, dem Abbruch sämtlicher lebensvermittelnder Verbindungslinien zu den jeweiligen Grenzlandschaften auch kaum mehr an.

Für die dreihunderttausend zu diesen Pfingsten in Wien Versammelten bedeutet Sudetendeutschtum eine Bewußtseinswirklichkeit, deren Herkunft und Entstehungsgeschichte hier weder analysiert werden kann noch soll. Ein solches Bewußtsein aber sucht seiner Natur nach Ankergrund in einer Vergangenheit, sucht neben der räumlichen die geistige Heimat, sucht den historisch legitimen Ursprung, von dem aus allein die Vision einer Zukunft, die Verpflichtung zur zielgerichteten Tat möglich ist. Ganz einfach gesagt: Man muß wissen, woher man kommt, um zu bestimmen, wohin man geht.

II.

Die Sudetendeutschen haben sich für diesen Tag, den sie in Wien, der Hauptstadt des neutralen Oesterreich begehen, mit besonderem Nachdruck gerade diese Frage zur Beantwortung vorgelegt. Die nach der historischen Heimat, dem „Grund", den es wiederzufinden gilt, will man an ein des Menschen würdiges, also der Entfaltung fähiges Leben in der Zukunft glauben. Gründlicher als mancher andere Volksstamm haben die Sudetendeutschen hier Illusionen aufgeben müssen. Und unsere Gegenwartsgeschichte verlangt diesen Akt der schonungslosen Selbstüberprüfung von Tag zu Trg härter. Versuchen wir, aus dem gestaltlosen Nebel der

Gegenwart rückwärts zu sehen, zu jenen Bergen und Hügelketten der Geschichte, von denen „uns Hilfe kommen“ soll.

Die blutbedeckten Hügel der unmittelbaren Vergangenheit scheinen zunächst jede Aussicht zu verstellen. Das Grauen der Austreibung läßt die unmittelbar davorliegende Aera in den Augen vieler Menschen, die mit dem Nationalsozialismus nichts zu tun hatten, als das immerhin noch „kleinere“ Uebel erscheinen. Aber auch auf den Höhen des Jahres 1938 kann das Sudetendeutschtum, wenn es unerbittlich ehrlich zu sich selbst ist, nicht jene geschichtliche Heimat finden, die einer wünschenswerten Zukunft' voranleuchten soll.

Der Anschluß der deutschbesiedelten Randgebiete an den Nationalstaat Deutschland konnte und kann nie die Erfüllung der sudetendeutschen Geschichte bedeuten. Das Ausgreifen in das Innere Böhmens mußte für jeden, der Iglau und Brünn, Olmütz, vor allem aber Prag seiner Geschichte und Art nach kennt, auf dem Fuße folgen. Das Münchner Abkommen, über dessen Paragraphengültigkeit heute noch ein fruchtloser, angesichts der Weltsituation geradezu gespenstisch anmutender Streit geführt wird, mag zehnmal formaljuristisch „rechtens“ gewesen sein. Es trug die den Vertrag zerstörende innere Unwahrhaftigkeit in sich. Jeder wußte es: der nach einem festgelegten Plan vorgehende Hitler ebenso wie die ihr durch die Preisgabe der demokratischen CSR beunruhigtes Gewissen mit eigenen Phrasen einschläfernden Beschwichtiger in London und Paris: Die „Resttschechei“ war nicht lebensfähig. Ein halbes Jahr später mußte ihre gewaltsame Einverleibung in den sich fälschlich „Reich“ nennenden hitlerschen Monsterstaat folgen. Ein Böhmen als Provinz des deutschen Einheitsstaates, Prag als Verwaltungsbezirk neben Pirna? Verwaltungsschema „F“ für Oldenburg und Kladno, für Bielefeld und Pardubice? Die Tschechen als Helotenvolk der neuen Herrenrasse, das Goldene Prag eine Provinzgarnison? Kann das die Vision eines im Grtjhd t sejnęr Gęšęhjįjįte , juheh eliJ deutschtums sein?

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Die hinter diesen Jahren liegende Hügelkette ist schmal und niedrig. Wir erwähnten vorhin die „demokratische CSR". Demokratisch gewiß im Vergleich mit dem Hitlerstaat; gemessen an dem, was nachher kam, eine in der Vergangenheit verklärte Zeit paradiesischer Liberalität. Aber stimmt dieses Bild wirklich? Standen nicht an der Wiege dieses kurzlebigen Staates Ge walt und Rechtsbruch? Trug nicht auch diese Tschechoslowakei, die ursprünglich eigentlich Tschecho-Slowakei hätte heißen sollen, den Todeskeim der Zerstörung in sich? Gewiß: da war die zumindest in ihren Greisenjahren um echte Humanität bemühte Philosophengestalt Masaryks, um ihn, lose geschart und von melancholischem innerem Zweifel gelähmt, die kleine Gruppe der von der braunen wie der roten Diktatur gründlich liquidierten tschechoslowakischen Demokraten, deren zertretene Lichter von keinem Hügel mehr grüßen können, die eigentliche „verlorene Generation Böhmens“, die Capek, Langer. Arno Novak, Ottokar Fischer, die wenigen sudetendeutschen Demokraten vom Schlage eines Bacher und Spiegel, der Männer um die „Bohemia“ und das „Prager Tagblatt“, die „Dritte Kraft" der Zwischenkriegsjahre, die zwischen den Fronten nicht nur zermahlen, sondern geradezu atomisiert wurde. Der letzte dieser Garde, eine junge Hoffnung der einsam werdenden Demokraten, Wenzel Jaksch, mußte am Ende noch im Londoner Exil vor dem nationalistischen Haß eines Dr. Edvard Benesch, der zuzeiten auch zu ihnen zu gehören schien, resigniert die Waffen strecken... .Nein: auch in diese aus Täuschung und Unwahrhaftigkeit geborene Konstruktion der CSR, die gerade die Besten beider Völker nicht retten konnten, gibt es für das Sudetendeutschtum kein Zurück mehr.

Von einer nur vermeintlich milden Abendsonne beglänzt, erheben sich dahinter die majestätischen Gipfel der altösterreichischen Vergangenheit. Aber wer, außer dem auf die Sprache der Akten angewiesenen Historiker, kann sie heute noch besteigen? Und was würde er auf ihren Höhen finden? Wirklich die allseitige Harmonie? Begegnen uns nicht hier die Jahrzehnte der eigentlichen Doppelmonarchie seit 1867 mit düsteren Schatten? Der verworrene Schlachtenlärm der Alldeutschen wie der tschechischen Chauvinisten, die Gewitterwolken des zur Entladung drängenden Nationalhasses, die trügerisch stille Schwüle vor dem Sturm. Gewiß: ž es--gab den Belvederekreis iumJ-den Thronfolgen' jesgäbiden Lichtblick des mährischen Ausgleichs, aber kann dies alles aus seinen zeitgebundenen Bestimmtheiten soweit gelöst werden, daß es verpflichtendes Leitbild für heute und morgen zu werden vermag? Wir müssen auch dies bezweifeln.

Fern am Horizont ist die Hochebene des Reichstags von Kremsier zu erkennen, der das Konzept eines wahrhaft großösterreichischen Zu sammenlebens entwarf. Aber schon wird es von dichtem Nebel verdeckt. Der Neoabsolutismus, die nationalliberale Aera, schiebt sich dazwischen. Die Tradition reißt ab.

Wer die Augen des begnadeten Romantikers hat, kann nun nach den ganz fernen Höhenzügen Ausschau halten. Er wird den mattgoldenen Schein jener der Bischofsmütze nachgebildeten überwölbenden Krone der Donau- und Moldauländer gewahren, die für den einsamen Rudolf II. zu Prag geschmiedet wurde, und ganz, ganz weit in der Himalajalandschaft des Jahrtausends die Krone des Heiligen Reiches, die auch jener Karl IV. noch trug, den alle Kinder Böhmens als den Vater ihres Landes verehren. Aber auf jene Höhe führt uns kein Pfad mehr zurück. Keiner, der ehrlich gegen sich selbst ist, wagt zu sagen, daß er in jener Luft atmen könnte. Wir stehen dort, wo wir unseren Weg zurück beginnen wollten: heute und hier.

Soll dies nun aber-Wirklich das Ende sein? Fazit des Sudetendeutschtums: die Fellachisie- rung in den neuen Gastländern, der totale Nihilismus, die Daseinsverfehlung? Wer die Dinge allein vom Politischen zu sehen vermag, wer nur in Grenzen, Verfassungen, Partei- und Regierungsprogrammen denken kann, wird nicht viel mehr zu sagen haben. Wer aber seinen Blick den Menschen zuwendet, den Alten, die aus jenen vergangenen Tagen kommen, den Reifen, die die Gegenwart durchstanden haben und auch den Jungen, die die Vergangenheit mit Glück und Schuld, mit Leid und Verstrickung nur noch aus dem Geschichtsbuch kennen, der wird gerade an diesen Wiener Pfingsttagen inbrünstiger denn je an den „Lebendigmacher“ glauben, den der Prophet Ezechiel im Alten Bunde der Verheißung über einem Gräberfeld von Gebeinen gewahrte. Wenn alles das, was hier mit schonungsloser Deutlichkeit niedergeschrieben wurde, zehnmal dokumentarische und historische Wahrheit ist: das andere ist auch Wahrheit, ist vielleicht noch mehr Wahrheit. Jene Kraft, die die Menschen der böhmischen und mährischen Länder auch nach 1945 nicht verließ, die sie befähigte, mit nichts und weniger als nichts anzufangen, sehr bald über den engen Bereich des privaten Neuaufbaues hinaustretend, die sie sehr oft und sehr schnell aus Empfangenden zu Gebenden werden ließ, die sie aber auch aus der Vereinzelung des nur für sich Raffenden hinausführte, zur Gemeinschaft hindrängte, sei es in der Heimat Deutschland, sei es in der Heimat Oesterreich. Dieser Geist ist ein Ahnenerbe, aber er ist viel, viel mehr als ein bloßer Traditionsauftrag, er spęist sich bus jenen Quellen, die Oesterreich und Deutschland wieder auferstehen ließen. Und niemand kann leugnen, daß in Wien die tiefsten Brunnen zu finden sind, die durch Jahrhunderte hindurch Lebenswasser gespendet haben. Um aus diesen Brunnen zu schöpfen, um von diesem Wasser zu trinken, sind die Hunderttausende in die Hauptstadt

Oesterreichs gekommen, um in ihren Mauern Wiedersehen zu feiern, mit dem Freund und Bruder, mit dem längst verstorbenen Ahnen, zuletzt aber auch mit sich selbst, um sich jener erneuernden großen Kraft bewußt zu werden, die den historischen Urteilsspruch der „Daseinsverfehlung“ nicht kennt.

Dieses Prinzip des triumphierend sich erneuernden Lebens gilt für den einzelnen wie auch für die größere Gemeinschaft. Das Heimatrecht, das als ein natürliches Recht seinem Wesen nach unaufgebbar ist, kann nur kraft dieser Lebenshoffnung der europäischen Mitte aus einer toten Formel zu einer Zukunftsrealität werden. Auf dieses Lebensgesetz, das stärker sein wird als die Eisernen Vorhänge und künstlichen Barrieren, kann das Sudetendeutschtum heute allein setzen, auf keine historisch-politische Konstruktion der Vergangenheit mehr, und schon gar nicht auf Gewalt und Eroberung, die — so oder so — die physische Vernichtung der europäischen Mitte bringen müssen. Vielleicht daß dieses Lebensprinzip der Menschen und Völker dereinst in ein Böhmen weisen wird, das dem des übernationalen Europas Karls IV. dem Wesen nach ähnlicher sein wird als irgendeiner fragwürdigen Ordnung der jüngeren Vergangenheit. Das Sudetendeutschtum hat durch Jahrhunderte reife und goldene Erntefrüchte nach Wien, in das gemeinsame Vaterhaus der europäischen Mitte eingebracht. Ist der Ehrenpreis Karls IV. für den Kanzler dieses Landes der letzte Akt einer Vergangenheit oder der erste einer lebensgläubigen Zukunft?

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