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KAFKAS PRAGER SCHICKSAL

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Es ist ein schwieriges Unternehmen, heute die Hauptlebensfrage, das Lebensgefühl eines in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Böhmen gebürtigen Künstlers, dei’ am zweifachen Geheimnis Böhmens und Österreichs zu tragen hat, völlig deutlich zu machen. Diese seltsame Lebensfrage möchte ich als die Heimatlosigkeit in der Heimat ansprechen. Der aus Böhmen gebürtige Gustav Mahler hat einmal von sich gesagt, er sei in dreifacher Hinsicht ein Heimatloser: als Jude unter Christen, als Böhme unter Österreichern, als Österreicher unter Deutschen. Das trifft auch auf Kafka zu. Wenn etwas das Kafkabild bestimmt, dann wohl der Eindruck, Kafka gestalte in seinen Werken ein eigentümliches Nichtdazugehören, obwohl er ja von Haus aus eben „dazu“ gehört.

Die Fragwürdigkeit der Einordnung Kafkas in Gemeinschaften, sei es welcher Art immer, ist von Kafka selbst ausgesprochen worden, wenn er z. B. von dem etwas komischen Versuch brieflich erzählt, Fremden zu erklären, was er eigentlich ist. Er sitzt in einem Meraner Sanatorium zwei österreichischen Offizieren gegenüber und schreibt an Brod: „Ein Tscheche? Nein. Erkläre nun, in diese treuen deutschen militärischen Augen, was du eigentlich bist. Irgendwer sagt ,Deutschböhme‘, ein anderer ,Kleinseite‘. Dann legt sich das Ganze.“ Es sind zwei Offiziere, die sich im österreichischen Heer philologisch geschulte Ohren erworben haben, und wieder fängt der General über den Klang von Kafkas seltsamem Deutsch zu sprechen an.

Ein anderer Ausspruch von Kafka geht noch viel tiefer und stellt jede seiner Zugehörigkeiten in Frage: „Was habe ich mit Juden gemeinsam? Ich. habe kaum etwas mit mir gemeinsam.“

Alle Beschäftigung mit Kafka bewegt sich, sie mag sich stellen wie sie will, ohne Ausnahme auf dem Boden der Ambivalenz, das heißt hier eines schier pathologischen und zugleich geistig sehr nach Gesundheit verlangenden Gedankensystems von miteinander in Beziehung gesetzten widersprüchlichen Vorstellungen, man steht auf dem Boden der absolut gesetzten irdischen Zweiheit, der nur in einem der Möglichkeit nach gegebenen Jenseits eine Einheit entspricht. Ich darf schon jetzt darauf hinweisen, daß dieser tiefe Ernst eines Spiels mit dem Widerspruch von Kafka unabtrennbar ist.

Emanuel Frynta und Jan Lukas haben ein eindrucksvolles Bildbuch unter dem Titel „Franz Kafka lebte in Prag“ 1960 im Prager Artia-Verlag erscheinen lassen. Darin sagt der Verfasser des Textes: „Trotz aller Vorbehalte können wir eines nicht übersehen: wieviel absurde Unsicherheit Prag selbst vor fünfzig oder siebzig Jahren in sich getragen hat. Wenn es auch stimmt, daß Kafka sein heimatliches Milieu ununterbrochen verfehlte, gewissermaßen an ihm vorbeilebte, war dieses seltsame Nichtdazugehören ja gerade ein Zeichen und wesentlicher Bestandteil seiner Zugehörigkeit zu Prag.

lEsugibi ein Märchen überfein apnes Ding, das den Auftrag erhält, in der Stadt vor dem Richter zu erscheinen. Sie darf weder zu Fuß noch zu Pferd dorthin gelangen, weder angekleidet noch nackt, sie darf weder bei Tag noch bei Nacht eintreffen. Das kluge Mädchen entledigt sich des Auftrages so, daß es auf einer Ziege reitet, angetan mit einem Schuh, einem Strumpf und einem Fischnetz, und gerade in der Morgendämmerung in die Stadt kommt. In Kafkas Leben gibt es viele Momente, die an die Ausführung dieses Auftrages aus dem Märchen erinnern.“ Dieses merkwürdige Weder-Noch, das aber dennoch und noch immer eine Möglichkeit, dem sich eine „offene Geheimtür“ auftut, eine mit Ausdauer, Klugheit, demütiger Hingabe und frommer Opferbereitschaft erworbene fast für unmöglich gehaltene dritte Möglichkeit des Gehens endlich findet, stimmt im Schicksal Kafkas mit dem Genius Prags überein. „Hätte damals jemand den Auftrag erhalten, eine Stadt in Europa zu nennen, die weder im Osten noch im Westen, weder im Norden noch im Süden liegt, seine Wahl hätte auf Prag fallen müssen, das nicht nur geographisch diese Lage hat, sondern jahrhundertelang auch in kultureller Hinsicht genau am Kreuzweg Europas lag, wo sich Ost und West, Nord und Süd berührten. Hätte die Aufgabe gelautet, ein Königreich zu finden, das gar kein Königreich ist, eine Hauptstadt, die keine Hauptstadt ist, eine Stadt mit einem Königsschloß ohne König, eine Stadt ohne Ghetto, wo es aber dennoch ein Ghetto gab — der Finger auf der Landkarte würde immer noch auf Prag deuten. Und in dieser Stadt, genau an den Grenzen des ehemaligen Ghettos und nicht nur in dessen Bereich, sondern gleichzeitig in einem Haus, das ursprünglich die Prälatur des katholischen Klosters slawischer Benediktiner war, in diesem Haus, das neben einer Barockkirche, dem späteren russisch-orthodoxen Gotteshaus stand — gerade dort kam Franz Kafka zur Welt.“

Das Seltsame ist, daß sich, wie aus Mahlers Ausspruch zu ersehen, das zunächst aus der Geschichte Böhmens abgeleitete Gefühl der heimatlosen Heimat, des Traumas des Nichtdazugehörenden auch bei anderen Österreichern, wie z. B. bei Hofmannsthal, wieder findet, aber auch bei Robert Musil und anderen. Offensichtlich liegt in ihm einer der Schlüssel der modernen österreichischen Dichtung um die Jahrhundertwende im ganzen verborgen. Daß sich in Böhmen seit dem Strafgericht über die 27 Anführer der protestantischen böhmischen Adelsherren im Jahr 1621 und ihrer Enthauptung auf dem Altstädter Ring durch kaiserliche Henker in Prag für dreihundert Jahre ein Ressentiment gegen die Herrschaft der Habsburger und später mit ihnen auch gegen den politischen Begriff Österreich-Ungarn ansammelt, ist leicht einzusehen.

Genaugenommen sollte aber bei der Bemühung um ein Verständnis der besonderen Lage in Prag nicht nur der unglückliche Ausgang des böhmischen Krieges von 1618—1620, des ersten Teiles des Dreißigjährigen Krieges, ins Auge gefaßt werden. In Prag verknüpfen oder bestreiten sich schon seit frühester Geschichtszeit immer zwei gegensätzliche Mächte. Ein gutes Beispiel dafür ist die Annahme des Christentums im neunten Jahrhundert. Ost und West haben damals in gleicher Weise ihre Liturgien nach Prag gebracht. Es lassen sich der römische und der byzantinische Ritus, das Lateinische und das Altkirchenslawische, zwei Schriftsprachen, feststellen. Die lateinische und die slawische Kultur verbinden sich erst allmählich zum Übergewicht der römischlateinischen Orientierung, in der aber die östliche Tradition verborgen jyeiteflebt Aus Byząnz kommen die ersten Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Prag. Fortan bildet die gespannte, nie zur wirklichen Einheit gewordene Dreiheit von Tschechen, Deutschen und Juden das bestimmende, miteinander ringende ethnische Schicksal des Landes und der Stadt. Aber auch der alte Konflikt zwischen griechischem Mönchstum und lateinischer Kirche schwelt weiter und bricht in Hus, den Taboriten, den böhmischen Brüdern und anderen Schwarmgeistern wieder auf.

In diesem Prag wie auch in Österreich sind vorzügliche Voraussetzungen für alle Arten von Ressentiments, Sozialpathologien und -Schizophrenien gegeben. Man hat viel zu wenig beachtet, daß es verschiedene Arten gibt, sich des Drucks von außen und oben zu entledigen. Die eine Art ist die des Sozialrevolutionärs, die jedermann geläufig ist. Die andere aber konnte damals bei den österreichischen Intellektuellen und Künstlern beobachtet werden: eine Art Überkompensation des Fehlenden, die Sicherung des Mangels durch Ausbildung individual- und sozialneurotischer Symptome. Die harmloseste und geläufigste Art dieser Gestimmt- heit ist der Selbstspott, der ja in seinen letzten Ausläufern bis zum Selbsthaß ausarten kann, man denke nur an Karl Kraus oder an Otto Weiningers Stellung zum Judentum. Diese Selbstherabsetzung deutet unverkennbar auf eine nicht zu lösende Ambivalenz bewußter und unbewußter, einander widersprechender Grundhaltungen. Man hat darauf aufmerksam gemacht, daß schon früh von diesem Ostwinkel des alten Reichs aus furchtbare Kriege aufflammen, von denen die verschiedenen Prager Fensterstürze und der Dreißigjährige Krieg selbst wieder nur Teil sind. (In Prag beginnt und endigt der Dreißigjährige Krieg.) Das greift weit über die Detailforschung der Historiker in die noch ungeschriebene Geschichte der Sozialpathologien aus. Und ein Historiker der Zukunft wird es vielleicht unternehmen müssen, auch die furchtbaren Ereignisse unseres Jahrhunderts in solche Zusammenhänge einzugliedern. In Gustav Meyrinčks Roman „Walpurgisnacht“ steht der Satz: „Böhmen ist der Herd aller Kriege.“

Die Grundstimmung Prags um die Jahrhundertwende war ein seltsames Gemisch von Vergangenheit und Zukunftserwartung. Überall „nebelte noch das Gewölk der Mythen, der Golem hetzte nächtlich um die Altneu-Synagoge, mitten auf dem alten Judenfriedhof hielt der hohe Rabbi Löw Hof im Kreise seiner dreiunddreißig rund um ihn begrabenen Lieblingsschüler, Tycho Brahes goldene Nase lugte aus der Gruft in der Teynkirche, in der Zaubergasse hinter der Burg munkelten die gespenstischen Alchimistenhäuschen, darinnen die Fauste der rudolfinischen Renaissance Gold und Geister beschworen — auch Kafka beschwor dort seine Geister und Kübelreiter —, Dalibor spielte Geige im Hungerturm … Mythos und Geschichte … wogten geschäftig durcheinander in dieser Stadt, man konnte sie nie völlig auseinanderhalten, man wußte nie, womit man es gerade zu tun hatte, und in der gereizten Atmosphäre konnten sich in jedem Augenblick die gleichgültigsten Gegenstände … ja bloße Wörter in heiligste Güter verwandeln, um derentwillen Tschechen und Deutsche einander die Köpfe einschlugen oder irgendeinem unseligen Juden übel mitgespielt wurde“. So berichtet Urzidil.

Man könnte nun der Meinung sein, daß aus solchen Bedingungen der Wille erwächst, durch Assimilationen die schwelenden Konflikte aus der Welt zu schaffen. Da zeigt es sich aber, daß dieser sozialpsychologische Konflikt noch dadurch verkompliziert wird, daß das abzustoßende und zu unterdrückende Element eine ungeheure, gar nicht durch den Willen abzustreifende Fessel darstellt. Kafka hat seinen „Fluchtversuch vor dem Vater“ geschrieben. Mehrere solcher Fluchtversuche hat Kafka auch aus seiner Prager Heimat unternommen, so z. B. als er in München Germanistik studieren wollte, wo seiner deutschen Sprache ein nährender Mutterboden in einem deutschsprachigen Volkstum gegeben war. Dieser Fluchtversuch vor Prag ist mißlungen. Frynta hat geschrieben: „In allem, was Prag dem Dichter gab, und in allem, was ęs ihm versagte, niemals hat diese Stadt ihn losgelassen. Für immer hat sie ihn aus der harmonischen Gemeinschaft mit Menschen und Dingen ausgeschlossen, für immer jedwede Zugehörigkeit in Frage gestellt.“ Kafka selbst muß bekennen: „Prag läßt nicht los… Dieses Mütterchen hat Krallen. Da muß man sich fügen oder —. An zwei Seiten müßten wir es anzünden, am Vyšehrad und am Hradschin, dann wäre es möglich, daß wir loskommen.“ Es ist ein gespenstischer Alpdruck, der durch die Heimatstadt auf ihm lastet. In dem kleinen Stück „Das Stadtwappen“ heißt es am Ende: „Alles, was in dieser Stadt an Sagen und Liedern entstanden ist, ist erfüllt von der Sehnsucht nach einem prophezeiten Tag, an welchem die Stadt von einer Riesenfaust in fünf kurzen aufeinanderfolgenden Schlägen zerschmettert werden wird. Deshalb hat auch die Stadt die Faust im Wappen.“

Nichts ist bezeichnender für die hier zu schildernde geistige Ausgangsposition Kafkas als die merkwürdige Tatsache, daß auch diese Stadt Prag in sich selbst wieder einen solchen Fremdkörper barg, der ja eine Analogie zu dem Verhältnis Prags zu Österreich erkennen ließ. Ich meine das alte Prager Ghetto, die Josefstadt oder Judenstadt. Kafka hat zu Gustav Janouch gesagt: „In uns leben noch immer die dunklen Winkel, geheimnisvollen Gänge, blinden Fenster, schmutzigen Höfe, lärmenden Kneipen und verschlossenen Gasthäuser. Wir gehen durch die breiten Straßen der neuerbauten Stadt Doch unsere Schritte und Blicke sind unsicher. Innerlich zittern wir noch so wie in den alten Gassen des Elends. Unser Herz weiß noch nichts von der durchgeführten Assana- tion (seit 1893). Die ungesunde alte Judenstadt in uns ist viel wirklicher als die hygienische neue Stadt um uns. Wachend gehen wir durch einen Traum: selbst nur ein Spuk vergangener Zeiten.“

Was einmal war, läßt nicht los ohne gewaltsame Trennung. Vor diesem Einst — Kafka nennt es die alten Sagen, Lieder und wohl auch Mythen Prags und des jüdischen Volkes — gibt es zwar eine Flucht, die aber mißlingt. Denn zur Auflehnung hat diese Generation Kafkas wie er selbst weder den ungebrochenen Willen noch die Kraft. So zu sein, wie die Normalen, so zu sein, wie die patriarchalische Gesellschaft es fordert, sich einzureihen, das eben war es, was diese Generation Kafkas in Prag gewollt hat, ohne es vollbringen zu können. Willy Haas hat berichtet: „Unser Teil war eine böse, ungelöste Dissonanz, die wir, glaube ich, bis in sehr tiefe Hintergründe durchleiden mußten. Von dem Glauben unserer Ahnen war nichts in uns geblieben; aber auch nichts von dem sterilen bürgerlichen Liberalismus und dem gutgläubigen Erwerbssinn unserer Väter; wir hätten alles allein aufbauen sollen, unsere ganze Welt … So waren wir weder Juden noch Christen, aber wir waren dennoch gläubig.“

In einer unendlich vielfältigen Aufgliederung läßt sich allenthalben die gleiche seelische Blickrichtung erspüren: das Dazwischen, die Ambivalenz als Sozialneurose.

Ein so gültiger Repräsentant der Wiener Dichtung wie Hofmannsthal konnte dasselbe Problem, der Treue und der Wandlung, der Bindung an das Alte und die Hinwendung zum anderen, als sein immer wieder bedrängendes Lebensund Künstlerproblem gestalten. Womit auch er zeigt, daß sich in Wien und auch in Prag eine gemeinösterreichische Frage stellt.

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