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Das Mögliche war ihm unmöglich

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Daß diese zarte und verlegene Gestalt von einem geistigen Umfang war, darin sich die ganze Welt begegnen konnte, wird immer erstaunlicher, je mehr Zeit uns von seinem Leben und seinem elenden Sterben trennt. Sein Werk scheint einer ganzen Epoche die Rätsel aufgegeben zu haben“, nach denen es sie verlangte und in denen sie sich, ohne sie lösen zu können, widergespiegelt sah.

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Daß diese zarte und verlegene Gestalt von einem geistigen Umfang war, darin sich die ganze Welt begegnen konnte, wird immer erstaunlicher, je mehr Zeit uns von seinem Leben und seinem elenden Sterben trennt. Sein Werk scheint einer ganzen Epoche die Rätsel aufgegeben zu haben“, nach denen es sie verlangte und in denen sie sich, ohne sie lösen zu können, widergespiegelt sah.

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„Die Natur durchsetzt alles mit dem Geheimnis des Nichtverstehens; dieses waltet noch zwischen dem geistigen Produkt und dem eigenen Erzeuger“, lautet ein allgemeiner Wink aus Hofmannsthals „Buch der Freunde“, der auf die Schwierigkeiten aller „Auslegung“ hindeutet. Im Grunde ist niemand berechtigt, sich Kafka gegenüber so zu verhalten, als kenne er ihn. Zehn Jahre nach Kafkas Tod hat Walter Benjamin, wahrscheinlich als erster, die Frage gestellt, ob dieser Dichter sich je in dem, was „deutbar“ sei, erschöpfe. Oder ob er nicht vielmehr alle erdenklichen Vorkehrungen gegen die Auslegung seiner Texte getroffen habe. Auf jeden Fall müsse man sich mit Umsicht, mit Behutsamkeit, mit Mißtrauen im Innern seiner Texte vorwärtstasten. Ein Kunstwerk be-

deutet nicht, es ist. Es ergeht einem dabei wie mit der Botschaft des Kaisers in Kafkas Fabel, die uns nie erreicht, es sei denn: „Du sitzt an deinem Fenster und erträumst sie dir, wenn der Abend kommt.“

Wie sich aber zurechtfinden im Gehege der unübersehbar gewordenen, einander widersprechenden oder ironisierenden Ausdeutungen und Lebensdokumente? Ob man Kafka psychoanalytisch einordnet oder als hämo religiosus, ob als italmudisie-renden Zweifler oder Verfechter einer noch zu erwartenden übermenschlichen Moral — Kafka wird durch nichts erklärbarer, er wird höchstens eindringlicher. Fast scheint es, als würde die Wirklichkeit sich beeilen, seinen Visionen zu gleichen.

Dieser vielfordernde Geist sucht als der „einzelne“, der er sinnbildlich war, auch den „einzelnen“ Leser. Der mag Angst haben, sich auf Kafka einzulassen. Und das wäre ganz ähnlich, wenn er zögerte, allzu real auf Kierkegaard einzugehen, einen von Kafkas verehrten Meistern, seinen „eigentlichen Blutsverwandten“ (neben Grillparzer, Kleist, Dostojewskij und Flaubert), von denen er Bestätigung suchte. Kafka-Leser können wahrscheinlich nur mit Einbildungskraft begabte, den strengen Anspruch mitvollziehende Leser sein, also auch nur „einzelne“. Der

einzelne Kafka-Leser sollte wohl dann in sich hervorbringen und entfalten können, was ihm jeweils nur „indirekt“ gesagt wird, nur „indirekt“ gesagt werden kann. Das würde in seiner (absurden) Konsequenz bedeuten: jeder Kafka-Leser wäre notwendig sein eigener Kafka-Interpret.

Briefe und Tagebücher zeigen einen Menschen von fast überirdischer Lauterkeit und ein Leben von tragischer Gewissenhaftigkeit. Sie machen das beängstigend Einfache und Bescheidene in ihm klar, der sich entschieden zur Demut bekannte. Geradezu unheimlich wirkt in einer Welt, deren alltäglicher Ablauf von Konzessionen, Verbindlichkeiten, Notlügen abhängt, seine Wahrheitsliebe, die eigentlich gar keine war, sondern einfach die Unmöglichkeit, lügen zu können.

Alle Menschen Kafkas sehen sich vor einem radikal Unbekannten, zu dem sie vergebens in eine geordnete Beziehung zu treten suchen. Die Welt erscheint ihnen voller Fremdheit, von undurchschaubaren Mächten beherrscht. Für Kafka selbst bedeutete dieses radikal Unbekannte, was man für gewöhnlich das praktische Leben nennt. Dem Mißverhältnis zu ihm entstammt sein Werk. Ein Brief der leidenschaftlich geliebten Milena Je-senskä (seiner Übersetzerin ins Tschechische) an Max Brod gibt, wie kaum je erhellender, Aufschluß über den Menschen Kafka:

„Für ihn ist das Leben etwas gänzlich anderes als für alle anderen Menschen, vor allem sind für ihn das Geld, die Börse, die Devisenzentrale, eine Schreibmaschine völlig mystische Dinge ... die seltsamsten Rätsel, zu denen er durchaus nicht so steht wie wir... die ganze Welt ist und bleibt ihm rätselhaft... Gewiß steht die Sache so, daß wir alle dem Anschein nach fähig sind zu leben, weil wir irgendeinmal zur Lüge geflohen sind, zur Blindheit, zur Begeisterung, zum Optimismus, zu einer Art Überzeugung, zum Pessimismus oder zu sonst etwas. Aber e r ist nie in ein schützendes Asyl geflohen, in keines ... Er ist ohne die geringste Zuflucht, ohne Obdach. Darum ist er allem ausgesetzt, wovor wir geschützt

sind ... Das ist kein Mensch, der sich seine Askese als Mittel zum Zweck konstruiert hat, das ist ein Mensch, der durch seine schreckliche Hellsich-tigkeit, Reinheit und Unfähigkeit zum Kompromiß zur Askese gezwungen ist.“

„Ist es denn möglich“, ruft Milena in einem späteren Brief aus, „daß dieser Mensch etwas fühlte, was nicht richtig wäre? Er weiß von der Welt zehntausendmal mehr als alle Menschen der Welt.“

Sein Denken war darauf aus, den Widerspruch unseres Daseins auszuhalten, nicht, ihn aufzuheben. Sein Interesse galt vor allem der Person, nicht dem Werk. Was Kafka schrieb, war etwas ganz anderes als was man sonst unter Dichtung versteht. Es war die hingeschriebene Qual eines Menschen, der für sein Leben gern ein normaler, ein ganz gewöhnlicher Mensch gewesen wäre, einer, der von Natur aus einem kleinen Beamten ähnelt („der tief in mir sitzende Beamte“) oder am liebsten als Gärtner nach Palästina gegangen wäre. Aber „das Mögliche ist mir unmöglich“, heißt es in einem Brief an Brod. Alle Versuche Kafkas, der Sehnsucht nach einem natürlichen Leben nachzugeben, scheiterten an ihm selbst, an seinem ausschließlich der Literatur gewidmeten Leben, um sich die Bedingungen zu schaffen, unter denen allein die „ungeheure Welt, die ich im Kopfe habe“ (Tagebuch) ins literarische Werk eingehen konnte. ★

Darum faßte er sein Schreiben als mögliehe Form der Lebensbewältigung auf, nicht als Schaffen von Werken als Gebilden interesselosen Wohlgefallens. „Ich habe keine literarischen Interessen, sondern bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes.“ Er fühlte sich, auch wenn er nicht schrieb, als Schriftsteller. Immer wieder scheint in den Tagebüchern und Briefen das Wort von den Gespenstern, von der Angst auf, Angst vor dem Einbruch der Außenwelt in die eigene Wirklichkeit, der das Ende des Schreibens bedeutet hätte, Angst, diese innere Freiheit durch die Schuld (die ihm das Dasein an sich bedeutete) zu zerstören und gleichzeitig Reue gegenüber einem nicht-gelebten Leben, Angst vor dem Nichts. „ ... das Dasein des Schriftstellers ist wirklich vom Schreibtisch abhängig, er darf sich eigentlich, wenn er dem Irrsinn entgehen will, niemals vom Schreibtisch entfernen, mit den Zähnen muß er sich festhalten...“ In einer Septembernacht des Jahres 1912, das eine entscheidende Wende in Kafkas Schaffen bedeutete, entstand in acht Stunden die Erzählung Das Urteil, die über zwanzig Manuskriptseiten umfaßt. Unmittelbar darauf schrieb er ins Tagebuch : „Nur s o kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständiger Öffnung des Leibes und der Seele.“ Und in einer späteren Eintragung bemerkte er zu der Erzählung, sie sei wie eine „regelrechtem Geburt, mit Schmutz und Schleim“ bedeckt aus ihm herausgekommen.

Die Einsamkeit, derer er zum Schreiben bedurfte, nahm fast krankhafte Formen an („die Nacht ist noch zu wenig Nacht“): „Ich brauche zu meinem Schreiben Abgeschiedenheit, nicht ,wie ein Einsiedler', das wäre nicht genug, sondern wie ein Toter, Schreiben in diesem Sinn ist ein tiefer Schlaf, also Tod ...“, hieß es in einem Brief an Feiice, seine „vergebliche“ Braut. Und man begreift, warum er sich so an den Schreibtisch klammerte: das Schreiben bot ihm die Möglichkeit, gleichsam zu sterben und doch am Leben zu bleiben. Es sei hier erlaubt, die leise List hinter der eindrücklichen Demut aufzudecken, entsprechend dem Hintergedanken der Kunst, die durch eine List das unlebbare Leben ermöglicht. Es ist nicht auszuschließen, daß der ethisch so unerbittliche und geradezu grausam aufrichtige Kafka in einem Augenblick, da ihn diese Einsicht überwältigte, testamentarisch die Vernichtung aller seiner Papiere angeordnet hat.

Die Bedeutung Kafkas für die moderne Literatur? Er hat der Kurzprosa, der Erzählung, dem Roman die Einfachheit der Parabel zurückgewonnen. Der Weltstoff wurde gesiebt, die Vielzahl beliebiger Situationen des Menschen in der Welt auf einige Grundsituationen zurückgeführt. Aber das Mehr, das Einmalige an Kafkas Werk war seine große — und realistische — Fähigkeit, das Leben in die verschwommene Schärfe der Träume zu übersetzen, ihre nur in sich geschlossene Logik der ziellosen Zielgerichtetheit als Parabel zu benutzen. Seine in Träumen und Bildern, empfangene Wahrheit teilte er in kristallinischer Prosa auch dem Leser in Träumen und Bildern mit.

Das Paradoxe war ihm das einzig Reale. Gerade die Selbstverständlichkeit des paradoxen Vollzuges macht seine Welt so ungeheuerlich, weil Spuk und Phantasterei gleichmütig und gelassen als alltägliche „Realitäten“ beschrieben wurden. So zügellos sich der Schreibende bisweilen auch seinen Dämonen überließ, so erscheint es vielleicht gar nicht als Widerspruch, daß Kafka von seinen Freunden als sanfter, gütiger, ja heiterer Mensch geschildert wurde. Das Wissen um die Vergeblichkeit — Kafkas scheinbar so trostloses Thema — machte ihn frei, berechtigte ihn zum Selbstgefühl. Es irrt, wer da meint, Kafka sei an der Welt verzweifelt. Er zweifelte nur an seiner Kraft, des Zweifels Herr zu werden. Ein paradoxer Aphorismus lautet: „Er hat das Gefühl, daß er sich dadurch, daß er lebt, den Weg verstellt. Aus dieser Behinderung nimmt er dann wieder den Beweis dafür, daß er lebt.“ Der Mensch ist mehr, als er vollbringt. Daß seine schwache Natur einem Übereinkommen mit den tyrannischen Lebens-

mächten widerstrebt, ist sein Triumph. Auch das ist ein Teil jener versteckten Heiterkeit, die man mit Verwunderung immer wieder in Kafkas Werk findet.

Es ist stiller geworden um ihn, er ist „aus der Mode“ gekommen. Das literarische Geschwätz hat sich' längst neuer, unkomplizierterer Sensationen bemächtigt. Motive und Elemente aus seiner Welt fanden sich bei vielen Autoren in der Welt; aber sein Einfluß auf jüngere hat abgenommen, seine direkten Nachahmer sind nur noch wenige, nachdem sie eingesehen zu haben scheinen, wie unübertragbar das eigentliche Geheimnis Kafkas ist. Dramatiker, Regisseure, Komponisten, Filmleute greifen nur noch selten nach seinen Themen. Walter Benjamin hatte auf das Gestische in Kafkas Gestalten aufmerksam gemacht und gemeint: „Kafkas Theater ist ein Welttheater, ihm steht der Mensch von Haus aus auf der Bühne.“ Aber diese Bühne war seine harte, dichte, nahtlose, spannende Prosa mit ihrem so stillen Grundton.

Wahrscheinlich konnte niemand — auch und gerade seine Freunde nicht, die ihm zu nahe waren — die Einzigartigkeit dieses leisen Genies begreifen, solange es auf der Welt war. Nun ist- Franz Kafka fünfzig Jahre tot. Moderuhm und Rummel im Westen, Diffamierungen aus dem Osten haben sein Antlitz nicht entstellt. (Diese reichten vom Vorwurf düsterer Dekadenz bis zum Mangel an Optimismus.) Über alle, „die an den Grenzen der Literatur wohnen“, schrieb Kafka einmal in einem Beitrag für eine Zeitschrift: „ ... sie brauchen keine Verteidigung, denn das Unverständnis kann sie nicht treffen, weil sie dunkel sind, und die Liebe findet sie überall.“

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