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Die Suche nach Flaubert

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Auf der Suche nach Gustave Flaubert einen Moment lang innehalten und fragen, wer denn überhaupt gesucht wird: empfehlenswerte Vorsicht angesichts eines Dichters, dem „Unpersön-lichkeit ein Zeichen der Stärke” seiner Kunst ist und der gleichzeitig in seinem berühmtesten Roman sich und nur sich findet: „Madame Bovary, das bin ich”.

Gilt die Suche nun dem Mann, der in einer literaturwissenschaftlich auszudeutenden Entwicklung des realistischen Romans an ganz entscheidender Stelle steht?

Im Längsschnitt durch ein beinahe zweihundert Jahre lang währendes Fortschreiten modernen Erzählens, bei dem die Kunst immer fester nach der helfenden Hand einer an Mathematik und Empirie orientierten Wissenschaft gegriffen hat, erscheint Flaubert als einer der großen Gipfelpunkte. „Der Roman muß wissenschaftlich sein”, schrieb er und fordert damit eine Methode, die rücksichtslos und unmenschlich zu sein hat, um den Grad von Objektivität zu erreichen, der den Fortschritt naturwissenschaftlichen Denkens charakterisiert. Denn daß der Mensch in der exakten Wissenschaft zu schweigen habe, war zuerst ideale Forderung wahrheitssuchender, asketischer Pioniere, dann Konsequenz deterministischen Weltbildes, später Anlaß zur Revolution der Physik, die ohne den Beobachter wieder nicht mehr auskam und ihn als abstrakten Unsicherheits-faktor erneut einführen muß und zeigt heute als unüberhörbar gewordenes Schweigen die Notwendigkeit eines neuen Anfanges an, weil die theoretische Wissenschaft schon lange die Fähigkeit verloren hat, irgendwem irgendwas zu erklären.

Innerhalb dieser Entwicklung, zu deren Pionierphase Flaubert gehört und die das Romanschreiben vom bloßen Geschichtenerzählen emanzipierte, es

Pro und Contra „Jesu Hochzeit”

Bei der Diskussion in der Gesellschaft für Literatur, ob es sich bei Lotte Ingrischs Libretto „Jesu Hochzeit” um Lob Gottes oder Blasphemie handle, hielten sich Pro und Contra im überfüllten Saal die Waage. Am Podium sprach sich die Mehrzahl der Redner für dieses Werk aus. In Kürze die wichtigsten Standpunkte: Lotte Ingrisch betonte, das Werk „in Liebe zu Jesus” geschrieben zu haben. Die Vereinigung der Tö-din mit Jesu sei metaphorisch, sie bedeute auch die Uberwindung des Todes durch die Liebe. Für Alfred Fockegeht, „was die Mystikerinnen des Mittelalters an Erotik bieten, noch weit über das Vorliegende hinaus”. Der evangelische Theologe Wilhelm Dantine begrüßte, daß die Kirche in Frau Ingrisch eine neue Lehrerin bekommen habe: „Wir haben zu lernen, daß die Stimme des Laien eine Sonderstimme ist, die neben dem Schulwissen der Theologie steht und die aus der Fülle eines gläubigen Herzens kommt.”

Für Pater Beda geziemten die Worte, die Ingrisch die Jungfrau Maria über ihre Unbefleck'te Empfängnis sagen läßt, eher der Marquise von O: Maria hat nicht eine Sekunde gezaudert, ehe sie sich dem Herrn als Magd zur Verfügung gestellt hat. Prof. Erwin Ringel unterstellte den Leuten, die in diesem Werk etwas Unmoralisches sehen, kurzerhand einen Sexualschock.

Minister a. D. Piffl Percevic wandte sich aus ästhetischen Gründen gegen die Darstellung der Muttergottes inmitten einer Rüpelszene. Roman Rocek betonte, daß gerade die Rüpelszenen ihm als wichtiges dramaturgisches Mittel erschienen. Aus dem Publikum erschallte der Ruf nach Streichung der zwei maßgeblichen Stellen, nach zwei Stunden endete die heftige Debatte, in der ein jeder mindestens einmal mit seinem Nachbarn in offenen Konflikt geriet. SENTA ZIEGLER zu einer selbständigen Weise, die Dinge wahrzunehmen machte, gibt es verschiedenste Strömungen und auch gegensätzliche Möglichkeiten des Scheiterns: sie reichen vom Versuch, das Motiv eines Gemäldes durch chemische Analyse der Farben zu bestimmen, bis zur Blindheit der Augen, wenn sich die Nase an der Wirklichkeit plattdrückt. Aber stets bleibt der realistische oder auch wissenschaftliche Roman mit seinem Verzicht auf fertige Weltanschauungen und seiner fanatischen Suche nach immer neuen Teillösungen bereit, aus Liebe zur Wahrheit „an der Seele Hunger zu leiden”, eindrucksvollstes Zeichen einer Kunst, die sich nicht'von hohlen Autoritäten und erstarrten Idealen mißbrauchen läßt. Große, erkenntniserhellende Werke in den wenigen Augenblicken des Gelingens liefern wird diese Form der Epik zum Ersatz sogar für die von der Philosophie geräumten und der Willkür oder der Gleichgültigkeit überlassenen Gebiete menschlicher Sinnsuche.

In diesem Zusammenhang gesehen gehört Flaubert zu den an den Fingern einer Hand zu zählenden großen Namen, die mehr oder weniger bewußt aufeinander aufbauen und von gelehrter Betrachtung in vielfach zu untersuchender Verbindung gesehen werden können.

Der aus dieser Verbindung gelöste einzelne ist ein anderer. Ist es vielleicht lohnender diesen anderen Flaubert zu suchen? Den einsamen Bürger seiner Zeit, den Neurotiker, den „Idioten der Familie”, dem, der die Kleinbürger so haßte, daß er ein eigenes Wörterbuch ihrer Gemeinplätze anlegte, um in ihnen eine Flachheit zu entlarven, die er mit allen Mitteln von seiner eigenen äußerlich fast gescheiterten Existenz fernzuhalten bemüht war? Er erscheint als der Mann, der Ironie (meilenweit entfernt von jedem Humor) erstmals in dieser Form zum Mittel einer Dichtung machte, die dem Leser auch noch die letzte Illusion, die verzeihende Versöhnung in angenehmem, weil unverbindlichem Mitleiden zu rauben versuchte.

Dieser Flaubert, dessen Ichbezogenheit genauso die bloße Kehrseite seines Strebens nach „unpersönlicher Kunst” ist, wie seine Metaphern mit ihrer aus oft surreal anmutenden Bildern gewonnenen Kraft ihr Ziel treffen, indem sie in die entgegengesetzte Richtung zielen, dieser schreibende Flaubert also widmete seine Nächte, deren Qual nur durch den Triumph des endlichen Gelingens aufzuwiegen war, der Suche nach dem jeweils einzig passenden Wort, stellte die Reinheit und Vollkommenheit der Sprache vor die als sinnlos erkannte Welt.

Seine Existenz als Schriftsteller stand ihm jedoch in entmutigendem Gegensatz zur sozial anerkannten Tätigkeit seines Vaters, der als erfolgreicher und tüchtiger Arzt auch noch dem zweitgeborenen Sohn sein materielles

Auskommen sicherte, ihm den Rückzug von der Wirklichkeit und die Suche nach den „mots justes” überhaupt erst ermöglichte.

Es muß die Suche nach diesem anderen Flaubert - Sartre hat sie, auf seine Weise erschöpfend, in seinem kolossalen „roman vrai” unternommen - ein Abenteuer sein, dessen geistiger Gewinn dem des entwicklungsorientierten Denkens zumindest gleich ist - aber werden nicht die verschiedenen Blickwinkel, vermehrt um die individuellen Positionen der jeweiligen Betrachter, das Erschaute multiplizieren und zuletzt ein Heer von Flauberts finden, wo anfangs die Suche nach dem einen war? Denn die strenge Rekonstruktion eines Menschen ergibt Fakten, in deren dürrem Zusammenhang sich bloß noch Totes genau erkennen läßt, während Leben keine Sekunde alt wird, ohne seine Form zu ändern. Aber auf Lebendiges war man aus, als man nach Flaubert fragte.

Man könnte die Suche nach ihm also auch gleich mit dem Verzicht beginnen, ihn finden zu wollen. Seine geistige Existenz ging uns in dem für den Atheisten Flaubert gottlosen Universum schneller und endgültiger verloren als sein toter Körper. Es bleiben seine Bücher und in ihnen eine Sicht der Realität, die den ..Mann ohne Wirklichkeit”, wie Jean Amery ihn nannte, schon zu Lebzeiten vor den Richter brachte. Zwar wurde er von dem Vorwurf der Sittenlosigkeit freigesprochen, aber eigentlich zu unrecht, denn er hat die Sitten zerstört, weil er sich auf die Suche nach dem Menschen in seiner ganzen Freiheit machte. Was in seinen Büchern zu finden ist, steckt für den nach ihrer Aktualität fragenden in den scharfen unnachsichtigen Fragen, die in alle Lücken und Risse des geistigen Bodens dringen und ihn dort zum Einsturz bringen müssen, wo er hohl ist.

Sein Leben war Schreiben, und seine Lebendigkeit für uns liegt in dem, was er schrieb. Die mystische Kunstverfal-lenheit dieses Dichters - die der Philister als „Artistik” bezeichnen zu müssen glaubte - findet sich in der mystischen Passion der verzweifelt am ersehnten und nie erreichten Leben zerbrochenen Bovary wieder, deren spätes, bedingungsloses Bekenntnis zur Erotik hin zur Verneinung des bürgerlichen Subjekts und seiner verbindlichen Gesetze führt. Dieser Verneinung durch die Radikalität der Form steht die Schönheit der Emma Bovary gegenüber, sichtbares Zeichen der Liebe des Autors zu der von ihm geschaffenen Figur, zu sich selbst und damit zu seinem Leben oder dessen Möglichkeit, der nur die Verwirklichung noch fehle.

In dem, was Kafka von einem Buch verlangt, daß es Axt sei, die das Eis in uns zerschlägt, muß das lebendig Wirksame liegen, das in Flauberts Werk zu suchen ist. Aber die äußere Tatsache, daß sich heute niemand von einem Ehebruch schockieren läßt, den man. der Madame Bovary vielleicht sogar großzügig gönnt, versteckt den viel tiefer ansetzenden Aufstand des Künstlers gegen unmenschliches und selbstzufriedenes Leben: Man meint da wie auch hier darüber hinaus zu sein und die nächste Suche nach Flaubert wird eingestellt.

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