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Digital In Arbeit

Schlag nach bei Flaubert

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Es war an einem Tag im frühen Sommer, schwül, ohne Hoffnung; die Arbeit türmte sich; Ängste machten sie schwer; und doch war das rastlose Tun das einzige Mittel, die Beklemmung zu ertragen.

In einem Augenblick der Ermüdung erschien plötzlich K.H., der väterliche Freund. Er war lange tot, im sechsten Jahrzehnt seines Lebens plötzlich gestorben. Die Art, aufzuhören, hatte zu seinem Stil gepaßt, zur gütigen Heiterkeit seiner Vitalität. Nun war er wieder da, aus dem Gedächtnis gestiegen, ohne verständlichen Grund, vielleicht nur zum Trost. Und er sagte auch etwas, klar und deutlich. Er blickte in das Weinglas, sodaß es aussah als hätte er den Gedanken in diesem Augen-

blick aus dem Glas geschöpft. Er sagte:

Man sollte seine liebsten Romane alle zehn Jahre wieder lesen.

Ja, fuhr er fort, alle zehn Jahre ändern wir uns, und dann sehen wir alles mit anderen Augen. Auch die Romanfiguren sehen wir in einem neuen Licht. Den einen, den wir gemocht haben, mögen wir nicht mehr, für den anderen, der uns fremd geblieben war, haben wir plötzlich Verständnis. Nimm ein Buch, das du einmal gelesen hast, und schlag es wieder auf — du wirst deine Wunder erleben.

Die Erinnerung erlosch nicht gänzlich, das Summen und Raunen des Gesprächs begleitete auch die weiteren Tage. Es war gut, die vertraute Stimme zu hören, und ich folgte dem Rat.

Das Buch, das ich nochmals lesen wollte, war „L'education sentimental" von Gustave Flaubert, auf Deutsch unter dem etwas rührseligen Titel „Lehrjahre des Herzens" erschienen: die Geschichte eines jungen Mannes namens Frederic Moreau, zugleich ein Bild der französischen Gesellschaft vor, während und nach der Revolution 1848. Flaubert war achtundvierzig, als er das Buch im Jahre 1869 drucken ließ. Das Buch war sein letzter realistischer Roman; es folgten die großen Visionen und dann die strenge und vergnügliche Satire „Bouvard und Pecuchet".

Hinein also in den genauen Realismus eines Romantikers, in die sachliche Analyse eines Träumers, in einen Roman, der, nach einer alten Literaturgeschichte, „noch trostloser war als .Madame Bovary'" und „auf das Publikum einen geradezu unheimlichen

Eindruck machte". Es war ein Wiederfinden und Neues-Entdek-ken, ja, der liebe K.H. hatte recht. In der Tat, nach zehn oder noch mehr Jahren sah man die Dinge mit anderen Augen.

Auf Seite 181 kam die erste Überraschung. Flaubert beschrieb die Geschicke des Hilf leh-rers Senecal, eines unerbittlichen Kämpfers für ; schwärmerische Ideen und zugleich für den eigenen gesellschaftlichen Aufstieg. Woher kannte ich ihn, den jungen und dann nicht mehr so jungen Mann, der die Erlösung der Menschheit mit der Förderung der eigenen Karriere so überzeugt verbinden wollte? Ich dachte nach. Die Antwort kam nicht aus der Erinnerung, nicht aus der Literatur. Senecal ist ein Typus, dem wir heute und hier begegnen, an Universitäten, in den Redaktionen ganz bestimmter Gazetten, in verschiedenen Diskussionsrunden, Senecal befindet sich unter uns, er ist ein Kind unserer Zeit: Fanatiker und Opportunist in einer Person.

„Der Hilfslehrer war nun schon zum drittenmal aus einem Pensionat auf die Luft gesetzt worden" schreibt Flaubert/„er hatte sich der Verteilung von Preisen widersetzt, die er für eine höchst verderbliche und der Gleichheit abträgliche Einrichtung ansah. ... Abend für Abend stieg er in sein Dachstübchen hinauf und suchte in den Büchern nach Stellen, mit denen er seine Wunschträume rechtfertigen konnte.

Er kannte Mably, Morelly, Fourier, Saint-Simon, Com-te, Cabet, Louis Blanc, die ganze gewichtige Fuhre der sozialistischen Schriftsteller, sowohl jener, die für die Menschheit die gleichförmige Lebenshaltung wie in Kasernen fordern, wie auch jener, die ihr in Freudenhäusern Erholung und Zerstreuung bieten. ...Und aus diesem ganzen Mischmasch hatte er sichrem Idealbild tugendhafter Demokratie zurechtgemacht, ... eine Art amerikanisches Sparta, in dem der einzelne lediglich existieren würde, um der Gesellschaft zu dienen, ei-

ner Gesellschaft, die allmächtiger, unumschränkter, unfehlbarer und göttlicher war als alle Da-lai Lamas und Nebukadnezars. Uber die demnächst mögliche Verwirklichung dieser Wunschträume hegte Senecal nicht die leisesten Zweifel."

Der gleiche Senecal, den Flaubert „selbstloser und uneigennütziger" nennt als den Rechtsanwalt Deslauriers (der in die selbe Richtung umsichtiger marschiert), erklärt sich nach dem Zusammenbruch der Revolution „für die Autorität", denn: „Der Zweck heiligt die Mittel. Manchmal kommt man eben um die Diktatur nicht herum. Es lebe die Tyrannei, wofern der Tyrann Gutes schafft."

Der ersten Begegnung mit einem Zeitgenossen folgte die zweite und die dritte. Im 1869 veröffentlichten Roman wimmelte es von Figuren unserer Zeit. Ich kannte nicht nur den fanatischen Senecal, sondern auch den schlechten Schauspieler und guten Schmarotzer Delmar, der sich mit dem Einsatz politischer Mittel in die Höhe hievte, auch die schwärmerische Frauenrechtlerin Fräulein Vatnaz, auch die reichen Leute, die sich mit jedem verbünden, um ihre gesellschaftliche Stellung zu halten. Uber sie schreibt Flaubert:

„Die meisten anwesenden Männer hatten mindestens vier Regierungen gedient, und sie hätten Frankreich und das ganze Menschengeschlecht verschachert, um ihr Vermögen zu sichern, um sich in Mißbehagen oder eine Verlegenheit zu ersparen, oder auch einfach aus purer Niedertracht, aus blinder Anbetung der Gewalt."

Mit dem Schauspieler Delmar haben wir ebenfalls täglich zu tun. Er trägt nicht nur einen falschen Namen, sondern auch-ein falsches Gesicht und eine falsche Gesinnung, die ihm in ganz bestimmten historischen Augenblicken hilfreich erscheint. Delmar hält Reden, ja, auf Programme versteht er sich am besten.

Er ließ sich, schreibt Flaubert, „des langen und breiten über die

bildungsfördernde Sendung des Schauspielers aus. Da bekanntlich das Theater der Brutherd der Volksbildung sei, stimme er für die Theaterreform. Und die erste Forderung lautet: .Keine Direktoren, keine Vorrechte mehr?'

.Jawohl, keinerlei Vorrechte!'

Das theatralische Getue des Schauspielers setzte die Menge in Brand, und die umstürzlerischen Anträge folgten einander Schlag auf Schlag.

,Weg mit den Akademien und dem Institut!'

.Keine Missionen mehr!'

.Schafft die Prüfungen ab, das Abitur!'

.Was brauchen wir akademische Grade?*"

Und Delmar redet weiter und erklärt unter anderem, „der Staat müsse die Banken und Versicherungen in seine Hand bringen". Und ähnliches mehr. Später kocht dann Delmar sein Süppchen auf einem ganz anderen Feuer, aber was tut das zur Sache? Hauptsache, das Süppchen kocht.

Eine geradezu gespenstische Karikatur zeichnete Flaubert in der Figur des Fräuleins Vatnaz. Sie ist „von ihrer Sendung überzeugt und darum von einer wahren Sucht befallen, andauernd das große Wort zu führen und alle Welt abzukanzeln." Sie ist überall dabei, reißt bei allen Diskussionen das Wort an sich, und hat, sofern sie schweigt, für andere Ansichten nur ein kaltes Lächeln übrig. Wie oft habe ich sie gesehen, in der Television, im Kaffeehaus, auf der Rednertribüne! Flaubert notiert:

„Die Befreiung des Proletariats war nach Ansicht der Vatnaz nur durch die Befreiung der Frau möglich. Sie wollte, daß den Frauen alle Ämter offenstünden, forderte ein neues Strafgesetz und die Abschaffung oder zumindest eine .vernünftige Regelung' der Ehe____Die Ammen und Hebammen sollten vom Staat besoldete Beamtinnen sein, ein Ausschuß zur Prüfung der Werke der Schriftstellerinnen sollte geschaffen werden, besondere Verleger für Frauen, eine polytechni-

sche Hochschule für Frauen, eine Nationalgarde für Frauen, kurz, alles für die Frauen! Und da die Regierung ihre Rechte nicht anerkannte, mußten sie eben die Gewalt mit Gewalt besiegen. Zehntausende Bürgerinnen mit guten Gewehren konnten dem Rathaus schon einen tüchtigen Schrecken einjagen."

Die Schaffung einer neuen Kultur sei natürlich ebenfalls Sache der Frauen:

„Die zivilisatorische Arbeit sei Sache aller. Alle Frauen müßten daran mitwirken und endlich an Stelle des Eigennutzes die Brüderlichkeit, für den Individualismus die Gemeinschaft und für die Zersplitterung die große Kultur einsetzen."

Senecal, Delmar, die Vatnaz sind nur einige Beispiele aus dem Panoptikum des Gustave Flaubert. Die Summe ihrer Ansichten nennt er „ein Gewölk von Dummheit":

„Wohin sie kamen, verfluchten die Mieter die Hauseigentümer, überall schimpfte die Bluse über den Frack, und die Reichen verschworen sich gegen die Armen. Viele... bettelten Geld, um damit irgendwelche Erfindungen zu finanzieren, oder dann bekam man wieder Pläne für Gemeinschaftshäuser vorgesetzt, allerlei Projekte für kantonale Marktplätze, mancherlei Weltbeglückungssysteme. Dann und wann zuckte ein Geistesblitz in diesem Gewölk von Dummheit auf, Einwürfe und Zurufe wie jäh auffliegende Kostspritzer.

Manchmal trat auch ein besserer Herr auf, ein Aristokrat, der sich unterwürfig und kleinlaut gab und dem Pöbel nach dem Munde redete, sich auch die Hände nicht gewaschen hatte, damit sie schwielig aussehen sollten."

Ja, da waren sie, die Menschen früherer Jahre. Meine Zeitgenossen.

Ich sah wieder das Gesicht des alten Freundes, dem ich diese Wiederbegegnung und Neuentdeckung zu verdanken hatte. Er lächelte vergnügt über das Schauspiel" der menschlichen Dummheit, das auf Wunsch des Publikums von Zeit zu Zeit wiederholt wird, und ich hörte seine heisere Stimme. Sie war heiter und ruhig. Der tote Freund gab für all die schönen, allerdings nur von Eigennutz diktierten Reden eine Erklärung. Aber es war nicht seine eigene Erklärung; er variierte Flaubert. Er sagte:

Du mußt sie verstehen. Diese Menschen lieben die Macht so leidenschaftlich, daß sie noch dafür bezahlen würden, um sich verkaufen zu können.

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