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Vom Ethos des Komponisten

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Zu den Künstlern, die das Bedürfnis empfinden, sich und anderen über das, wa6 sie tun, Rechenschaft abzulegen, gehört Paul Hindemith, der bei mehreren Konzerten im Rahmen des „Internationalen Musikkongresses Wien 1952' als Komponist und Dirigent matwirkt. Im Lauf einer mehr als zwanzigjährigen Lehrtätigkeit an der Staatlichen Hochschule für Musik in Berlin, in Ankara, an der Yale University und — seit November des vergangenen Jahres — an der Universität Zürich war Hindemith immer wieder genötigt, „Grundlagenforschungen“ zu treiben. Sein Verantwortungsgefühl für das Schicksal der Musik hat ihn dazu bewogen, in umfassenden Lehrwerken das Erkannte aufzuzeichnen und über den schöpferischen Vorgang, soweit er 6ich in Worte fassen läßt, freimütig auszusagen. Der Ordnung und Gesetzmäßigkeit seiner Musik entspricht die Klarheit seines Denkens und seines Stils. Dem hohen Kunstziel, das er erschaut, 6türmte der junge Hindemith als Revolutionär und Neutöner entgegen. Heute nähert er sich ihm bedächtigen Schrittes als „Konservativer“. Van der Anschauung, daß man den Trennpunkt zwischen bewußtem und unbewußtem Tun, zwischen Handwerk und Inspiration, ziemlich weit hinauftreiben könne, bis zur Absage an die trügerische Kunst der Technik und die Betonung der musikalischen Vision führt ein weiter Weg. Folgen wir diesem an Hand der folgenden Fragmente, die der Vorrede zur „Unterweisung im Tonsatz', den einleitenden Bemerkungen zur neuen Fassung des „Marienlebens“ (beide im Verlag B. Schotts Söhne, Mainz 1940 und 1948) und der Antrittsrede an der Universität Zürich über das Thema „Die musikalische Inspiration“ entnommen sind.

H. A. F.

Ist es nicht seltsam, daß nach Bach sich unter den großen Komponisten kaum noch hervorragende Lehrer befanden? Man sollte meinen, daß jeder Musiker das Bestreben haben müßte, das von ihm Errungene an verständige Schüler weiterzugeben. Im letzten Jahrhundert wird jedoch das Lehren satztechnisdier Kenntnisse als Fron, als Hindernis der schöpferischen Tätigkeit angesehen. Nur noch selten baut es ein Komponist als Hilfsmittel für die eigene satzkennerische Vollkommenheit ins Schaffen ein, das Gefühl der Verantwortung künftigen Geschlechtern von Musikern gegenüber scheint abhanden gekommen zu sein. Erst in den jüngstvergangenen Jahrzehnten finden wir wieder Komponisten, denen das Heranbilden von Schülern Pflicht ist. Sie handeln im Geiste alter Handwerks- erfahrung, welche darauf bedacht ist, die lückenlose Weitergabe der Kenntnisse zu sichern. In Zeiten, die sich einer beneidenswerten Hochblüte des tonsetzeri- schen Handwerks rühmen, mögen große Meister sich ausschließlich ihren eigenen Tonschöpfungen widmen, ohne der Erziehung des Nachwuchses ihre Aufmerksamkeit zu schenken; die nachfolgenden Pädagogen haben lange Zeit damit zu tun, den angehäuften Reichtum in gangbare Münze umzuwechseln. Heute aber, wo allewthalben Mangel an handwerklichem Können herrscht, sollte sich kein Komponist der Lehrtätigkeit entziehen ...

Ich kenne die Nöte des Lehrers wie das Streben des Komponisten. Ich habe den Übergang aus konservativer' Schulung in eine neue Freiheit vielleicht gründlicher erlebt als irgendein anderer. Das Neue mußte durchschritten werden, sollte seine Erforschung gelingen; daß diese weder harmlos noch ungefährlich war, weiß jeder, der an der Eroberung beteiligt war. Weder wurde die Erkenntnis auf geradem Wege errungen, noch ging es ohne Störung ab. Heute scheint es mir, als sei das Gebiet übersichtlich geworden, als sei die geheime Ordnung der Töne erlauscht. Nicht von den Starrsinnigen, die durch einfaches Verharren in der ihnen gewohnten Unordnung Kraft vortäuschten, auch nicht von dem Tugendbold, der sich erst gar nicht in Versuchung begeben hat.

Wenn auch der musikalische Schaffensvorgang in seinen letzten Höhen dem menschlichen Begreifen immer unzugänglich bleiben mag, wie die geheimnisvolle Welt künstlerischer Arbeit überhaupt, so läßt sich doch der Trennpunkt zwischen bewußtem und unbewußtem Tun außerordentlich weit hinauftreiben. Wenn das nicht so wäre, könnte jeder, bei dem diese Grenze noch sehr tief liegt, von sich behaupten, er schaffe die größten Kunstwerke. Es gäbe keinen Unterschied zwischen Beethoven und einem beliebigen Komponisten, der mühsam bis zu einem knappen Viertel der für Menschen erreichbaren Höhe künstlerischer Leistung vorgedrungen ist und von den sich über ihm türmenden Dreivierteln nichts ahnt. Dieser kleine Mann wird ungern von handwerklichen Dingen reden und sich auf seine Eingebung, sein Gefühl, sein Herz berufen, das ihm den Weg seiner Handlungen vorschreibe. Muß das nicht eine winzige Eingebung, ein belangloses Gefühl sein, das sich mit so geringen Kenntnissen schon ausdrücken kann? Gehört nicht ein ungeheures Maß bewußter Materialbeherrschung und -anwendung dazu, in Töne zu übertragen, was das Herz diktiert? Kann sich das geistige Bild einer Musik, das der Komponist erschaute, überhaupt dem empfangenden Gegenpart deutlich machen, wenn die Eigenkraft der Töne, die Selbstherrlichkeit der Klangverbindungen immer wieder zwischen die Eingebung des Komponisten und ihre hörbar gestaltete Ausdrucksform treten?...

Ich weiß mich in dieser Einstellung zum Handwerklichen des Tonsatzes einig mit Anschauungen, die gültig waren lange vor der Zeit der großen klassischen Meister. Wir finden ihre Vertreter im frühen Altertum; weitblickende Künstler des Mittelalters und der Neuzeit bewahren die Lehre und geben sie weiter. Was war ihnen das Tonmaterial? Die Intervalle waren Zeugnisse aus den Urtagen der Weltschöpfung; geheimnisvoll wie die Zahl, gleichen Wesens mit den Grundbegriffen der Fläche und des Raumes, Richtmaß gleicherweise für die hörbare wie die sichtbare Welt; Teile des Universums, das in gleichen Verhältnissen sich ausbreitet wie die Abstände der Obertonreihe, so daß Maß, Musik und Weltall in eins verschmolzen. Und die Kunst des Setzens selbst? Frommen Musikern war sie ein Mittel, Gott zu loben und die Gemeinde der Mithörenden am Lobe teilnehmen zu lassen. Daß das Werk zur Ehre des höchsten Wesens geschaffen wird und darum auch seiner Unterstützung sicher ist, spüren wir bei vielen Komponisten, selten aber so eindringlich wie bei Bach, dem das „Jesu iuva" in seinen Partituren keine leere Formel war.

(„Unterweisung im Tonsatz")

Vor 25 Jahren habe ich das „Marienleben" nach Texten von Rainer Maria Rilke zum ersten Male veröffentlicht. Damals erschien mir trotz allem künstlerischen Verantwortungsgefühl, das ich angesichts der Größe des Vorwurfs aufbringen konnte, das Unternehmen hauptsächlich als ein Experiment, eine Kraftprobe, ein Herumschlagen mit einem Unbekannten, das zu bewältigen war. Was darüber hinaus der Zyklus bedeuten würde, für die Musikentwicklung im allgemeinen wie für meinen eigenen Fortschritt, konnte ich nicht übersehen ... Der starke Eindruck, den schon die erste Aufführung auf. die Zuhörer machte — erwartet hatte ich gar nichts —, brachte mir zum ersten Maie in meinem Musikerdasein die ethischen Notwendigkeiten der Musik und die moralischen Verpflichtungen des Musikers zum Bewußtsein: Hatte ich mit dem „Marienleben“ mein Bestes gegeben, so war dieses Beste trotz aller guten Absichten doch nicht gut genug, um ein für allemal als gelungen beiseitegelegt werden zu können. Ich begann ein Ideal edler und möglichst vollkommener Musik zu erschauen, das ich dereinst zu verwirklichen imstande sein würde, und ich wußte, daß von nun an das „Marienleben mich auf diesem Wege leiten und mir zugleich als Maßstab für die Annäherung an das Ideal dienen würde. Diese teils sentimentale, teils kämpferische Einstellung zu einem schon fertig dastehenden Werk leitete bald zu Verbesserungsversuchen ...

Das Werk will durch seine geistige Haltung zum Beschäftigten mit den hier gezeigten Problemen hoher Kirnst anregen. Dem Musiker will es weiterreichende Ausblicke auf die Musik und ihre Ausführung zeigen, und den Hörer will es aus der etwas beschämenden Rolle des bloßen Musikkonsumenten so weit wie möglich in die des Mitfühlenden, des Verstehenden erheben. Meistens betrachtet man ja die Musik nur als ein Genußmittel, und die Mehrzahl der Komponisten ist lediglich damit beschäftigt, der Gier des Hörers Material zu liefern. Man läßt sich dieses Genußmittel ungeheure Geldsummen kosten, und seinen Produzenten erlaubt man Freiheiten — dikta- toriale Gewalt, freies Verfügungsrecht über die Arbeitskraft anderer, lediglich zur Vorführung unkontrollierter Klangphantome —, mit denen man in unserer Gesellschaftsordnung (oder Unordnung) sonst nicht zu freigebig ist. — Mit dieser Art unterhaltsamen Zeitvertreibs hat das „Marienleben nichts zu tun.

Auch „Sensation“ ist ein Wort, das man in diesen Regionen der Arbeit nicht mehr kennt. Nichts ist ja leichter zu schreiben als sensationelle Dinge, Jeder Nichtskönner kann heute seine Erfolge als Komponist haben, wenn er nur versteht, die Aufmerksamkeit seiner Hörer von musikalischen Problemen wegzuziehen und auf andere Gleise zu schieben, von denen heutzutage das politische und das nationalistische besonders dicht befahren sind... Bei aller Wertschätzung, die man billig den technischen Neuerungen entgegenbringen kann, da sie uns ja die Arbeit erleichtern sollen, ist es doch angezeigt, in der Bezeichnung „Neue Kunst" die Betonung des Wortes „neu“ zu vermindern und dafür die „Kunst“ um so mehr hervorzuheben.

(„Marienleben“)

Wenn wir verstehen wollen, durch welche Kraft unsere ideenhaften melodischen, harmonischen und rhythmischen Protagonisten auf der von musikalischer Zeit und musikalischem Raum gebildeten Bühne bewegt werden, dürfen wir nicht durch die geistigen Regionen stöbern, die dem namenlosen Zeitgenossen, dem belanglosen Musiker und dem schöpferischen Genie gemeinsam sind. Wir müssen Regionen echten musikalischen Schöpfertums zu erschauen suchen, die weitab unserer tagtäglichen Erfahrungen liegen, deren Dasein Herrn X höchstens vom Hörensagen bekannt ist, deren innerste Bezirke dem Unbegabten niemals zugänglich sein werden. Was den wirklich Begabten von beiden unterscheidet, ist: die Vision.

Den kann man kaum einen echten Komponisten nennen, dem nicht im plötzlichen Aufleuchten eines schöpferischen Moments ein Musikstück in seiner völligen Ganzheit erschiene, mit jedem seiner Bauglieder an der rechten Stelle. Es scheint, als sei in solchen Visionen noch ein schwaches Glimmen des schöpferischen Willens aus den Urtagen unserer Welt auf uns gelangt. Wurde aber damals das Geschaute verwirklicht, ohne den Schöpfer endlose Umwege über tech- nimaterielle Hindernisse gehen zu lassen, so ist uns zur irdischen Erbschaft geworden, zwischen jeder kreativen Vision und ihrer materiellen Formung Hürde über

Hürde errichtet zu finden.

Visionen haben, sie in klingende Wirklichkeit zu verwandeln wissen — sicherlich ist es diese Art der Begabung, die den kreativen Geist von allen anderen Arbeitenden absondert. Trotzdem ist er aber immer noch in Gefahr, im kleinlich Handwerklichen steckenzubleiben, sich in die Klüfte musikalischer Esoterik zu verkriechen, seine Selbstsucht dem Werk aufzuzwingen, den an der Musik teilnehmenden Partner zu seinem Sklaven zu erniedrigen, der zu empfangen hat, was als Großmut maskierter Eigennutz ihm darreicht. Andere Qualitäten, Qualitäten nicht rein kreativer Natur, müssen noch im Werk des vollkommenen Musikers sichtbar werden, wenn wir ihm willig als einem Anreger zum Guten folgen sollen. All die ethische Kraft, die in der Musik verborgen ist, soll er freimachen. An die Reinheit seiner Kunst soll er glauben und sie uns in der reinsten Form zugänglich machen. Die Musik soll ihm zu seiner eigenen moralischen Veredlung helfen, und er muß versuchen, in denen, die an seiner Musik teilnehmen, ähnliches Bestreben wachzurufen. Ein solches Leben in und mit Musik, das seinem ganzen Wesen nach nur ein Besiegen niedriger Kräfte und ein Hinneigen zu geistiger Souveränität sein kann, wird zugleich auch ein Leben der Demut sein. Es wird 6ein Bestes dem Nächsten mitzuteilen suchen, nicht in der

Form eines Almosens, das man dem Mitleidwürdigen zukommėn läßt, sondern wie das Teilen eines Wertvollen Besitzes mit einem würdigen Freund. Der tiefste Grund für diese Demut wird in des Musikers Seele der Glaube sein, daß jenseits allen rationalen Wissens und aller Handwerkserfahrung, jenseits alles, was er in seiner Laufbahn angesammeit hat, eine Region visionärer Irrationalität liegt, in der die endgültigen Geheimnisse der Kunst wohnen, gefühlt, doch nicht Verstanden, beschworen, doch nicht befohlen, sich neigend, doch nicht sich hingebend. Er kann diese Region nicht betreten, er kann nur beten, daß er zu einem Verkünder ihrer Herrlichkeiten, die er in Visionen zu schauen erwählt war, bestimmt sein möge. Wenn seine Geböte erhört werden und er, ausgerüstet mit aller Weisheit und mit verehrungsvoller Scheu für das Unwißbare, der Mann ist, den der Himmel mit der Gabe musikalischen Schöpfertums gesegnet hat, so mögen wir vielleicht in ihm eines Tages den Geber jenes köstlichen Geschenks erkennen, das wir alle mit Sehnsucht erwarten: die große Musik unserer Zeit die Musik, welche größer ist als diese Zeit: die sie überleben wird; die von uns zeugen wird, nachdem wir längst nicht mfehr hier sein werden.

(Züricher Antrittsrede)

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