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JAZZ UND KLASSISCHE MUSIK

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Die Frage lautet: Ist Jazz die lebendige Musik unserer Zeit? — Gewiß ist Jazz die lebendige oder zumindest eine lebendige musikalische Kraft von heute. Auch atomare Energie, die Fernlenkrakete, die unheimliche Ueberwindung der Schallgrenze sind lebendige Kräfte. Sie sind bereit zu unterdrücken und zu zerstören — und wohl auch selbst zerstört zu werden. Alle stellen sie wichtige Faktoren unserer gegenwärtigen Existenz dar. Sie sind praktisch unvermeidbar und daher nur zu lebendig. Sie sind der Ausdruck und das Bedürfnis der Epoche, in welcher wir leben.

Und doch hat die Natur im Laufe der Entwicklung, Billionen Jahre hindurch, nicht allein solche grauenerweckende Phänomene hervorgebracht, sondern sich auch an verhältnismäßig sehr schwachen, wollen wir sagen „zierlichen“ Lebewesen, zum Beispiel den Mammalien, versucht. Trotz deren scheinbar leichten Verletzlichkeit haben sich diese bis zum heutigen Tage erhalten, während die Dinosaurier nur noch als Märchenwesen und Museumsstücke übriggeblieben sind. ..Ueberleben“ ist eine nicht vorherzusehende Angelegenheit.

*Ich gerate immer in Verlegenheit, wenn mich Leute um meine Meinung über den Jazz fragen. Vielleicht erwarten sie von mir, daß ich dessen macht- und eindrucksvolle Existenz bekräftige oder vielleicht auch, daß ich ihnen sage, ich betrachtete ihn als die Musik der Zukunft. Die Tatsache, daß ich selbst Musiker bin, rechtfertigt solche Anfragen keineswegs. Selbstverständlich muß ich die Tatsache anerkennen, daß der Jazz Musik ist. Auch der unbegleitete Singsang des Hirten im Gebirge, das Weinen des Säuglings, das Zwitschern der Vögel sind Musik. Jedoch all dies hat nichts mit Jazz zu tun, und Jazz hat nichts zu tun mit dem, was ich selbst tue. Sie alle sind Elemente, und ich akzeptiere sie als solche; zur Verwendung als Ornamente, im Bestreben, ein monumentales musikalisches Bauwerk zu errichten. Dieses ist Ziel und Zweck der Musik, die ich vertrete. Ich arbeite für eine andersgeartete Welt, für jene der sogenannten „Musik-Denker“, und da ich ein reproduzierender Künstler bin, habe ich mein Leben der Pflege von Werken solcher „Musik-Denker“ gewidmet.

Die Musik, für die ich mich einsetze, erstand ursprünglich als Ausdruck religiöser Funktionen in der Kirche; sie wurde geschrieben von Menschen, die mit ihr Christus dienen wollten. Sie schufen Chormusik, bestimmt, Gott zu preisen. Später wurde der Wirkungskreis solcher Musik erweitert, sie verließ das Gotteshaus, wurde weltlich, indem sie nicht nur Anbetung, sondern auch menschliche Gedanken und Gefühle auszudrücken suchte Eine neue Kunst wurde geboren, die Kunst der Töne; das architektonische Empfinden des Zeitalters wurde auch auf die Konstruktion musikalischer Formen angewendet. Durch diese Wandlung wurde die symphonische Form geschaffen. Wir schulden dafür dem deutschen Geiste Dank. Die Musik, die ich darbiete, ist immer noch rein architektonisch gedacht, aus Tönen in eine bauliche Form gebannt.

Trotzdem Musik schon seit langem nicht mehr nur bestimmt ist, die Verherrlichung Gottes zu verkünden, so bewegt sie sich doch in einer geistigen Sphäre. Wir gehen in ein Konzert, um musikalisch-spirituelle Eindruck zu genießen: es ist eben ein vergeistigter Genuß. Darum betrachte ich mich sozusagen als Priester, der in einer Versammlung seiner Gemeinde dient. Es würde mich in ziemliche Verlegenheit versetzen, wenn jemand, der meine Berufung kennt, mich fragen wollte, wie ich über eine burleske Revue denke. Als ob das Vergnügen, eine solche aufzunehmen, in einem Atem mit dem Empfinden genannt werden könnte, welche den Gläubigen im Go'tteshaus überkommt — sei es, daß ein solches der Anbetung des Höchsten oder jener der Musik dient.

Und doch bin ich der erste, der bekennt, daß jede einzelne Ausdrucksweise des menschlichen Geistes ihre Berechtigung hat, und daß alle Empfindungen einen ungeheuren Umfang von Höhe zu Tiefe bezeigen, vergleichbar mit jenem vom Fuße eines hohen Berges bis hinauf zu seinem Gipfel. Einen Umfang, der in seiner Art als Aufstieg zur Idee des Göttlichen betrachtet werden mag.

Wogegen ich mich aber wehre, ist die Erwartung der Leute, daß ich Vergleiche ziehe. Es ist leicht zu behaupten, daß der Jazz und alles, was er verdolmetscht, hunderte Millionen Menschen erfreut, wohingegen Musik, wie ich sie vermittle, nur etwa zehn Millionen Freude bereitet. Der Begriff der Mehrheit muß stets anerkannt werden, und es ist wahrscheinlich, daß, wenn Musik, die ich die meine nenne, aus der Welt verschwände, außer jenen zehn Millionen keiner es bemerkte. Doch hat uns die Natur selbst in einer langen Folge des Prüfens und Widerrufens die Möglichkeit zu erkennen gegeben, daß gerade diese, auf den Bedürfnissen einer geringen Minorität beruhende Kunst, zum überleben bestimmt sei; weil ihre geistigen Kräfte beweisen, daß sie unzerstörbar und daher ewig ist.

Nun glaube ich — um bei dem Bilde jenes hohen Berges zu bleiben — daß diese Minderheit den Gipfel und die Mehrheit den Fuß bedeute, Aber wie ich bereits sagte: wozu Vergleiche ziehen? Warum etwas beklagen, das im Wesentlichen Glanz und Glorie des Lebens bedeutet? Ueberau, wo wir den Kampf ums Dasein beobachten, finden wir eine riesige Linie des Ausdruckes, die von der Tiefe zur Höhe reicht. Was allein wichtig erscheint, ist, daß es den Berg überhaupt gibt, und wenn es einen gibt, so muß er Fuß und Gipfel haben. Ein jeder dieser beiden ist gleich wichtig. Man muß nicht einmal darüber streiten, welches der Fuß und iwelches der Gipfel sei. Man rnuß jedes Ding an seinem Platz ännehrrten und lieh seiner freuen.

Im übrigen benötige ich jene Hunderte von mir so verschiedene Millionen Menschen, um den Wert meiner eigenen Existenz zu beweisen. Vor kurzem hatte ich Gelegenheit, mit Duke Ellington zusammenzuarbeiten, nämlich im selben Konzert mit ihm und seinem fabelhaften Ensemble aufzutreten. Ich bot jene beunruhigende, hochgeistige Musik, von der die Rede war, und er jene andere, die er vertritt, angeblich die fortgeschrittenste Art des „Jazz“, dieses unwiderstehlichen, enorm lebendigen Ausdrucks unserer Zeit. Ob man es mir glaubt oder nicht: nachdem ich meinen Teil des Programms beendigt hatte, setzte ich mich auf meinen Platz und genoß jede Minute von Duke Ellingtons Arbeit. Sie dünkte mir sehr gescheit und unterhaltend. Es schien mir keinen Augenblick, als ob ich etwa von einer höheren Plattform aus zuzuhören hätte. Meine eigene Welt war einfach nur eine andere; doch ich pries mich, glücklich, nicht so engherzig zu sein, um diese von der meinigen so verschiedene Art genießen zu können, bloß weil sie einer anderen als meiner eigenen Welt angehörte.

Ich selbst wünsche nur der einzigen Art von Musik zu dienen, die zu vertreten ich berufen bin. Doch erkenne ich restlos das Recht der Menschen an, sich auf eine andere Art auszudrücken, und somit fühle ich gegen sie weder Haß noch Geringschätzung, nur um meinen eigenen Standpunkt zu rechtfertigen. Ganz im Gegenteil: ich versuche sie zu begreifen. Und ich danke Gott, daß es mir gegeben ist, auch dasjenige zu verstehen und zu schätzen, was so verschieden ist von allem, dem mein angeborenes Talent und meine Fertigkeit zu dienen berufen sind.

Um es kurz zu wiederholen möchte ich sagen, daß ich alle Geschöpfe Gottes mit gleicher Liebe zu lieben fähig bin, wie auch alle Schöpfungen des menschlichen Geistes, der menschlichen Eingebung; und mit dieser Liebe Zeugnis ablegen kann von meinem Glauben und meiner Hingabe an die Vorstellung eines allmächtigen, allieben-den, universalen Schöpfers. H isd

Aus dem Englischen übersetzt von GlseUa Selden-Goth, Florenz

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