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Es ist stiller geworden um Kafka

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ERZÄHLUNGEN. Von Franz Kafka. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main, 1961. Leinen. 448 Seiten. Preis 10.80 DM.

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ERZÄHLUNGEN. Von Franz Kafka. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main, 1961. Leinen. 448 Seiten. Preis 10.80 DM.

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Einige Jahre lang war — ein merkwürdiger Nachruhm I — viel literarisches Gerede um ihn. Er war in großer Mode, Anlaß zu täglichen Auseinandersetzungen; es gehörte förmlich zum guten Ton, über ihn, wenn auch noch so oberflächlich, Bescheid zu wissen. Und damit hielten es meist solche, die weder begabt noch gewillt waren, Kafkas Dichtungen aufzunehmen, deren Hieroglyphenschrift, „ergebnislos“, sich immer von neuem verrätselt. Dann kamen die Epigonen mit ihren kafkaesken Machwerken, und die nimmer abebbende Flut von Untersuchungen und Auslegungen. Er wurde nacheinander katholisch, protestantisch, zionistisch und kabbalistisch gedeutet, ganz zu schweigen von den Existenzphilosophen und Psychoanalytikern. Eine soeben in Schweden deutsch veröffentlichte Kafka-Bibliographie umfaßt nicht weniger als 5000 Titel.) Inzwischen taucht sein Name in den Diskussionen etwas seltener auf. Das literarische Geschwätz hat sich neuer, unkomplizierterer Sensationen bemächtigt; die Nachahmer haben eingesehen, daß die von Kafka dargestell ten Grundsituationen nicht beliebig wiederholbar sind, das Parabelhafte seiner Arbeiten, die Logik und Exaktheit seiner Prosa in der Nachahmung nur zu mageren Allegorien und zu reinem Skelett entarten. Gewachsen und enger verschworen dagegen ist Kafkas echte Lesergemeinde; nachhaltig sein Einfluß auf die junge Schriftstellergeneration und stark sein Vorbild, „weil Kafkas Wirkung in unser Schicksal eingegangen ist, unablösbar geworden ist von unserem Dasein“, wie einer der . Besten uotfr den Jungen Von ihm bekennt.

Der 5.-Fischer-Verlag bringt eben in einer Sonderausgabe sämtliche Erzählungen Franz Kafkas — die wenigen noch von ihm selbst veröffentlichten wie die nachgelassenen —, und zwar zum erstenmal in chronologischer Ordnung nach dem Entstehungsdatum (1904 bis 1924). Das hat seinen besonderen Reiz, weil es Einblick in das Werden von Kafkas Werk erlaubt, in die schöpferischen Schwankun gen, das Wachsen von den frühesten Prosastücken mit ihren einfachen Stoffen, ihrem Nichts an Handlung, bis zum Spätwerk als Zeugnis des Endgültigen — lückenlos gebaute Kunstgebilde der Sprache. Auch beim wiederholten Lesen erliegt man dem Eindruck der dunkelfaszinierenden Texte, einer Sprache, die wie auf die reinen Umrisse einer Zeichnung reduziert scheint. Dem Leser bleibt es überlassen, sie mit seiner eigenen Einbildungskraft zu umkleiden und weiter auszuführen, bis er in sich eine Fülle von Bildern aufgerufen fühlt, die sich zu einer neuen, magischen Welt zusammenfügen.

Wieder liest man „Das Urtei 1", dieses in Bildhaftigkeit und Sprachführung gleich geniale Prosastück, in einer einzigen Nacht niedergeschrieben und vielleicht autobiographische Elemente verarbeitend, wenn es die Gestalt des Vaters beschwört, der kraft der Wucht seiner Autorität den Sohn, der ihm das Leben „schuldet“, „zum Tode verurteilt“. — „In der Strafkolonie“, ein ungemein präzis gedichtetes Bild vom Zusammenstoß zweier Welten, einer alten, autoritären, und einer neuen, modernen, zugleich eine grausige prophetische Parabel von den Metzgern der Gewalt. Oktober 1914, nach Ausbruch des ersten Weltkrieges, gestaltet, dabei spätere Entwicklungen auf dem wie ein dumpfer Seismograph wirkenden Prager Boden jahrzehntelang vorausgeahnt. — Das Unvermögen des Künstlers, im Leben wirkliche Erfüllung zu finden, wird bei Kafka auf seinen prägnantesten Ausdruck gebracht: der „Hungerkünstler“

findet die Speise nicht, die ihm schmeckt, und verhungert. — Eine Reihe von Prosastücken weist auf die scheinbare Vergeblichkeit menschlicher Existenz und menschlichen Tuns, davon das eindringlichste ..Beim Bau der Chinesischen Mauer“. Die Mauer, die nie fertig wird, als Sinnbild der im Absurden sich erschöpfenden Tätigkeit. Indes der Kaiser, die höchste Autorität, unsichtbar bleibt, seine Botschaft, die er auf dem Sterbebett verkündet, nie seine Untertanen erreicht, der Adel aber die strengen Gesetze überwacht, deren Sinn und Vorhandensein sich im dunkeln verliert.

In zahllosen Verwandlungen spürt Kafka dem Geheimnis der Existenz nach, so in den großen Hundeparabeln „Der B a u“ und „Forschungen eines Hundes", in der Erzählung ..Die Verwandlung“ — Gregor Samsa. seines Zeichens Handlungsreisender und geschundener Funktionär im sozialen Apparat, findet sich eines Morgens im Bett als widerlicher Mistkäfer —, oder die zoologisch unmögliche „K r e u z u n g“, ein Tier, „halb Kätzchen, halb Lämmchen“.

Wer je von einem Rezitator (der den nötigen langen Atem dazu haben muß) das nur aus zwei Sätzen bestehende, einei Druckseite umfassende Stück „Auf der Galerie" (von der „lungensüchtigen Kunstreiterin in der Manege auf schwankendem Pferd“) vortragen gehört hat, dem wird die spielerische Souveränität der Kafkaschen Prosa unvergeßlich bleiben. So wie sein Humor, die unbändige Heiterkeit, die zu Kafka gehört wie das Geheimnisvolle, Skurrile, Grotesk-Schauerliche. Kafka war ein großer Humorist. Man lese zum Beweis dessen, um nur einiges aus dem Band Erzählungen zu nennen: Ein Bericht für eine Akademie, Ein Hungerkünstler, Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse, Beschreibung eines Kampfes, Die Verwandlung, Eine Kreuzung, Poseidon.

„Er weiß von der Welt zehntausendmal mehr als alle Menschen in der Welt“, sagte Milena Jesenskä, die tschechische Übersetzerin und unvergleichliche Briefpartnerin Kafkas, von der zarten und verlegenen Gestalt ihres Freundes. Der wai weit entfernt von aller Konjunkturangsl und jeglichem Nihilismus. Es irrt, wer d£ meint, Kafka sei an der Welt verzweifelt. Er zweifelte nur an seiner Kraft, de- Zweifels Herr zu werden. Aber er sagte: „Im Kampf zwischen dir und der Well sekundiere der Welt.“

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