Werbung
Werbung
Werbung

Auch Peter-André Alt versucht sich an Kafkas Biografie.

Vielleicht ist ein diffuses Bedürfnis nach Orientierung am unüberblickbaren Dichterhimmel der Grund, dass sich aktuell monumentale Biografien großer Beliebtheit erfreuen, wie das breite Echo auf die herausragenden Arbeiten von Sven Hanuschek über Elias Canetti gezeigt hat. Über Franz Kafka ist nach früheren Arbeiten von Klaus Wagenbach oder Hartmut Binder 2002 Reiner Stachs voluminöse Untersuchung "Kafka. Die Jahre der Entscheidungen" erschienen. Dieser erste von geplanten drei Bänden eines großen Biografieprojekts präsentierte, wenn auch methodisch etwas umstritten, doch in vielen Aspekten ein "neues Kafkabild" (Michael Schneider). Doch es ist nun nicht Reiner Stach und auch kein anderer der vielen ausgewiesenen Kafka-Forscher, der eine 763 eng bedruckte Seiten umfassende Gesamtbiografie Franz Kafkas vorlegt, sondern der Germanist Peter-André Alt, der bislang vor allem über die deutsche Aufklärung und Klassik gearbeitet hat.

Viele Details schon bekannt

Nun ist Franz Kafka freilich ein Autor, über den eine schier unüberblickbare Vielzahl von ausführlichen und umfangreichen Detailuntersuchungen vorliegt. Und gerade in den letzten Jahren ist eine Reihe von Arbeiten erschienen, die völlig neue Aspekte zum Teil mit überraschenden Ansätzen und Ergebnissen aufgearbeitet haben. Das betrifft einzelne Lebensabschnitten aber auch spezifische Themenfelder wie die Wohnverhältnisse (Alena Wagnerová), Judentum und jüdisches Theater (zuletzt Reinhard Stach), Kafkas Arbeit bei der Arbeiterunfallversicherung (Hans-Gerd Koch), das Verhältnis zu Frauen allgemein und zu einzelnen Freundinnen im Besonderen (wiederum Stach, Anthony Northey), Kafkas Besuche im Bordell und im Kino (Hanns Zischler) oder seine Rezeption anderer Phänomene der technologischen Umbrüche seiner Zeit (Friedrich A. Kittler, Peter Demetz). Das hat den Vorteil, dass sich der Biograf auf gesichertes Wissen stützten kann, und den Nachteil, dass neue Entdeckungen und Überraschungsfunde nicht leicht sind. Und so scheint denn auch "Franz Kafka. Der ewige Sohn" über weite Teile mehr eine sehr sorgfältig und ausführlich zusammengetragene Kompilation von bekannten Materialien, Befunden und Analysen zu sein.

Bekannte Materialien

"Dieses Buch geht von der Beobachtung aus, daß Kafkas äußeres und inneres Leben zwar punktuell seine Texte inspiriert, umgekehrt aber auch die Literatur die Linien der Biographie festlegt", er also "im Leben die Literatur nachgeahmt" habe, heißt es im Vorwort. Als Beispiele nennt Alt das Verlobungsmotiv und die tödliche Wunde des Jungen in der 1917 entstandenen Erzählung "Ein Landarzt", die das Ausbrechen der Tuberkulose vorwegnehme. Das ist eine kühne Überlegung und vielleicht ist es besser, dass Alt dann im Buch selbst die Richtung zumeist doch wieder umdreht und Werk und Vita eher konventionell verschaltet, was freilich die Gefahr von Zirkelschlüssen birgt.

Zitate aus dem literarischen Werk werden immer wieder zur Illustration der Vita herangezogen, während die Reflexe noch so kleiner Details aus dem realen Leben - wie eine "kleine Seekrankheit" auf der Schiffsreise von Triest nach Venedig im September 1913 - mit großer Lust im Werk aufgespürt werden. In diesem Fall ist es die attributive Beifügung, Josef K. habe sich gefühlt "wie seekrank" im "Process", und jeder Forscher weiß um die tiefe Befriedigung, die von solch kleine Trouvaillen ausgehen kann.

Mitunter zeigt Alts Biografie auch eine andere bekannte "Falle" biografischer Arbeiten, nämlich sich sprachlich dem biografierten Autor zu sehr anverwandeln zu wollen. "Kafkas Geburtshaus ist ein imaginärer Ort, dessen ursprüngliche Topographie von einer zum Vergessen treibenden Gegenwart verdeckt wird" - das ist wohl eine Formulierung, die dem Verfasser bei einem anderen Autor, dessen Geburtshaus sich nicht erhalten hat, so kaum passiert wäre.

Die zwanzig Kapitel folgen chronologisch dem Lebensweg des Autors. Die Abschnitte werden präludiert und ergänzt von umfangreichen Darstellungen der allgemeinen sozialen, historischen und ideengeschichtlichen Hintergründe und der literarischen Entwicklungen und Tendenzen. Diesem informativen Geflecht werden die Lebensumstände ebenso eingefügt wie ausführliche Analysen von Kafkas literarischen Arbeiten.

Vor allem bei den großen Prosatexten müssen diese Interpretationsansätze trotz des enormen Buchumfangs notwendigerweise einer gewissen Beschränkung unterliegen.

Zielpublikum?

Ein wenig stellt sich daher die Frage nach dem Zielpublikum. Was für den interessierten Kafka-Leser auf diese Art leicht zu ausufernd gerät, bringt für die Kafka-Experten vielleicht zu wenig Neues. Denn Alt stützt sich auch bei seinen Interpretationen - zu Recht - auf die geleisteten Vorarbeiten renommierter Kafka-Forscher; die wenigen "Korrekturen", die er an älteren Interpretationsweisen anbringt, verlegt er sehr dezent in knapp gehaltene Fußnoten, die sich mitunter nicht erschließen oder nicht überzeugen.

Wiederholte Formulierungen wie "Ein verbreitetes Vorurteil besagt" - zum Beispiel, dass Kafka nicht gereist sei -, deuten darauf hin, dass Alt nicht primär an ein Fachpublikum gedacht hat, denn in der Kafka-Forschung ist Kafkas Reisetätigkeit natürlich schon gut dokumentiert, und Alts Kapitelüberschrift "Auf Spurensuche" insofern zumindest irreführend. Doch das alles ändert nichts daran, dass eine biografische Arbeit von diesen Dimensionen immer etwas Respekteinflößendes hat.

Franz Kafka - Der ewige Sohn

Eine Biographie von Peter-André Alt

München, Beck 2005

763 Seiten, m. Abb., geb., e 35,90

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung