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Doppeltes Phänomen

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Seit rund 60 Jahren erlebt die literarische Welt ein seltsames Phänomen: ein paar deutschsprachigen Dichtern aus Prag gelingt es, sich einen Ruhm zu schaffen, der seinesder seither berühmt gewordenen Insel-Bändchen. In der Zeit zwischen den beiden Kriegen stieg sein Ruhm ins Gigantische. Besonders die Jugend, und hier nicht nur die deutschsprachige, sondern z. B. auch die französische, war von Rilke fasziniert. Werfel war der zweite der großen Prager Dichter, der weltbekannt wurde. Sein „Lied der Bernadette“, erklomm phantastische Auflagenzahlen in allen Sprachen. Max Brod war der dritte Dichter. 1927 begann der Stern des vierten aufzusteigen. In diesem Jahr veröffentlichte Johannes Urzidil sein erstes Werk. Das Leben dieses Dichters erlosch knapp vor Weihnachten 1970 und mit ihm starb vielleicht der letzte der großen Prager deutschsprachigen Meister der Feder. Mit Johannes Urzidil endete aber auch der große sam zu werden. Nach dem Ende dieses Völkermordens stieg dann sein Ruhm immer höher. Das ist psychologisch verständlich. Denn die Atmosphäre, die dem Leser aus den Büchern Kafkas gegenübertrat, mußte jeden persönlich in den Bann schlagen. Fast jeder von uns hat einmal das Gefühl, in einem riesigen Gebäude, einem „Schloß“ zu leben, aus dem kein Weg hinausführt. Fast jeder von uns hat einmal das Gefühl, daß gegen ihn ein unsichtbarer Prozeß läuft, er eigentlich sich nur bedingt in der Freiheit bewegt und jederzeit aus unbekannten Gründen hinter Schloß und Riegel verschwinden kann. Hat der Prager Rilke die Menschen vor, im und nach dem ersten Weltkrieg fasziniert, so Kafka die Menschen, die den zweiten Weltkrieg und die Zeit nachher erlebten.

Längst hat die Welt aber auch erkannt, daß Kafka ohne seine Heimat Prag nicht denkbar ist. Ebensowenig wie Rilke, wie Werfel, wie Urzidil. In allen diesen Dichtern lebte diese seltsame Stadt, die selbst wieder ein Phänomen in dieser Welt darstellt.

Ein Phänomen insofern, als sie niemanden aus ihren Krallen läßt und jeder, der aus ihr kommt, ihr verfallen bleibt. Jeder Prager versucht einmal im Leben, dieser Stadt zu entfliehen. Vielen gelang es, ohne daß diese Flucht sie auch von Prag befreite. Kafka gelang die Flucht nur ein einziges, kurzes Mal, dann kehrte er wieder in ihre Mauern zurück. Als der Tod schon nach ihm griff, flüchtete er wieder, und diesmal schien ihm die Flucht gelungen zu sein, denn er starb in einem Sanatorium bei Wien. Aber während Rilke, Werfel, Brod, Urzidil fern ihrer Heimatstadt begraben liegen, ließ Prag Kafka nicht aus ihren Fängen. Sein Leichnam wurde nach Prag überführt und ruht seither innerhalb ihrer Mauern. Kafka mußte zurück, weil er vielleicht der Pragerischeste von diesen Dichtern ist. Ihr größter Herold. Denn wer Prag kennt, weiß, daß er eigentlich nur aufgezeichnet hat, was ihm täglich widerfuhr, was er täglich sah, was er alltäglich erlebte. Kafka ist ohne Prag undenkbar.

Ein neues Buch „Kafka und Prag“ entstand aus dem Gedanken, den Platz Kafkas innerhalb dieser seiner Prager Umwelt von Kennern dieser Prager Welt bestimmen zu lassen. Der Textautor, Johann Bauer, deutet Kafkas Leben und Werk aus dieser Sicht der heutigen Prager Kafka-Forschung, wobei neuentdeckte Dokumente die Grundlage für die Interpretation des zeitgeschichtlichen Hintergrundes bilden. Vor allem sind es aber die einmaligen Bilder, die in reichem Maß dem Werk beigegeben sind, denen der Beweis „offensichtlich“ gelingt, wie sehr Prag und Kafka zusammenhängen, und die dieses Werk besonders sehenswert machen.

KAFKA UND PRAG. Text von Johann Bauer (190 Seiten), Bilder (106) von Isidor Pollak. Belser-V'erlag, Stuttgart.

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