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Literatur in Prag

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H. G. Adler (einst Prag, jetzt London), ein temperamentvoller, weißhaariger Herr, erging sich kürzlich in der österreichischen Gesellschaft für Literatur in Erinnerungen an „Franz Kafka und die deutschsprachige Literatur in Prag“. Es hätte gar nicht seiner vielen Entschuldigungen bedurft, daß er in seinem Rückblick nur Fragmentarisches bieten könne über diese son derbare Kleinstadt von rund 30.000 Menschen in Prag, wo es von Literaturtalenten (zur größeren Hälfte Juden, zur kleineren Christen), nur so gewimmelt hat wife in Wien oder Berlin. Ein Versuch, das Phänomen dieser lose verbundenen, zwei Generationen umfassenden Gruppen und die außergewöhnliche Blüte ihrer Literatur zu deuten, wurde erst gar nicht unternommen. Es hätte sich ohnehin nicht viel mehr darüber sagen lassen, als daß die dreifache „Ghetto-Mauer“ der meisten von ihnen — als Deutsche unter Tschechen, als Juden unter Deutschen, als Bürgerssöhne ohne Verbindung mit der einfachen Bevölkerung — den Drang hervorrufen mußte, die Isolierung gleichsam fliegend zu überwinden, das heißt, kosmopolitisch zu denken.

Viele Namen von den 140 zwischen 1880 und 1930 wurden genannt, man kennt sie fast alle; auf die zwei berühmtesten ging der Vortragende ein wenig näher ein. Aber zu Kafka, dem Vielbesprochenen, Unausdeut- baren, läßt sich in ein Dutzend Sätzen kaum etwas hinzufügen. Man wird sich damit bescheiden müssen, daß sich seine Gleichnisse ins Unendliche verlieren und es fraglich bleibt, ob das Ganze überhaupt erfaßbar und darstellbar ist. Rilkes Anfänge, der wie Werfel von Prag nur seinen Ausgang genommen hat, wurden kurz gestreift. Vielleicht hätte mit mehr Nachdruck auf die „Zwei Prager Geschichten“ des jungen Rilke verwiesen werden sollen, die bedeutsamer sind als seine frühe Lyrik. Darin wird nämlich breit und tief die Problematik des tschechischen Charakters, des tschechischen Nationalismus und seiner Konflikte entfaltet, seiner inneren Konflikte und jener dm Verhältnis zu den Deutschen.

Auch der vehementen Kritiken (Mautner, Demetz, Wagenbach u. a.) an dem „eigentümlichen Verhängnis des Prager Deutsch“ wurde gedacht,

dieser „armen, dünnen, müden“ Sprache (Demetz), die in ihrer niedrigsten Form auch „Kuchelbehmisch“ geschimpft wird. Was hat mit diesen Mißverständnissen Kafkas harte, dichte, nahtlose, spannende, an Kleist gemahnende Sprache zu tim? Johannes Urzidil (auch einer, der das Prager Deutsch meisterhaft beherrschte) sprach durchaus überzeugend von dem „einzigartigen Segen für die Literatur“, daß sich das Prager Deutsch auf der Sprachinsel ohne die „verschleifenden und dia- lektisierenen Einwirkungen des Provinzialen und Landschaftlichen“ erhalten konnte. „Zwischen Dichtung und Lebenssprache bestand für die Deutschprager niemals eine Kluft… wahrscheinlich das stärkste Form- und Wirkungsgeheiimnis der Prager und besonders Kafkas.“

Adler rezitierte Viele Bruchstücke aus Gedichten und Prosa auf Kosten eingehenderer und wesentlicherer Charakteristiken von Autor und Werk. Seine Superlative mögen aus einem gewissen Prager Lokalpatriotismus noch verständlich sein. Nicht unwidersprochen kann jedoch die Steigerung von Jaroslav Hašek zum größten tschechischen Dichter des Jahrhunderts bleiben. (Sein „Schweijk“ stammt übrigens nur zu einem Drittel von ihm selbst.) Aber alle Einwände wurden von dem Vergnügen überdeckt, einem der letzten Zeugen der Prager deutschsprachigen Literatur leibhaftig begegnet zu sein.

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