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Kulturleben in Prag

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Die Bemühungen führender tschechischer Kreise, Prag zu einem kulturellen Zentrum von europäischer Bedeutung umzugestalten, wo westliche und östliche Kulturformen wie in einem Brennpunkt ihre Synthese fänden, lassen weitgespannte Pläne erkennen, wenn es sich auch ein Jahr nach dem revolutionären Umbruch und inmitten einer Welt, in der vorläufig so ziemlich alles in Frage gestellt ist, gewiß nur um erste Versuche handeln kann. Immerhin lassen sich Ansätze zu einem kulturellen Neuwerden im tschechoslowakischen Staate erkennen.

In den ersten Monaten nach der Befreiung hatte man sich zunächst einmal bemüht, den 1939 gewaltsam unterbrochenen Anschluß an die Weltdramatik wiederherzustellen, und ihn vorerst ausschließlich im Osten gefunden. Die Prager Theater

spielten nur sowjetrussische Stucpe: in dem einen Simonow, in einem zweiten Kornej-tschuk, im dritten Serafimowitsch, im vierten Katajew, im fünften Afinogenow, oder gleich auf einmal drei Stücke' des Klassikers Ostrowskij. Schließlich rief diese erdrückende Einseitigkeit eine gewisse Unruhe in den Theatergemeinden hervor, die nach sechs Jahren völliger Absperrung leidenschaftlich darauf aus waren, zu erfahren, was in aller Welt inzwischen , an Dramatik geschaffen wurde. Also wandte man sich dem neuen und klassischen Drama der Engländer, Franzosen, Amerikaner und Griechen zu. Auf dem Höhepunkt der heurigen Theatersaison angelangt, wurden in tschechischen Zeftungen und Zeitschriften Erwägungen über das Erreichte angestellt und die künst-

lerische Bilanz gezogen. Sie fiel reichlich ungünstig aus. Daß die slawische Dramatik auf den tschechischen Bühnen überwog, war nur natürlich. Aber von den Klassikern war Puschkin kaum und Tolstoj überhaupt nicht zu Worte gekommen; eine polnische Literatur schien es gar nicht zu geben, dabei hätte ein Werk von so weltumspannender Größe wie Krasinskis „Ungöttliche Komödie“ gerade dem Menschen unserer aufgewühlten Zeit vieles zu sagen; und die Jugoslawen waren mit Cankar und Nusic nur spärlich vertreten.

Das tschechische Drama hat in der Rangordnung der tschechischen Literatur niemals den ersten Platz eingenommen, der ohne Zweifel der tschechischen Lyrik gebührt. Es gibt wenige dramatische Schöpfungen der Tschechen, die künstlerisch unumstritten sind. Der Romantismus oder Realismus der älteren Dramatiker spricht den Mensdien von heute kaum mehr an, was, mit einigen Einschränkungen, auch auf den humanitären Liberalismus eines Frantisek Langer oder Karel Capek zutrifft. Die Wiederaufführung von Capeks „Räubern“ und „Mutter“ (seines ersten und seines letzten Dramas) enttäuschte und hinterließ ein Gefühl der Leere und der Unzufriedenheit. Zur Gänze unergiebig sind auch die neuesten Versuche jüngerer Dramatiker (Scheinpflugovä, Toman und andere), die seelische und geistige Not ihres Volkes während der sechsjährigen Fremdherrschaft dramatisch zu formen.

Die Krise der tschechischen Bühne

Also bliebe von der Auseinandersetzung mit der dramatischen Weltliteratur des Westens auf den Prager Bühnen zu berichten — Shakespeare: „Romeo und Julia“, Moliere: „Der eingebildete Kranke“, Beaumarchais: „Die Hochzeit des Figaro“, Shaw: „Pygmalion“, Rostand: „Cyrano“, Anouilh: „Antigone“ und andere. Das zuletzt genannte Stück war das einzige, das. ähnlich wie in Paris, auch in Prag einen heftigen Meinungsaustausch auslöste, der zwischen den beiden Polen hin und herwogte: „Geht hin und hört den Dichter Anouilh; es werden noch viele Generationen nach euch desgleichen tun.“ — „Das übertrifft noch Celine, und das will was saen. Es ist bewußte Perversität, in vollendeter Weise ausgedrückt.“ Es gab nur ganz wenige Aufführungen, die als künstlerisches Erlebnis oder als geistig Neuentdeckung anzusprechen wären. Bei den Klassikern ist es ja durchaus nicht gleichgültig, was ausgewählt wird. Gerade da wünschte man sich eine besonder- feinfühlige Dramaturgie, die klassische Dramen, wekhe sonst übersehen wurden, in neuer Auffassung zu Zeigen vermörhte.

Befriedigte die Prager Dramaturgie in der Wahl der Stücke nur wenig, so ist die eigentliche Ursache der Krise, in der sich das tschechische Theater befin-d e t, anderwärts zu suchen. Abgesehen von technischen, organisatorischen und politischen Schwierigkeiten, die es in Prag und in der

\ Provinz nicht gerade wenig gibt — die meisten Theater sind Kollektive, zudem kommt die Säuberung von

“ wirklichen und angeblichen Kollaborateuren —, mangelt es dem tschechischen Theater an einem für neue Aufgaben brauchbaren Stil der Darstellung und der Spielgestaltung.

Ein neuer Stil

Die Entwicklung des modernen tschechischen Theaters ist eng mit dem Namen E. F. B u r i a n verknüpft, einer eigenwilligen Künstlerpersönlichkeit von scharfem Intellekt und lebhaftem Temperament, in der sich die Avantgarde des tschechischen Theaters geradezu verkörpert. Burians Inszenierungsmethode fand ungezählte Nachahmer. Sie verwendet Elemente der Commedia del'arte, verbindet jedoch deren unbarmherzigen Rationalismus mit einem slawisch-weichen Lyrismus. Diese Synthese ist Burian vollkommen geglückt. Er wendet seinen Stil souverän oft bis zur Manier an und scheute auch nicht davor zurück, Werke der Weltdramatik, wie etwa Hamlet, nach Seiner Art gründlich „umzustilisieren“. Die Gefahr war eine Typisierung, eine Entmenschlichung der Bühne, der auch Burian selbst, von seinen Nachahmern zu schweigen, nicht immer entgangen ist. Seine Inszenierung der „Dreigroschenoper“ im Jänner, vor zehn Jahren noch eine künstlerische Tat, erwies, daß Regie • und Stück unwiederbringlich der Vergangenheit angehören. Ks war eine mechanisierte Zirkusiade, eine Panoptikumschau, lärmend aber ohne Echo, eine Anklage ohne Moral. Dabei hatte man sich Mühe gegeben und aktuelle Songs

eingeschoben — es nützte nichts. Die Zeit war über 'Stück und Stil hinweggegangen.

Ist es verwunderlich, daß heute, wo alles Leben durch die Entpersönlichung des technischen Fortschrittes bedroht ist, da die Angst vor den entfesselten Energien, der Mechanisierung alles und jeglichen umgeht — daß sich die Kunst vor allem dem Menschen zuwendet, ihn auf der Bühne fordert? Daß sie auch im Theater die Sehnsucht nach Menschlichkeit und Glauben, nadi Gewißheit von der Größe und der Unsterblichkeit menschlicher Existenz erfüllen muß? Hierüber hilft kein noch so geistreicher Mechanismus der Bühnenvorgänge und Inszenierungen, kein noch so vollendetes Zusammenspiel der Darsteller, keine Verschwendung technischer Mittel hinweg. Regisseur und Schauspieler werden neue Formen ihres künstlerischen Ausdrucks finden müssen.

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