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OST UND WEST IM GESPRACH

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Ist das realistische Theater noch zeitgemäß? Kann das heutige Drama Weltanschauung ausdrücken und trotzdem das Niveau eines Kunstwerkes haben? Hat das Theater des Absurden eine Zukunft? Ist abzusehen, wie sich das Theater weiterentwickeln wird? Kommt der Regie heute größere Bedeutung zu als früher? Kann das heutige Theater noch festlich sein? Wird das Theater durch das Fernsehen in seiner Wirkung beeinträchtigt? Beeinflußt das Fernsehen den Stil des Theaters? Diese sieben Fragen waren für Referate und Gespräche vorgeschlagen, die drei Vormittage lang von führenden Dramatikern, Kritikern, Regisseuren und Direktoren diskutiert wurden. Die österreichische Gesellschaft für Literatur hatte im Palais Palffy unter der Leitung von Dr. Wolfgang Kraus zu einem Podiumgespräch über das Theater als den „umfassenden Ausdruck der neuen Wirklichkeiten“ eingeladen. Den 13 Teilnehmern aus dem Westen gesellten sich zehn aus dem Osten, eine immerhin repräsentative Versammlung, wenn auch die beiden eingeladenen Theaterleute aus der Sowjetunion, die zugesagt hatten, ohne Bekanntgabe der Gründe weggeblieben waren und Vertreter der eminenten italienischen Bühnenkunst vermißt wurden.

Die Überraschung der Begegnung war, daß sie in einer Atmosphäre von Konzilianz und gegenseitigem Verstehen stattfand, so sehr, daß einer von den beiden jungen Kritikern aus München, die in ihrer intellektuellen Impulsivität wie Hechte im Karpfenteich wirkten, mahnte, man solle doch nicht nur nach Synthesen jagen, sondern Gegensätzlichkeiten bestehen lassen für eine fruchtbare Diskussion. Es war schon so (worauf dann ein Sprecher in der Schlußveranstaltung hingewiesen hat), daß sich nämlich die Teilnehmer aus dem Osten als ebenso gut informiert, ebenso modern und liberal erwiesen wie die aus dem Westen, einfach deshalb, weil es sich hier wie dort um eine künstlerische Elite handelte. Man leugnete nicht Gegensätzlichkeiten, Unterschiede, aber die waren von komplizierterer und umfassenderer Natur, als daß man sie in einem neunstündigen Kolloquium hätte aus der Welt schaffen können. Indem man sie bestehen ließ, konnte sich ein Gespräch zwischen Individualitäten entwickeln, die den Gegensatz Ost—West aus jener globalen Perspektive betrachteten, wie sie Professor Jan Kott (Warschau), Verfasser des berühmten Werkes „Shakespeare heute“, launig umrissen hat: Von Spanien aus gesehen stammen wir hier alle aus dem Osten, von Peking aus gesehen alle aus dem Westen.

Von den mehr als ein Dutzend Referaten, von denen hier nur einige im Extrakt wiedergegeben werden können, waren die ersten drei der Synthese alter und neuer Theaterformen gewidmet. Erwin Axer, Direktor und Regisseur des „Zeitgenössischen Theaters“ in Warschau, trat für das traditionelle Ensemble- und Repertoiretheater mit ständigen Regisseuren ein.

Siegfried Melchinger, ehemals Dramaturg am Theater in der Josefstadt, Kritiker, Theaterwissenschaftler und Verfasser ausgezeichneter Bücher über das Phänomen Theater, wies auf die dem Wesen des Theaters eingeborene Problematik hin, indem es sich als eine Welt des Scheins in der Welt des Seins produziert. „Es kann niemals das Sein selbst zeigen, sondern dieses nur vortäuschen, und es kann niemals nur Schein sein, denn es ist darauf angewiesen, verstanden zu werden.“ Sowohl der realistischen wie der nichtrealistischen Darstellungsweise sind damit Grenzen gesetzt. Die Zuschauer müssen verstehen, was ihnen vorgeführt wird, und selbst das Absurde muß so dargestellt werden, daß es als möglich erscheint. Das Publikum sehe nach der Meinung Melchingers ebenso gern realistische wie sogenannte absurde Stücke oder eine Mischform aus beiden. Er wandte sich entschieden gegen die „unpersönlichen“ Menschen im Drama, gegen die „Nichts-als-Jedermänner“, die „Normaltypen“, die „Kautschukgenossen“, die „Gesichtslosen mit dem Allerweltsgesicht“, die einen nur langweilen. Er sei für das Ungewöhnliche, den Helden, fern aller Idealisierung und Romantisierung.

Liviu Ciulei (Bukarest) sieht das Theater von heute (so wie die anderen Künste) auf dem Weg zu den Anfängen, zu den Quellen zurück, allerdings nicht zu dem ursprünglichen Primitiven, sondern auf einer höheren Entwicklungsstufe. Ein neuer Realismus sei im Entstehen, „eine Kunst nach dem Maß des Menschen als Individuum“.

Ciulei führte als Beispiel für diesen neuen Realismus die griechische Schauspielerin Aspasia Papatanasiu Mavromati an, die ihre ergreifende Beschwörung in „Elektra“ nicht in Form einer manirierten Deklamation (gemäß den Konventionen des europäischen Theaters des 19. Jahrhunderts) vollbringt, sondern der Totenklage, dem Wehklagen des Volkes, wie es sie bei den Griechen und Rumänen auch heute noch gibt, anpaßt. „In dieser Beschwörung aber finden wir alles über Elektra und ihre Welt; sie zeigt, daß sie von königlichem Geblüt ist, aber auch, daß sie von Königen eines Hirtenvolkes abstammt.“ Das habe nichts mehr mit dem kleinlichen soziologischen Realismus, dem ungewissen, subjektiven Realismus der Gefühle zu tun, wie ihn die Genrekunst im Theater lang genug gezeigt hatte; es sei ein „weiterreichender Realismus, der die wahre Tragödie nicht abschwächt, ein Realismus von ritualhafter Feierlichkeit und Monumentalität“.

Einen anderen Ton und damit Zündstoff für die später einsetzende lebhafte Diskussion brachte Martin Esslin vom BBC London (geboren in Budapest, aufgewachsen in Wien), Verfasser eines Buches über Bert Brecht und einer aufsehenerregenden Untersuchung über „Das Theater des Absurden“. Esslin vertrat die These, daß alle Kunst und somit auch alles Theater politisch sei. „Je wesentlicher die künstlerische Aussage, desto weitgehender die menschlichen und damit zwangsläufig die politischen und sozialen Folgen.“ Dagegen bleibe jede auf kurze Sicht wirken wollende Kunst politisch am wirkungslosesten. „Die politische Wirkung der Kunst ist proportional ihrer Qualität als künstlerische Aussage.“ — „Der bedeutendste politisch motivierte Dramatiker der Gegenwart, Bert Brecht, ist als Propagandist für die Sache, die er verfocht, ohne Erfolg geblieben. Deshalb haben antipolitische Dramatiker wie Ionesco und Beckett frappante politische Wirkungen erzielt.“

Im Zeitalter der Massenmedien, insbesondere des Fernsehens, sieht Esslin die steigende Bedeutung des Theaters im Experimentieren, in der Schaffung neuer Formen, im Finden neuer Themen. „Ohne ein lebendiges Theater würden die dramatischen Darbietungen der Massenmedien verdorren.“

Gegen die allzu weite Fassung des Begriffs „Politisch“ wandte sich der Münchner Kritiker Joachim Kaiser, der überhaupt im Laufe der Tagung immer gerade dann, wenn es am nötigsten war, entscheidend und klärend in die Diskussion eingriff. Kunst sei dann politisch wirksam, wenn sie den Menschen ändern könne. Aber ein so erfolgreiches Stück wie „Das Gartenfest“ des jungen Tschechen Vaclav Havel (das im nächsten Jahr auch in Wien zu sehen sein wird) muß in Prag eine ganz andere Wirkung gehabt haben als in Berlin. Havels Bühnenwerk, das die zum Menschen gewordene Phrase zum Vorwurf hat, sei das Gegenteil von einem politisch gesteuerten Stück. In Prag wußte das Publikum, was gemeint war, in Berlin nicht.

Auch der Prager Regisseur Otomar Krejca erklärte, daß sich die politische Wirkung eines Stückes für jedes Land anders stelle. Gewiß muß Kunst, die in das Leben eingreift, eine politische Wirkung zeitigen. Aber diese Wirkung sei nicht das Eigentliche am Kunstwerk, sondern nur eine Begleiterscheinung. Bei den Tschechen habe das Theater niemals nur eine rein ästhetische Funktion gehabt, sondern immer auch eine nationale, soziale und politische. Daß man aber Havels „Gartenfest“ in Berlin und anderen Städten spielen konnte, beweise doch, daß diesem Stück mehr als nur eine politische Funktion zukomme, wie eben jedes Kunstwerk eine komplexere Wirkung habe.

Der ungarische Dramatiker Julius Hay, dessen Werke auch in Wien gut bekannt sind, brachte mit seinem offenherzigen Kurzvortrag das dann am meisten diskutierte Stichwort ins Gespräch. „Ob das realistische Theater noch zeitgemäß sei, bleibt darum immer wieder im wesentlichen unbeantwortet, weil der Begriff Realismus theoretisch nicht geklärt ist. Leider fühle ich mich nicht fähig“, fuhr Hay in sympathischer Bescheidenheit fort, „den Begriff des Realismus wissenschaftlich neu zu definieren. Wenn ich sehr aufrichtig sein soll, muß ich gestehen, daß ich zwar nicht sagen kann, was Realismus ist, daß ich aber persönlich ein schlechtes Gewissen hätte, nicht dazuzugehören.“ Eines scheine ihm jedoch sicher: Niemals könne die Weltanschauung ein^s Autors ein Hindernis für das künstlerische Niveau bilden, „denn die großen und größten Meisterwerke der Weltliteratur strahlen Weltanschauung und sogar leidenschaftlich durchtränkte Weltanschauung aus“. Man dürfe nur nicht Weltanschauung mit politischen oder weltanschaulichen Dogmen verwechseln. „Dogmatismus läßt sich mit Kunst nicht vereinbaren. Dogmen sind tödlich für die Dichtung.“

Jean Duvignaud, Dramatiker, Kritiker der Nouvelle Revue Francaise, derzeit Professor der Soziologie in Tunis, weitete den Horizont. Er warnte vor dem Vorurteil, es gebe etwas wie eine für alle Völker der Erde gültige „Einheit des Theaters“. Es stehe noch nicht einmals fest, ob die unabhängig gewordenen jungen Völker der „Industriezivilisation als dem einzig möglichen menschlichen Ideal“ zustrebten. Fast scheint es auch, daß in Afrika und in Südamerika eine neue „dramatische Kunst ihre Selbstbestätigung in der Entfernung von Europa“ suche. Duvignaud brachte interessante Beispiele, wie man sich in Nordafrika, wo man den Begriff des Absurden gar nicht kenne und begreife, Stücke des europäischen Repertoires „einverleibe“. So wurden in Rabat aus den beiden Landstreichern in Becketts „Warten auf Godot“ zwei Fellachen, die auf eine Art Bodenreform warteten. „Caligula“ von Camus (dem eigentlichen Schöpfer der Philosophie des Absurden) erhielt in Tunis eine in das „sprudelnde Nordafrika verwurzelte Bedeutung und Intensität“, die das Stück völlig der „Metaphysik des Absurden“ entriß. Und selbst in Molieres „Schule der Frauen“ bekundete Agnes eine so aufwallende Leidenschaft, wie sie nur in einem Land, in dem die Frauen ihre Autonomie erst erobern müssen, verständlich ist.

Turner wurde zwischen den Referaten den vielen Einwürfen 1 stattgegeben. Joachim Kaiser stellte fest, daß niemand das absurde Theater so, wie es ist, weiter bestehen lassen will, obgleich die Erfahrungen, die es uns mitgeteilt hat, nicht mehr zu missen seien. Sie gehören einfach zur Wirklichkeit. Auch das realistische Tendenzdrama werde weitgehend abgelehnt. Immerhin beweise das moderne Drama seine Lebensfähigkeit, daß es verschieden interpretiert und aufgeführt werden kann. Den „Helden“ wieder auf die Bühne zu bringen, sei begreiflich (weil Theater nun einmal von Menschen gespielt wird), aber unmöglich. Man könne die Herrschaft des Apparates, die Bewegung des 20. Jahrhunderts, nicht mehr rückgängig machen. Nicht mehr der individuelle Held entscheidet alles, sondern der Apparat, der hinter ihm steht. Kaum zu bestreiten sei, daß ein Dogma Kunst möglich mache. Ob es freilich die Tragödie großen Stils zulasse, müsse dahingestellt bleiben. Friedrich Heer (in Vertretung Burgtheaterdirektor Häussermanns) klärte ein wenig auf, indem er Dogmatisten als unschöpferisch, Dogmatiker dagegen als schöpferisch bezeichnete, wobei er auf Claudel und Brecht verwies, die beide aus der Fülle eines Dogmas schufen.

Den kühnsten Vorstoß in die Zukunft des Theaters, der geradezu einer Selbstaufgabe des Theaters von heute gleichkam, unternahm Jean-Marie Serreau, legendärer Regisseur der Pariser Uraufführung des auch in der Diskussion vielgenannten Stückes „Warten auf Godot“ von Beckett. „Der Einbruch des Bildes (in allen seinen Formen) ins Theater“, erklärte Serreau, „führt zu einer neuen Ausdrucksweise der Massenkultur. Wir sind die ersten Menschen, die ein photographisch-filmisches und phonographisches Gedächtnis haben. Photographie, Radio und Fernsehen lassen neue Mythen entstehen.“ Aus den Massen unserer technokratischen Zivilisation bilde sich ein Publikum, das den vielschichtigen Komplex aus Bild, Text und Wort wie eine „Universalsprache“ wahrnehme und daher grundlegende Forderungen an das moderne Theater stelle, denen die herkömmliche Bühne ihrer Natur und Idee nach nicht mehr genüge. Das neue Theater werde außerhalb der Theatersäle vorgeführt werden und vielleicht den großen öffentlichen Fernsehsendungen ähneln, die wie moderne Zeremonien anmuten. „Dieses Theater wird nur bestehen können, wenn es die utopische Synthese von wissenschaftlicher und poetischer Erkenntnis versuchen wird.“

Kritisch gegen Serreau wandte sich der flämische Bühnendichter Paul Willems, der für ein nichfengagiertes, keiner wie immer gearteten Idee unterworfenes Theater als „eine Übertragung des Traumes in die Wirklichkeit“ plädierte. Unter anderen wandte sich auch Franz Theodor Csokor gegen die „Verflachung des visuellen Theaters“, in dem Wort und Geist gegen das Bild zurücktreten, während Fritz Hochwälder gegen Serreau einwandte, daß sich das Theater in seinem Wesen nicht ändern könne. Wogegen allerdings entschiedener Einspruch (Kaiser) erhoben wurde: Es gebe kein unwandelbares ästhetisches Naturrecht des Theaters. Weder die Dramaturgie noch der Mensch seien sich gleich geblieben.

Was in diesen für Referate und Diskussionen vorgesehenen insgesamt neun Stunden an Wissen, Einsichten und Erfahrungen ausgebreitet wurde, stellt immerhin ein beachtliches Panorama dar. Gewiß wurden die meisten Probleme nur angedeutet, kam vieles zu kurz oder blieb unerwähnt (etwa die eigentliche Regiearbeit und vor allem das Phänomen des Schauspielers). Aber es ist doch so, daß die Ungewißheit über die Zukunft des Theaters und des Drames überhaupt groß ist, und vielleicht Dinge geschehen, deren wir uns noch gar nicht bewußt sind (Eric Bentley). Es wäre töricht, von einer solchen Tagung mehr zu erwarten, als sie erbracht hat. Doppelt töricht, die „Friedseligkeit“ zu bedauern, in der sich die Teilnehmer um den runden Tisch herum versammelt hatten, statt sich in den Haaren zu liegen. „Vive le Dialogue!“ endete Jan Kott (Warschau) seine Ansprache in der Schlußkundgebung. Es lebe das offene Gespräch zwischen den Menschen!

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